Bildung und mentale Gesundheit
Hochbegabung - große Potenziale, unzählige Facetten und noch mehr Klischees
"Warum hat dein Kind nicht nur Bestnoten, wenn es so g'scheit ist?" Zack, da ist es schon: Eines der gängigsten Vorurteile über Hochbegabung. Denn Hochbegabung ist nicht gleich Hochintelligenz, ist nicht automatisch Überflieger. Daher verschweigen Betroffene die Diagnose häufig oder umschreiben sie. Warum das so ist, welche Chancen wir als Gesellschaft und für die Wirtschaft vergeben und was sich in Zukunft ändern muss, erklärt uns Silvera Schmider. Sie ist, ebenso wie ihre drei Kinder hochbegabt und qualifizierte Begabungspädagogin. Dank ihrer fundierten Kenntnisse zum Themenbereich Hochbegabung darf sie Intelligenztestungen durchführen, auszuwerten und begleitet Hochbegabte in ihrer Praxis.
myheimat: Wie beschreibt man Hochbegabung und mit welchen Klischees willst du aufräumen?
Silvera Schmider: Definiert wird eine Hochbegabung mit einem IQ über 130. Rund 2 % aller Menschen verfügen über so einen hohen Intelligenzquotienten. Kognitive Stärke ist aber nur ein Merkmal von Hochbegabung.
Einige Modelle zu Hochbegabung wie z.B. das Münchner Hochbegabungsmodell (HELLER u.a.: Hochbegabung im Kindes- und Jugendalter; Göttingen 2001, 2. Aufl., S. 24, Illustriert von Ulbricht, sbndb 2004) beschreiben mehrere Begabungsfaktoren wie Intellektuelle Fähigkeiten und Kreative Fähigkeiten, Soziale Kompetenz und Praktische Intelligenz, Künstlerische Fähigkeiten, Musikalität und Psychomotorik.
Von diesen Faktoren können wir in einem IQ Test lediglich die Intellektuellen Fähigkeiten abbilden.
Damit sich diese Faktoren auch zu einer Hochleistung entwickeln können, braucht es Förderung und Unterstützung. Ein hochbegabter Mensch wird nicht automatisch zum Hochleister. Wenn Begabung keine Förderung oder Wertschätzung erhält, keinen Raum um sich zu entfalten, dann kann sich das Potenzial nicht zeigen. Im schlimmsten Fall sind psychische Erkrankungen wie Depressionen und ähnliches die Folge.
Stichwort Neurodiversität
Das Gehirn eines hochbegabten Menschen funktioniert anders. Das kann man bereits in den ersten Lebenstagen eines Babys mittels eines EEG sichtbar machen. Man spricht auch gerne von einem hyperaktiven Gehirn. Es hat eine deutlich stärkere Vernetzung und bezieht bei allen Aktionen immer auch den Bereich für Emotionalität mit ein. Das führt zu Veränderungen in der Wahrnehmung. So haben hochbegabte Menschen sensorisch sehr feine Antennen und reagieren häufig sehr emotional.
Ihr Gerechtigkeitssinn ist verstärkt ausgeprägt und sie verfügen über eine starke Fähigkeit zur Empathie.
Hochbegabten fällt nicht automatisch alles leichter. Durch ihr divergentes Denken kommt es häufig zu Missverständnissen mit anderen Menschen. In der Schule kann es schon mal einem Lotteriespiel gleichkommen wenn man immer zehn verschiedene Lösungsmöglichkeiten im Kopf hat, aber nur eine davon als richtig bewertet wird. Häufig sind genau deshalb hochbegabte Kinder mündlich besser als schriftlich. Manchmal kommt auch die Motorik, in diesem Beispiel Schreiben oder Sprechen, mit dem Gedankentempo einfach nicht mit. So kann es sein, dass vielleicht viele geniale Ideen in einen Aufsatz einfließen, diese aber nicht ausformuliert wurden, verbindende Worte fehlen oder die Rechtschreibung sehr kreativ wird.
Vorurteile wie Arroganz, Besserwisserei, dass denen sowieso alles leicht fällt usw. verhindern Förderung. Hochbegabte erleben häufig Ausgrenzung und Abwertung. Andere fühlen sich von ihnen „bedroht“ und meiden sie. Dabei sind hochbegabte Kinder sehr wahrhaftig. Sie halten sich gerne an Regeln und lieben Gerechtigkeit. So gibt es häufig die Fehleinschätzung bei Kindergartenkindern sie seien emotional noch nicht reif für die Schule, weil sie sich nicht gegen andere wehren . Dabei hauen sie nicht zurück weil sie eben schon verstanden haben, dass man andere nicht schlägt.
