Polen
Von Breslau bis Danzig – Polen, die Heimat vieler unserer Vorfahren

Eine Reise durch Polen ist für viele auch eine Reise in die Vergangenheit, in die Heimat ihrer Vorfahren.
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  • Eine Reise durch Polen ist für viele auch eine Reise in die Vergangenheit, in die Heimat ihrer Vorfahren.
  • hochgeladen von Kurt Wolter

Nicht wenige Menschen in Deutschland haben ein Eltern- oder Großelternteil, das aus den ehemaligen Ostgebieten stammt. Dort haben diese in West- und Ostpreußen oder weiter im Süden in Schlesien gelebt. Einst waren sie in die östlichen Gebiete eingewandert. Zunächst war es zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert die Glaubensgemeinschaft der Kreuzritter des Deutschen Ordens, die sich im heutigen Polen des Ostsee nahen Raumes ausbreitete. Später, ab dem 17. Jahrhundert, riefen polnische Gutsherren Menschen ins Land, die für sie unfruchtbare, sandige oder sumpfige Gebiete urbar machen sollten. Unter ihnen Salzburger und Bayern, weiter im Norden Mennoniten aus Holland, die in ihrem eigenen Land unterdrückt wurden und deshalb emigrierten. Sie kannten sich in der Urbarmachung von Sümpfen und im Deichbau besonders gut aus. Und natürlich viele Deutsche, die aus verschiedensten Gebieten kamen. Darunter auch Ostfriesen von der Nordseeküste.

Bei der Errichtung von Siedlungen hatten es die Kolonisten zunächst nicht leicht. Der Spruch „Des Ersten Tod, des Zweiten Not, des Dritten Brot“ verdeutlicht die damalige Zeit. So sollen im Norden an der Weichsel 80 Prozent der ersten Siedler gestorben sein. Aber irgendwann hatten sie es geschafft und lebten, oft in kargen Verhältnissen, neben den Polen in ihren Dörfern mit diesen friedlich nebeneinander, manchmal auch zusammen. Bis zum Zweiten Weltkrieg, denn dann wurde alles anders. Zwischen 14 und 18 Millionen Deutsche wurden als Kriegsverursacher und vermeintlich Schuldige durch die Polen aus dem Land getrieben. Diese verloren alles, Hab und Gut, und auf der Flucht im Winter haben dabei geschätzt 600.000 Menschen den Tod gefunden. Doch noch viel schlimmer traf es die Polen. Etwa fünf bis sechs Millionen sind durch Nazi-Deutschlands Großmachtstreben und Morden ums Leben gekommen, davon über drei Millionen Juden. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Vertreibung nur verständlich.

Im westlichen Teil Deutschlands mussten die Vertriebenen nun ein neues Leben beginnen, und dabei waren sie als Flüchtlinge nicht gern gesehen. Und wieder hatten sie es, wie die früheren Siedler im Osten, zunächst nicht leicht, litt doch das ganze Land unter den Folgen des Krieges.

