Don Kosaken Chor Serge Jaroff startet 1923 durch
Rauschender Beifall bei Konzert in der Wiener Hofburg

„Die singenden Donkosaken – Eine bevorstehende musikalische Sensation in Wien“, Ankündigung eines besonderen Konzerts. Neues Wiener Journal vom 1. Juli 1923 | Foto: ANNO - AustriaN Newspapers Online
2Bilder
  • „Die singenden Donkosaken – Eine bevorstehende musikalische Sensation in Wien“, Ankündigung eines besonderen Konzerts. Neues Wiener Journal vom 1. Juli 1923
  • Foto: ANNO - AustriaN Newspapers Online
  • hochgeladen von Matthias Blazek

Der Don Kosaken Chor Serge Jaroff befindet sich seit einigen Monaten auf Tournee durch Mitteleuropa. Er steht gegenwärtig unter der künstlerischen Leitung von Wanja Hlibka, einem Sänger aus der Urformation des 1985 nach langer Krankheit im US-Bundesstaat New Jersey verstorbenen Dirigenten Serge Jaroff. Vor hundert Jahren begann die außergewöhnliche Karriere des Chores, und zwar in Wien. Eine Momentaufnahme.
1923 hat der Original Don Kosaken Chor Serge Jaroff seinen ersten bedeutenden Auftritt in Wien gehabt. 55 Jahre bereiste er mehrmals die Welt.
Vor hundert Jahren, im Sommer 1923, begann in Sofia die Karriere des jungen Kosaken-Leutnants Serge Jaroff (1896 bis 1985) und seines unter ungewöhnlichen Bedingungen entstandenen Don-Kosaken-Chores. Die Geschichte des Chores ist die Geschichte der schweren Zeiten Russlands in den postrevolutionären Jahren.
Sergej Alekseevič Žarov, so sein richtiger Name, ist eine der bemerkenswerten Figuren der russischen Emigration. Geboren wurde er als ältester Sohn unter sechs Kindern einer Kaufmannsfamilie am 20. März 1896 in Makarjew, einer Kleinstadt im Nordosten Russlands.
Gebete waren ein obligatorisches Familienmerkmal. Die Mutter liebte es, sie zu singen, anstatt sie zu sprechen, und bat ihren Sohn, dasselbe zu tun. Sie starb früh. Vater Alexej zog die Kinder allein auf und heiratete dann erneut.
Nach einem mit Bravour absolvierten Studium an der Moskauer Synodal-Musikschule, jener weltberühmten Ausbildungsstätte Russlands für Kirchenmusik und Chordirigat, trat Serge Jaroff 1917 in die Alexander-Militärschule in Moskau ein und wurde dort am 1. August 1917 zum Fähnrich befördert.
In einer Spezialeinheit der Donkosaken kämpfte Jaroff während der russischen Oktoberrevolution vom 25./26. Oktober 1917 aktiv im Süden Russlands gegen die Rote Armee. Nach dem anschließenden Bürgerkrieg, der in Europa im November 1920 mit dem Sieg der Roten Armee über die letzten weißen Truppen auf der ukrainischen Halbinsel Krim endete, folgten für die im Bürgerkrieg geschlagenen Kosaken, darunter der junge Offizier Serge Jaroff, Internierungen im Flüchtlingslager Čilingir in der europäischen Türkei und auf der Nordägäis-Insel Limnos.
Jaroff, der im Dezember 1920 auf Befehl die Leitung eines zur musikalischen Ausgestaltung des Gottesdienstes für den heiligen Nikolaus am 19. Dezember neu gebildeten Chores übernommen hatte, schulte die Chorsänger, überwiegend Offiziere, auch nach dem Auftritt regelmäßig. Die äußeren Umstände für die Probenarbeit waren im Lager sehr problematisch.
Serge Jaroff schlug sich mit seinem Ensemble 1923 bis Bulgarien durch. Inzwischen war im Dezember 1922 in Moskau die Sowjetunion gegründet worden.