Ganz normale Menschen - nur einen Tick anders
Silvera Schmider: Hochbegabung kommt in allen Bevölkerungsschichten vor. Es ist keine reiche elitäre Gruppe mit Macht. Es sind ganz normale Menschen in allen Berufen. Da sie oft Ausgrenzung erleben, ziehen sie sich eher zurück oder nehmen Leitungspositionen ein. Hochbegabte Menschen möchten sinnhafte Dinge tun und da sie schnell Lösungen finden, nehmen sie auch eher Positionen ein in denen sie auch selbständig handeln können.
myheimat: Welche Anzeichen für Hochbegabung sind typisch in den verschiedenen Altersstufen?
Tatsächlich gibt es bereits Merkmale im Kleinkindalter: Dazu gehören eine beschleunigte Entwicklung, Entwicklungssprünge, eine enorm starke Bindung an die Bindungsperson Nr. 1, sensorische Auffälligkeiten wie Geräuschempfindlichkeit. Auch selektives Essverhalten, frühes grammatikalisch richtiges Sprechen, ein großer Wortschatz, frühes Interesse and Lesen, Schreiben und Rechnen, sowie die frühe Reduktion des Mittagsschlafes können Anzeigen sein.
17+3=21 - ist doch logisch, oder?
Im Grundschulalter sind Hausaufgaben häufig Kampf. Hochbegabte Kinder üben nicht gerne, weil sie sehr schnell neue Lerninhalte verstehen und verinnerlichen. Sie haben wenig gleichaltrige Freunde und suchen Kontakt zu Älteren. Sie überraschen mit Spezialinteressen und werden in ihrer Nische richtige Experten. Typischerweise werden leichte Aufgaben als schwerer wahrgenommen, als schwierige Aufgabenstellungen. Dazu eine Anekdote: Ein Schüler es einfach nicht fassen können, dass er in der Probe die Aufgabe 17+3 rechnen muss. Das kann doch nicht so einfach sein! Er war so verunsichert, dass er dann 21 als Lösung geschrieben hat. Er rechnete einfach damit, dass da noch ein Dreh dabei sein muss, den er nur noch nicht verstanden hat. Natürlich wusste er das 17+3 20 ist. Es war aber schlicht unvorstellbar für ihn, dass eine so einfache Aufgabe in einer Probe gestellt wurde. Schulkinder klagen häufig über Geräuschempfindlichkeit und psychosomatische Symptome wie Kopf- und Bauchschmerzen in der Schule durch Unterforderung. Sie versuchen intuitiv ihr "Hochleistungsgehirn" durch erhöhten Bewegungsdrang und großen Wissensdurst zu befriedigen. Daher werden sie sofort ungeduldig, wenn es nicht schnell genug vorwärts geht.
Denkpausen? Gibt es nicht!
Auch im Erwachsenenalter zieht sich der innere Drang nach "mehr" durch: häufiger Arbeitsplatzwechsel, Ungeduld, eine schnelle Auffassungsgabe, sensorische Besonderheiten bei der Ernährung, Kleidung, Geräuschen usw., ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, zeichnen eine hochbegabte Person aus. Sie hinterfragen alles, verfügen über Expertenwissen in vielen Bereichen und leiden gleichzeitig häufig unter einer geringen Selbsteinschätzung. Sie erfassen komplexe Zusammenhänge und verfügen über eine gute Beobachtungsgabe. Daher streben Hochbegabte oft mehrere Berufsausbildungen an und haben großes Interesse an tiefen Gesprächen. Dabei entstehen leider häufig Missverständnisse mit anderen Menschen. Sie fallen durch starkes Autonomiebestreben, kritisches Denken und schnelles Durchschauen von Systemen auf. Da das Denken nie aufhört, ihr Gehirn ihnen keine Pause gönnt, sind sie schnell gelangweilt von Routineaufgaben.
myheimat: Wie läuft eine Intelligenzdiagnostik ab und was hat man davon?