Doch das alles ist nun lange her. Bald acht Jahrzehnte liegt dieses dunkelste Kapitel deutscher Geschichte zurück. Aber die Auswirkungen merken wir noch heute. Und das zum Beispiel dann, wenn man an Ahnenforschung interessiert ist. Wo kommen die eigenen Vorfahren aus dem Osten her, wo haben sie gelebt, von wo aus sind sie nach Polen eingewandert? Einiges weiß man aus den Erzählungen der Eltern oder Großeltern oder aus alten Urkunden. Aber dann wird es schon schwierig. Zwar werden auch aus polnischen Gemeinden immer mehr alte Kirchenbucheinträge ins Netz gestellt. Doch nur mit intensiven und oft nicht einfachen Recherchen kommt man weiter. Und normalerweise scheitert man daran, herauszufinden, woher die Urahnen vor langer Zeit gekommen sind, die einst als Kolonisten in die noch nicht besiedelten polnischen Gebiete einwanderten.
Immerhin kamen wir in einzelnen Linien unseres westpreußischen Stammbaums bis um das Jahr 1600 zurück, und das vor allem durch Familienforschungsunternehmen wie z. B. FamilySearch oder Ancestry. Jeder, der an seinen Vorfahren Interesse hat, kann darin Mitglied werden und Nachforschungen anstellen. Man kann zu anderen Menschen Kontakte knüpfen, die einem in diesen Foren behilflich sein können. Interessant gestalten sich auch Anfragen aus Amerika, wenn sich herausstellt, dass man gemeinsame Vorfahren hat. Und gerade die Amerikaner sind es auch, die besonders an ihren Wurzeln interessiert sind und deswegen intensive Nachforschungen anstellen. Auch ein Gentest kann helfen, noch lebende, entfernte Verwandte aufzuspüren. Die meisten haben bereits einen eigenen Stammbaum veröffentlicht. Durch Verknüpfung der einzelnen Familienzweige entsteht mit der Zeit eine immer umfangreichere Ahnengalerie, in der es nicht selten Neues zu entdecken gibt.

Und natürlich ist es besonders interessant, die einstigen Gebiete der Vorfahren kennenzulernen. In welchen Dörfern haben sie gelebt? Gibt es vielleicht sogar den Hof, das Wohnhaus, die Kirche, den Friedhof oder die Schule noch? Und mancher einstige Flüchtling hat, was durch die Wende einfacher geworden war, die alte Heimat sogar selbst noch einmal besucht. Enttäuschungen waren dabei allerdings vorprogrammiert, da es die alten Höfe oder Dörfer von damals oft nicht mehr gab. Sie wurden abgerissen, ein neues Dorf wurde angelegt. Aber vielleicht, und das sind oft Schule und Kirche oder Kapelle, findet man doch noch Spuren der Vergangenheit. Sie lassen dann alte Erinnerungen wieder aufleben, und als Betroffener oder Nachfahre freut man sich schon darüber, überhaupt etwas aus dieser einstigen Welt zu finden. Einfach mal auf den Wegen wandeln, die die Vorfahren gegangen sind. Auch wenn heute vielleicht alles anders aussieht. Vielleicht an der Weichsel, am Kurischen Haff oder am Riesengebirge. Vielleicht auch mal eine Stadt besuchen, die in der Nähe lag und in die damals von ihren Dörfern auch die Urahnen gekommen sind, oder sogar darin gelebt haben. Zum Beispiel in Breslau, in Thorn oder in Danzig. Das alles ist für Nachkommen von großem Interesse.

Dass Polen ein sehens- und besuchenswertes Land ist, das viel zu bieten hat, muss ich gar nicht erst erwähnen. Vor dem oben beschriebenen Hintergrund aber ist es doppelt interessant. Wer durch unser Nachbarland reist ist in der jetzigen Zeit unterwegs, aber auch in der Vergangenheit. Nicht selten auf den Spuren seiner Ahnen. Und einige Städte Polens, die besonders schön sind und eine lange Geschichte haben, möchte ich in diesem Beitrag mit einigen Bildern vorstellen.

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Für Interessierte als Anhang noch Auszüge aus der Geschichte der Flucht eines Cousins meiner Frau, Siegmund Tober, der als 12jähriger mit Mutter und seinem kleinen Bruder Horst aus Beberen an der Weichsel, 25 Kilometer südlich von Thorn, geflüchtet ist. Beginnen möchte ich aber im Vorfeld des Krieges, als Siegmund sechs Jahre alt war. (Nach dessen Angaben nacherzählt von Kurt Wolter.)