Freundlicher Empfang in Burgas
Im Hafen von Burgas wurde das Flüchtlingsschiff, auf dem sich auch Jaroffs Chor der 3. Division der Kosaken befand, freundlich und mit einer Militärkapelle empfangen. Nach der Ankunft folgten Quarantäne, Neuformierung der Abteilungen zum Arbeitseinsatz, Bau von Eisenbahnstrecken, Fabriken und Hüttenwerken. Um sich etwas zu verdienen, gaben die Männer in Burgas ihr erstes richtiges Konzert. Eigenhändig wurden riesige Plakate gemalt und in der Stadt ausgetragen. Mit dem Erlös von 2 Dollar und 8 Mark wurde der Auftritt in Burgas zu einem ersten kleinen Erfolg.
Zu dieser Zeit hielt sich die berühmte russische Balletttänzerin und Tanzpädagogin Tamara Karsawina (1885 bis 1978) in Sofia auf. Der Chor, den sie in der kleinen Kirche der russischen Gesandtschaft singen hörte, hinterließ bei ihr einen tiefen Eindruck. Karsawina hatte weitreichende Beziehungen, sodass der Chor wiederholt zu diplomatischen Empfängen eingeladen wurde, in die spanische, die amerikanische und die französische Botschaft.
Um den Lebensunterhalt zu bestreiten, nahmen die Chormitglieder alle möglichen Arbeiten an. Jaroff fand schon bald eine Anstellung als Gesangslehrer am Gymnasium von Sofia. Im Sommer wurde der Chor eingeladen, in der Alexander-Newski-Kathedrale von Sofia ein geistliches Konzert zu geben, das von vielen vertriebenen Russen besucht wurde. Der Chor zählte jetzt 32 Mitglieder.
Der Vertreter des Völkerbundes in Sofia war dem Chor sehr zugetan. Er wollte den Männern helfen, den Balkan zu verlassen und in Westeuropa Fuß zu fassen. Er war es, der sie mit einem Fabrikbesitzer aus dem französischen Industrieort Montargis in Verbindung brachte. Dort, in Langlée, hatte sich eine bedeutende Gummifabrik befunden, die schon ein Blasorchester hatte. Dort könnten die Sänger arbeiten und als Werkschor zusammenbleiben. Die Verhandlungen wurden in russischer Sprache geführt, die Gattin des Fabrikbesitzers war Russin.
Im Hutchinson-Reifen-Werk in Langlée wurden nach 1918 massiv neue Mitarbeiter eingestellt: Die Belegschaft wuchs zwischen 1914 und 1925 um 30 Prozent. In den 1920er Jahren wurden mehrheitlich Russen und Ukrainer eingestellt. Die Direktoren-Gattin Marguerite Lansoy war die Tochter eines Diplomaten. Als Hofdame der Frau des französischen Botschafters in Sankt Petersburg hatte sie in ihrer Jugend Beziehungen zur damaligen russischen edlen Gesellschaft aufgebaut. So bat ihn Nathalie de Miller, die Frau von General Pjotr Wrangel (1878 bis 1928), 1921, russische Flüchtlinge in Châlette aufzunehmen. Beide Frauen hatten eine Brieffreundschaft unterhalten. Von 1921 bis 1926 kamen Russen und Ukrainer in Massen an: Es waren mehr als 2.000, was mehr als 50 Prozent der in der Fabrik beschäftigten Ausländer ausmachte.
Unterstützung vom Völkerbund
Mit der Hilfe des Völkerbundes, der Kirche und einer Spende von Tamara Karsawina brachte man etwas Reisegeld zusammen. Nach einem Abschiedsgottesdienst brach der Chor, ausgestattet mit einem Auslandspass, den Karsawina beschafft hatte, am 23. Juni 1923 von Sofia auf. Doch schon in Belgrad reichte das Geld nicht mehr für die Weiterfahrt mit der Bahn, die Kosaken reisten mit dem Schiff weiter, unterhielten die Passagiere mit russischen Volksliedern. Die Chorkasse füllte sich wieder etwas.