Silvera Schmider: Eltern füllen für ihre Kinder erst Entwicklungsfragebögen aus. Wenn ich dort viele Hinweise auf Hochbegabung erkennte, führe ich ein ausführliches Anamnesegespräch durch. Erst wenn sich dann die Auffälligkeiten auf Hochbegabung verdichten, wird der IQ-Test gemacht.
Für Kinder von 6-15 Jahren nutze ich ein adaptives Testverfahren. Das ist besonders für die Hochbegabtendiagnostik sehr hilfreich, weil es den Schwierigkeitsgrad an die Leistungsfähigkeit des Kindes anpasst und nicht am Alter des Kindes hängen bleibt. So kann es sein dass ein sechsjähriges Kind Aufgaben für 12-jährige löst. Die Kinder können sich dadurch auch nicht langweilen und bleiben aufmerksam und konzentriert.
Etwa zwei Stunden dauert so ein IQ-Test. Wenn im Ergebnis ein Wert von über 130 erreicht wird, können die Kinder damit Mitglied bei Mensa (ein internationaler Verein für hochbegabte Menschen) werden. Außerdem ist das Testergebnis häufig ein Türöffner für Förderung im Schulalltag. Die intellektuelle Leistungsfähigkeit ist somit nachgewiesen.
Wenn ein Kind beispielsweise schlechte Noten in Mathe hat, trotz im Test nachgewiesener hoher mathematischen Kompetenzen, dann kann man klar zeigen, dass es nicht an der Fähigkeit des Kindes liegt und man nach anderen Ursachen für schlechte Noten suchen muss. Man spricht dann von „Underachievement“. Damit kann man dann gezielter eine Förderung einleiten.
Mini-Professoren brauchen Bildungsgerechtigkeit
Für die Eltern ist es sehr hilfreich eine „Zahl“ zu haben. Denn hochbegabte Kinder können im Alltag wie zerstreute Professoren wirken. Sie dozieren über ihr Spezialthema wie Nobelpreisträger, gehen aber dann mit dem Schlafanzugoberteil in die Schule oder vergessen ständig irgendwelche Hefte, Stifte usw. Der Kopf ist ja permanent mit Wichtigerem beschäftigt.
Beim IQ-Test selber sollte man aber nicht stehen bleiben. Eine Hochbegabung braucht Förderung. Ein hochbegabtes Kind hat ein Recht auf Bildung in seinem Niveau genau so wie auch ein geistig behindertes Kind ein Recht auf Bildung auf seinem Niveau hat. Da sprechen wir von Bildungsgerechtigkeit – diese ist aber leider im Schulalltag für hochbegabte Kinder nicht gegeben. Binnendifferenzierung im Unterricht findet überwiegend nur nach unten und äußerst selten nach oben statt.
myheimat: Hast du praktische Tipps, wie man selbst bzw. Eltern mit einer Hochbegabung im Alltag umgehen können?
Silvera Schmider: Vernetzung ist das A und O. Werden Sie Mitglied in einer Elterngruppe. Fördern Sie ihr Kind nicht anhand des Alters, sondern anhand des Interesses und des tatsächlichen Entwicklungsstandes. Diese Kinder entwickeln sich nämlich schneller und sind gleichaltrigen Kinder zwei bis drei Jahre voraus.
Die Kinder sollten aufgeklärt werden über die Besonderheiten von Hochbegabung. Ganz nach dem Motto "Jedes Kind hat ein Recht auf seine Diagnose". Denn die Kinder spüren, dass sie anders sind. Sie verstehen häufig nicht, warum sie sich so schwer tun mit gleichaltrigen Kindern. Sie brauchen Kontakt zu ihrer Peer-Group. Schon allein, um ein gutes Sozialverhalten zu entwickeln. Das ist nämlich schwierig, wenn die gleichaltrigen Kinder einen nicht verstehen und so reagieren, als würde man Chinesisch mit ihnen reden.
Über Verstand und Verstehen
Man stelle sich eine Zweijährige vor in der Kita, die bereits in ganzen Sätzen spricht und bis zehn zählt. Die anderen Zweijährigen schaffen gerade ihre ersten Zwei-Wort-Sätze. Während also die eine so etwas sagt wie „Gib mir bitte meinen Ball zurück", reagiert die andere mit „Ball weg“. Das ist dann schwierig.