Bis zum Weihnachtsfest 1938 konnte der sechsjährige Siegmund die Kinderjahre unbeschwert genießen, und auch noch den Großteil der nachfolgenden Kriegsjahre, wurde es doch in Rybitwy erst zum Ende des Krieges dramatisch. Trotzdem beschäftigten den kleinen Siegmund auch die Kriegsängste der Erwachsenen. Hinzu kam, dass sein Onkel, Otto Sonnenberg, nicht bei der deutschen, sondern der polnischen Armee dienen musste. Er hörte damals auch von dem sogenannten Bromberger-Blutsonntag (der Ort lag nur 80 km entfernt), bei dem 5000 Deutsche umgebracht worden sein sollten. Die Goebelspropaganda benutze diesen Vorfall, um 1939 den Einmarsch in Polen und die grausame Kriegsführung der deutschen Wehrmacht zu legitimieren.

Während die Deutschen in Polen Hitlers Blitzkrieg und „Die Heimholung ins Reich“ bejubelten, begann für das polnische Volk eine Zeit grausamster Unterdrückung. Über sechs Millionen Polen sollten in den nächsten Jahren ihr Leben verlieren. Ein Pole war ein minderwertiger Mensch, ein Polacke, so wurde es der deutschen Bevölkerung von der Propaganda eingetrichtert. Deutsche übernahmen die Höfe und Häuser der Polen, die wiederum nach Deutschland, die polnischen Männer ihren Familien entrissen, zur Zwangsarbeit umgesiedelt wurden. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, warum die Polen einen Hass auf die Deutschen hatten und es zur Vertreibung kam.

Eines Morgens (1941), als die Familie den Volksempfänger anschaltete, war nicht wie üblich von vernichteten Bruttoregistertonnen die Rede, sondern davon, dass die deutschen Truppen die russische Grenze überschritten hatten. Drei Wochen später war die Wehrmacht 600 Kilometer tief in Russland eingedrungen, und am 22. Juli wurde erstmals Moskau bombardiert. „Bei uns“, so Siegmund, „sprachen jetzt alle vom schnellen Sieg, und auf jeden Fall wäre alles bis zum Wintereinbruch vorbei. Mein Opa Eduard Sonnenberg, der im 1. Weltkrieg russischer Soldat gewesen war, war vorsichtiger und erinnerte an die riesigen Weiten Russlands. Als junge Pimpfe standen wir täglich vor der Lagekarte in der Schule, wo der Frontverlauf und der siegreiche Vormarsch der Wehrmacht mit kleinen Fähnchen und Stecknadeln mit bunten Köpfen dargestellt wurde.

Im Dezember 1944 wurden bei Familie Tober Soldaten der Wehrmacht einquartiert. Alle hatten große Angst vor den Russen. Die Nachrichten von der Front waren widersprüchlich. Oft wurde schon vom Durchbruch russischer Panzerspitzen berichtet. Am 17. Januar eroberten diese Warschau, das nur 150 Kilometer von Beberen entfernt lag. Einen Tag später war der Kriegslärm schon zu hören. Gerüchte über Panzer im Raum Leslau, 20 Kilometer entfernt, machten sich breit. „Ich wollte sofort flüchten“, so Siegmund. Doch seine Mutter meinte: „Wo wollen wir ohne Pferd und Wagen hin, mit dem Kinderwagen, bei der Kälte und dem Schnee?“ In der Gemeindeverwaltung erfuhr man schließlich, dass man abgeholt werden solle.

Am Morgen des 19. Januar traute Familie Tober kaum ihren Augen. Von Freunden und Bekannten war kaum noch jemand zu finden. Auch der Bürgermeister hatte das Weite gesucht und seine Gemeinde ihrem Schicksal überlassen. Siegmund berichtet: „In panischer Angst rannte ich Richtung des Bauerndorfes Bogpomo, in der Hoffnung einen Bauern zu finden, der uns mitnimmt. Doch die Bewohner des Dorfes waren auch schon geflüchtet. In dieser aussichtslosen Lage kam mir die Idee, nach Pferden zu suchen. Vor Freude habe ich beim ersten alten Gaul geweint und dachte, dass ich vielleicht noch ein Pferd und einen Wagen finde. Meine Mutter erwartete mich auf der Straße und wischte sich die Tränen aus den Augen, als ich tatsächlich mit einem Pferdegespann kam und vom Wagen sprang. In großer Eile beluden wir ihn.