Wien präsentierte sich mit gepflegten Straßen, großen und schönen Häusern sowie gut gekleideten Menschen mit zufriedenen und lebenslustigen Gesichtern. Es schien, als ob es nie Krieg gegeben hätte. Serge Jaroff erinnerte sich in einem Beitrag des „Neuen Wiener Abendblatts“ vom 27. Februar 1934:
„Seit dem Jahre 1914 waren die meisten von uns ununterbrochen an der Front gewesen und hatten keine große europäische Stadt gesehen. So war der Eindruck, den Wien auf uns machte, überwältigend. Wir gingen durch gut angelegte Straßen. Die großen, schönen Häuser, die so wenig den Löchern glichen, in denen wir in den letzten Jahren gehaust hatten, riefen unser Erstaunen hervor. Ringsum hörten wir deutsche Laute, sahen sehr zufriedene Gesichter. (…) Wien, die sonnige, lebenslustige Stadt mit ihren freundlichen, höflichen Bewohnern verbreitete eine Atmosphäre der Lebensfreude um uns…“
Wieder war es ein Vertreter des Völkerbunds, der dem Chor weiterhalf und die Sänger mit einem Konzertdirektor bekannt machte.
Am 4. Juli 1923 sollte der Chor ein Konzert im großen Musikvereinssaal der Wiener Hofburg geben. Der Legationssekretär des Völkerbundkommissariates für russische Flüchtlinge Jonkheer Frederik van der Hoeven, ein Holländer, hatte das Konzert organisiert und begleitete den Chor auch weiterhin (bis 1925 nach Notzucht-Vorwürfen gegen ihn die Zusammenarbeit beendet wurde).
Hugo Heller (1870 bis 1923), Direktor einer Konzertdirektion in Wien, und seine Ehefrau Hedwig Neumayr waren in Wien die Gastgeber der Chorsänger.
An die Momente vor dem großen Augenblick erinnerte sich Serge Jaroff in einem Interview mit dem „Grazer Tagblatt“, das am 6. Februar 1934 abgedruckt wurde:
„Die Vorbereitungen zu dem Konzert, die unter großen Aufregungen und in qualvoller Spannung vor sich gingen, sind in meinem Gedächtnis etwas verschwommen. Sie verblaßten vor dem bedeutungsvollen Tage selbst, als es mir bestimmt war, mit dem Chor vor das Wiener Publikum zu treten, das durch seinen Geschmack und sein angeborenes Musikverständnis bekannt ist. Der entscheidende Augenblick nahte.
Rum mit Tee zur Einstimmung
Aufgeregt umringten wir im Künstlerzimmer den Direktor und ließen uns von ihm allerlei Ratschläge geben. In dieser Minute brauchten wir wirklich keinen Dolmetscher. Auch er war wegen unseres ersten großen Auftretens in der Öffentlichkeit in begreiflicher Aufregung. Auch seine Gattin, die nicht weniger aufmerksam und hilfsbereit war, nahm lebhaften Anteil. Sie bewirtete uns mit Tee und Rum oder, genauer gesagt: Rum mit Tee. Sie unterhielt sich mit uns, klopfte uns beruhigend auf die Schultern und versuchte auf alle mögliche Weise, uns ihre Sympathie zu verstehen zu geben.“
Serge Jaroff versammelte die 24 Sänger um sich. Er stellte sie auf. Teils erbärmlich sollen sie ausgesehen haben, wie Landstreicher in ihren abgetragenen, geflickten Uniformen, der eine in Wickelgamaschen, der andere in Stiefeln, vorn die noch am besten angezogenen, soweit es die Verteilung der Stimmen zuließ. „Ja, wir waren aller zerlumpt und abgerissen, Landstreicher aus dem armseligen, traurigen Lager von Tschilingir“, so Jaroff.