Um den Kindern zu erklären wie sie ticken und im Alltag mit anderen besser zurecht kommen, habe ich extra Kurse gestartet, die sehr gut angenommen werden. In kleinen Gruppen treffen die Kids ihre Peers, lernen Emotionsregulation und die Besonderheiten in ihrer Wahrnehmung und ihres Denkens. Damit verstehen sie die anderen in ihrem Alltag besser und sind auch offener für Förderangebote. Sie verstehen sich selber besser und werten ihr Anderssein weniger ab.
myheimat: Was würdest du dir von Schule, Wirtschaft und Politik wünschen?
Silvera Schmider: Wertschätzung, Akzeptanz und Förderung. Weil es normal ist verschieden zu sein, wünsche ich mir endlich Bildungsgerechtigkeit für hochbegabte Kinder. Denn die werden im schulischen Kontext permanent gezwungen sich zu langweilen und zu warten. Dadurch verlieren sie sehr schnell die Motivation und sehen im Schulbesuch keinen Sinn. Zu Hause lernen sie schneller und intensiver dank z.B. Anton-App und Internet.
Wissen über Hochbegabung muss in alle Ausbildungscurriculen. Es darf nicht sein, dass eine Lehrerin sagt sie habe in ihren 20 Jahren als Lehrkraft noch kein hochbegabtes Kind gehabt – da waren viele, die einfach nicht wahrgenommen und somit auch nicht gefördert wurden.
Umdenken für Andersdenker
Die Wirtschaft muss verstehen dass intelligente Menschen in der Regel nicht die Einserschüler sind. Für hochbegabte Kinder muss alles sinnhaft sein, damit sie etwas tun. Sie hinterfragen alles - auch in der Schule. Das führt dann nicht unbedingt zu den besten Noten. In meiner Praxis habe ich Kinder aus allen Schularten. Leider auch Kinder, bei denen die Hochbegabung erst in der Förderschule festgestellt wurde. Fehldiagnosen und -behandlungen sind an der Tagesordnung. Gebt den Kids eine Chance. Dann zeigen sie auch was sie drauf haben.
Die Politik muss Hochbegabung endlich ins Sozialgesetzbuch aufnehmen. Die Eltern bleiben nämlich mit den Kosten für IQ-Testungen, Beratung, Förderung usw. alleingelassen. Denn die gängigen Beratungsangebote helfen häufig nicht bei den Herausforderungen dieser Familien. Das liegt auch am fehlenden Wissen der Beratenden über Hochbegabung. Auch in therapeutischen Angeboten wird eine Hochbegabung nicht berücksichtigt. Der IQ wird auf eine Zahl reduziert und die Besonderheiten in der Wahrnehmung, Emotionalität und Denkweise werden ignoriert, da man in keiner Ausbildung bzw. Studiengang ausreichend darüber informiert wird.
Förderung von intelligenten Menschen hängt also vom Geldbeutel und der Leistungsfähigkeit der Eltern ab. Die Kosten dafür können nirgends geltend gemacht werden. Aber ohne Förderung kommt es bei den Kindern eben häufig zu instabilen Persönlichkeitsentwicklungen. Um dieser Ungerechtigkeit etwas entgegen zu setzen versuche ich wohnortnah ehrenamtlich Angebote für die Kids zu machen wie z.B. Spieletreffs, Ausflüge oder auch Workshops. Dieses Jahr hatten wir schon einen Workshop über Planetenfotografie.
Außerdem muss das Recht auf Bildungsgerechtigkeit für hochbegabte Kinder im schulischen Kontext umgesetzt werden.
myheimat: Welche Pläne hast du für die Zukunft?
Silvera Schmider: Es gibt einzelne Lehrkräfte die sich engagieren und in ihren Klassen Binnendifferenzierung auch für hochbegabte Kinder anbieten. Es wäre doch schön, wenn das flächendeckend angeboten wird und nicht abhängig ist von einzelnen Lehrkräften. Man könnte diese Lehrkräfte auszeichnen um sie wert zu schätzen. Die Schulen brauchen personell und monetär eine bessere Ausstattung. Schulmodelle wie die Allemannenschule in Wutöschingen oder die Universitätsschule in Dresden sollten keine Ausnahme sondern die Regel sein. Das käme allen Kindern zu Gute. Denn wovon hochbegabte Kinder profitieren, ist für alle Kinder gut: Binnendifferenzierung, Einzelförderung, Förderung passend zur Entwicklung des Kindes und nicht des Alters.
Bürgerreporter:in:PR Redaktion |
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