Als Kutscher und Organisator führte nun der zwölfjährige Siegmund das Kommando. Bei klirrender Kälte fuhren sie an der mit Eis bedeckten Weichsel entlang Richtung Thorn. Hinter Rybitwy wären sie im Wald in einer Senke fast umgekippt. Bei Einbruch der Dunkelheit erreichten sie das Gehöft der Familie Schmidt in Piaski (nach der deutschen Besetzung Wullwinkel). Anna Schmidt war eine Schwester von Opa Eduard Sonnenberg. Siegmund erzählt: „Meine Freude war besonders groß, als ich Oma und Opa Sonnenberg, sowie Tante Alma und Tante Wanda im Dämmerlicht der Petroleumlampe erblickte. Onkel Schmidt meinte, dass wir mit den kranken Pferden nicht weit kommen würden. Doch nun gab es bis zum nächsten Morgen auf dem Fußboden zumindest ein Strohlager.“

Bei Anbruch der Morgendämmerung wurde der Hof der Schmidts mit drei Pferdefuhrwerken verlassen. Als ihnen nach einem Kilometer diverse andere Pferdefuhrwerke entgegenkamen, sagte Eduard Sonnenberg zu Siegmund: „Fahrt mit euren kranken Pferden schon mal voraus, damit wir euch nicht verlieren. Wir werden euch schon wieder einholen.“ Das Siegmund, Horst und Mutter Berta die Großeltern und Eltern zum Teil nie wiedersehen würden, das konnten sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen. An dieser Stelle wurde also ein Familie für immer auseinandergerissen, wie es ähnlich so vielen anderen auch ergehen sollte. Mutter Berta war zwar nach einer Weile der Meinung, dass sie auf die Anderen warten sollten. Doch das Grollen der Front ließ Siegmund in seiner panischen Angst die Pferde antreiben. Nach Jahren, und Siegmund nach Jahrzehnten, sollten einige der Familie dann doch wieder zusammenfinden. Jedoch nicht Eduard Sonnenberg und Tochter Wanda. Sie wurden nach Russland verschleppt.

Nach langsamem Vorankommen musste erneut auf einem Bauerngehöft übernachtet werden. Deutsche Soldaten, die dazustießen, berichteten, dass Leslau bereits von russischen Panzerspitzen erreicht worden sei. Vor Kälte und Angst vor den Russen konnte Siegmund die ganze Nacht nicht schlafen. Erst jetzt wurde ihm klar, wie gefährlich ihre Lage war. Sie fuhren praktisch mit den russischen Panzern um die Wette.

Am nächsten Tag wurde der Stadtrand von Thorn erreicht, wo es nur noch im Schritttempo weiterging. Doch an diesem 21. Januar sollten sie zu ihrer Enttäuschung die Weichselbrücke nicht überqueren können. Sie war nur für das Militär freigegeben. Alles Betteln half nichts. Sie mussten es im 50 Kilometer entfernten Bromberg versuchen. Unterwegs machten jedoch die kranken Pferde schlapp, und die Kälte wurde unerträglich. Bei der nächsten Übernachtung konnte Siegmund vor Angst wieder nicht schlafen, und so setzte er es durch, dass sie noch in der Nacht wieder aufbrachen. In Fordon bei Bromberg konnten sie dann die Weichsel überqueren und fühlten sich damit etwas sicherer. Doch wie sollte es nun weitergehen? Die einzige Möglichkeit war die Eisenbahn. Am von Menschen überfüllten Bahnhof gab es Gerüchte, dass die Russen schon vor Bromberg standen und keine Züge mehr kamen. Eisenbahner versuchten die Menschenmassen zu beruhigen. Doch für die vor Kälte zitternden Menschen und die weinenden Kinder gab es nur wenig Hoffnung. Plötzlich kam Bewegung in die Massen. Ein langer Zug mit Güterwagen wurde bereitgestellt. Die Anweisung lautete: „Frauen und Kinder zuerst.“ Familie Tober hatte Glück. Als der Zug hielt, hatten sie direkt vor sich eine Waggontür. So gelangten sie alle, die sie mit dem Pferdewagen aus Beberen gekommen waren, in ihn hinein. Im Waggon stand sogar ein runder, eiserner Ofen und es gab Briketts zum Heizen. Große Aufregung gab es noch einmal, als die Lokomotive abgekoppelt wurde und keiner sagen konnte, ob es wirklich losgehen würde. Siegmund war vor lauter Müdigkeit auf einer Pritsche eingeschlafen. Doch irgendwann wachte er auf, als sich der Zug mit unbekanntem Ziel in Bewegung setzte. In Erinnerung hat Siegmund noch, das der Zug oft ohne Lok längere Zeit auf der Strecke stand. Doch nach einer Woche Irrfahrt durch Pommern erreichten sie schließlich Swidwin, das ca. 50 Kilometer südlich von Kolberg an der Ostsee lag.

Es kam zu einem länger Aufenthalt auf einem Bauernhof im Dorf Rützenhagen. Dort gab es sogar wieder warme Milch für den kleinen Horst, und auch für die anderen gab es zum ersten Mal seit einer Woche wieder eine warme Mahlzeit. Siegmund berichtet weiter, dass er aus der Ferne die Bombenangriffe von Stettin und Swinemünde beobachtete. Der Flächenbrand war am Horizont deutlich sichtbar und war für ihn beängstigend.

Ende Februar begann auch das Unheil in Pommern. Auf einer Breite von 40 Kilometern wälzten sich die russischen Panzer heran. „Als die Lage bedrohlich wurde“, so Siegmund, „überzeugte ich meine Mutter, dass wir fliehen mussten.“ Erneut ging es mit dem Zug weiter. Trotz Tieffliegern erreichte dieser nach drei Tagen Stettin. Dort war alles mit Militär und Flüchtlingen überfüllt. Aufgrund von Kriegsschäden und Militärtransporten verkehrten die Züge nur noch unregelmäßig. Doch mit Glück gelangte Familie Tober schließlich nach Berlin. Dort bekamen sie selber ihre ersten Bombenangriffe mit. Als der Bunker schwankte, in den sie sich geflüchtet hatten, hatte Siegmund große Angst, dass er zu ihrem Grab werden könnte. Danach hastete die Familie durch die in Trümmern liegende Reichshauptstadt. Doch sie konnten mit einem weiteren Zug fahren und gelangten so nach Neuendorf zu einem Onkel. Dort konnten sie zunächst unterkommen. Siegmunds Onkel Otto (nicht Otto Sonnenberg) meinte, dass sie nun nicht mehr weiterflüchten müssten, da der Krieg bald zu Ende sei. Durch die gerade noch rechtzeitige Flucht war Familie Tober damit vorerst in Sicherheit. Anderen erging es nicht so. Viele Flüchtlingstrecks steckten zwischen den Fronten fest. Die Menschen wurden von Tieffliegern angegriffen, starben an Entkräftung und erfroren.

Die nächtlichen Bombenangriffe auf Berlin mit den vielen Christbäumen am Himmel, den Flakscheinwerfern und den explodierenden Granaten stellte für die Familie nun keine Gefahr mehr da. Die spielten sich in 10 Kilometer Entfernung ab. Einmal bekam Siegmund jedoch Angst, als er mit seinem Onkel im Wald war und Bomberverbände direkt über ihnen Rauchbomben zur Markierung abwarfen. Es war die Angst vor detonierenden Bomben selber, die dem Jungen so zusetzte.

Im März erließ Hitler den Befehl „Verbrannte Erde“. Alle Industrie- und Versorgungsanlagen sollten in Deutschland gesprengt werden, damit sie dem Feind nicht in die Hände fielen, ganz gleich, welche Auswirkungen dies auf das eigene Volk haben würde.
Nach unzähligen Bombenangriffen auf Berlin ging es nach der ruhigen Nacht des 16. April so richtig los. Aus 22 000 Rohren wurde geschossen. Die letzte Schlacht des 2. Weltkriegs um die Reichshauptstadt hatte begonnen.

Diese dramatischen Tage des Kriegsendes haben sich tief in Siegmunds Bewusstsein eingeprägt. Ende April waren dann die Russen da, eine weitere Flucht war nicht möglich. Während der Himmel über Berlin blutrot eingefärbt war, kam aus dem Radio die letzte Sondermeldung des 2. Weltkrieges: „Aus dem Führerhauptquartier wird gemeldet, dass unser Führer Adolf Hitler heute Nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen ist. Am 30. April hat Hitler Großadmiral Dönitz (ein Nachkomme meiner vierfachen Urgroßeltern Johann und Maria Schulze aus Apollensdorf) zu seinem Nachfolger ernannt.“ Am 2. Mai folgte von Dönitz ein Aufruf der lautete: „Meine erste Aufgabe ist es, deutsche Menschen vor der Vernichtung durch den bolschewistischen Feind zu retten.“ Am 8. Mai unterzeichneten Generalfeldmarschall Keitel und andere Bevollmächtigte Deutschlands die bedingungslose Kapitulation.

Für viele Flüchtlinge begann aber noch ein jahrelanger Kampf um die Heimat, sie versuchten zurückzukehren. Doch fast alle mussten sich irgendwo in den entstandenen Besatzungszonen eine neue Existenz aufbauen. So erging es auch den Tobers. Sie verließen Neuendorf mit dem Ziel Westpreußen. Zu essen gab es kaum etwas. Mit Betteln mussten sie sich durchschlagen. Auf einem Bahnhof stand eine Gruppe von Menschen, die gut zu essen hatten. Als sie den abgemagerten, kleinen Horst sahen, drückten sie der kleinen Familie ein halbes Weißbrot in die Hand. Als Siegmund erzählte, dass sie in die Heimat nach Polen wollten, sagte ein Mann zu ihnen: „Junge, Heimat gibt es nicht mehr, bleibt in Deutschland.“ Ein anderer Mann sprach von der Rache der Polen an den Deutschen.

Wieder ging es nach Berlin zurück. Dort waren die Umstände inzwischen noch schlimmer als zuvor. Außer einer Blechschüssel Brennnessel- oder Kartoffelsuppe gab es am Tage nichts Essbares. Der Hunger schmerzte, und Bruder Horst wurde noch magerer. Schließlich kamen sie in den Baracken eines ehemaligen Lagers für Zwangsarbeiter in Wittenau unter. Horst musste wegen seiner schlechten Verfassung ins Kinderkrankenhaus Reinickendorf eingeliefert werden. Mutter Berta konnte fasst nur noch liegen. Sie hatte Wasser in den Beinen. Siegmund machte sich jeden zweiten Tag auf den Weg zum Krankenhaus, obwohl ihm das Gehen auch immer schwerer fiel, seinen kleinen Bruder zu besuchen. Er schreibt: „Diesen Anblick meines Bruders, die tief eingefallenen Kinderaugen, der ganze Körper nur noch Haut und Knochen, habe ich nie vergessen.“ Wenig später starb Horst an Mangelernährung und Entkräftung. Vielen Kindern erging es nicht anders. Die meisten wurden in Massengräbern, in Tücher eingewickelt, beigesetzt. Der Leiter des Lagers konnte jedoch für Horst einen kleinen Holzsarg und ein Einzelgrab organisieren. Am Beerdigungstag konnten jedoch weder Mutter Berta noch Siegmund dabei sein. Als Siegmund versuchte, sich von seiner Pritsche zu erheben, brach er bewusstlos zusammen. Er hatte, wie so viele andere, Typhus und musste ebenfalls ins Krankenhaus eingeliefert werden. Sein Zustand muss sehr ernst gewesen sein, denn an seinen 13. Geburtstag und die darauffolgenden Wochen hat er keine Erinnerung mehr. Als er wieder zu sich kam, hatte er Lücken im Gedächtnis. Seine Kindheitserinnerungen waren teilweise verschwunden. Als er in einen Spiegel sah, bekam er einen Schock. Er sah ein unbekanntes Gesicht: Keine Haare mehr auf dem Kopf, die Augen tief eingefallen. In diesem Moment erinnerte er sich an die Krankenhausbesuche bei seinem Bruder und bekam einen Weinkrampf. Als Mutter Berta zu Besuch kam, erkannte sie ihren Jungen zunächst nicht. Doch schließlich fielen sie sich weinend in die Arme.

Siegmund erholte sich und kam durch. Im Herbst wurden Transporte nach Mecklenburg zusammengestellt. So landeten Mutter und Sohn in Parchim. Die meisten Flüchtlinge wurden auf die umliegenden Dörfer verteilt, nur Kranke und Geschwächte durften in der Stadt bleiben. Auch Siegmund und seine Mutter gehörten dazu, und so fanden sie zunächst eine neue Heimat. Doch weiterhin war der Hunger ihr ständiger Begleiter. Siegmund musste bei den Bauern auf den Dörfern des Umlandes betteln. Um an ein Stück Brot oder Pferdefleisch zu kommen, stellte er sich in Parchim oft schon mitten in der Nacht an.

Doch irgendwann entschärfte sich die Lage. Ein halbwegs normales Leben begann und Siegmund konnte wieder zur Schule gehen. Weiterhin musste er sich jedoch Sorgen um seine Großeltern und seinen Vater machen. Der war, wie sich bald herausstellte, in Bremerhafen gelandet und hatte eine andere Frau kennen gelernt. Er hatte, zu allem Leid, die Familie verlassen. Irgendwann ergab sich eine Verbindung zu Bertas Schwester Emma, die bei Bremen untergekommen war, und von ihr erfuhren sie, dass Großmutter Amalie in dem kleinen Dorf Niewald bei Detmold lebte. Diese freudige Nachricht wurde aber davon überschattet, dass Großvater Eduard Sonnenberg und Tochter Wanda verschollen waren und vielleicht den Tod gefunden hatten. Auch Tante Alma war verschollen. Sie befand sich in polnischer Gefangenschaft, was aber niemand wusste. (12 Jahre musst sie dort verbringen, in der Landwirtschaft arbeiten und Steine für Bahndämme schleppen. Sie sagte mir: "Dass, was wir Schlimmes erlebt haben, könnt ihr euch nicht vorstellen." Aber darüber wollte sie nie sprechen.)

Hier möchte ich mit seiner Geschichte, die natürlich noch weiter geht und in der ich die Kriegsjahre zuvor nur kurz erwähnt habe, weil sie sonst zu lang wäre, enden. Nur so viel: Als Mutter Berta Tober - die Grenzen waren zu diesem Zeitpunkt noch offen – 1954 zur Hochzeit ihres Bruders Gustav Sonnenberg aus der Ostzone nach Detmold kam, blieb sie einfach, da sich dort die noch Lebenden ihrer Familie niedergelassen hatten. So Mutter Amalie, Schwester Emma und die Brüder Adolf, Otto und Gustav. Siegmund, der zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt war, wurde in der DDR später Volkspolizist. Durch die Flucht seiner Mutter bekam er mit dem Staatssicherheitsdienst große Schwierigkeiten. Doch er machte sich die neue politische Anschauung zu eigen und wurde später sogar Offizier der Volksarmee. Dafür durfte er allerdings mit dem Westen keinerlei Kontakt aufnehmen. Erst nach der Wende war das wieder möglich. Es war 1990, als er zum ersten Mal nach Detmold kam. Nach 36 Jahren sollte er seine 84jährige Mutter wiedersehen, sechs Jahre bevor sie starb.

Bürgerreporter:in:

Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode

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