Die Choristen erhielten ihre letzten Anweisungen vom Dirigenten, dann ging es auf die Bühne. Einer nach dem anderen gingen die Sänger auf die Bühne, viele von ihnen bekreuzten sich. Von dem hellen Licht überflutet, nahmen sie im gewohnten Halbkreis Aufstellung.
Der Chor „brauste wie eine Orgel“, so Jaroff später, rauschender Beifall und begeisterte Zurufe brachten den jetzt 27 Jahre alten Dirigenten in die Wirklichkeit zurück. Das „Neue Wiener Tagblatt“ berichtete in seiner Ausgabe vom 10. Juli 1923:
„Der Kirchenchor der Donkosaken in Wien.
Dreißig junge, stämmige Menschen, vom unverkennbaren Typus derer, die zur russischen Hemdbluse einen Ledergürtel tragen, sind auf der Durchreise nach Paris in Wien eingetroffen. Es sind Donkosaken, die den Krieg, mancher sogar als Offizier, mitgemacht haben, und die nun als Fabriksarbeiter sich ausdingen lassen. Ihren Unterhalt bestreiten sie auf der Reise, wie richtige ‚fahrende Sänger‘, mit dem Vortrage von geistlichen und weltlichen Liedern, die sie ganz wunderbar wiedergeben. Selbstverständlich im wohltemperierten A cappella-Chor, den ein schneidiger und beweglicher Dirigent höchst originell leitet. Schon im Weltkriege haben sie als Sänger ihre Pflicht getan, die Massen für die Sturmattacken mit süßen Volksweisen und mächtig klingenden Kirchenchoralen zu begeistern. In Wien hat sich Herr Hugo Heller der braven Leute angenommen und in seinem Musiksalon zunächst einem kleinen Kreise Gelegenheit zu geben, die ursprüngliche Kunst dieses originellen und suggestiv wirksamen A cappella-Chores kennen zu lernen. Man genoß eine ungewöhnlich eindrucksvolle Stunde und erfuhr wieder einmal, wie die Energien wahrer Volkskunst in Form und Rahmen entzückender Harmonien gebracht werden können.
Das Völkerbundkomitee für russische Flüchtlinge arrangiert mit dem Kirchenchor der Donkosaken ein Konzert vor dem Wiener Publikum. Kenner und Schätzer naiver Kunst werden Zeugen einer ganz seltenen Modulationsfähigkeit sein, die das Säuseln des Frühlingswindes über der blühenden Steppe, das Brausen der Orgel, das jauchzende Halleluja und den Klang der Glocken ganz apart durch geschulte Jünglingsstimmen darstellt.“

Serge Jaroff hatte im Anschluss Dutzende von Autogrammen zu geben. Die eigentliche Karriere des Chores nahm mit diesem vielbeachteten Konzert ihren Lauf. In der Garderobe soll der Konzertdirektor gewartet und gesagt haben: „Herr Jaroff, Sie werden mit Ihrem Chor nicht nur einmal – sondern tausend Mal singen!“
Anstelle von wenigen geplanten Konzerten füllte der Kosakenchor nun den gesamten Sommer 1923 hindurch als „Kirchenchor der Donkosaken“ unter seinem jungen Dirigenten Serge Jaroff große Säle in Wien. Montargis war nun keine Option mehr für den Chor.
Ortsangabe in den Pässen Nowotscherkassk
Die Sänger des Kirchenchores der Donkosaken waren damals Studenten, teils Abiturienten, teils Hochschüler, alle zwischen 20 und 39 Jahren alt. Die Zusammensetzung hatte sich seit der Gründung kaum verändert. Bei nahezu allen stand in den Pässen als Ortsangabe Nowotscherkassk – letzter Standort des Regiments vor seiner Auflösung. Bereits am 25. Juli 1923 kündigte „Die Stunde“ drei Zusatz-Aufführungen in der Volksoper Wien am 24., 25. und 26. Juli „mit vollständig neuem Programm“ an.
Der Chor stand weiterhin unter dem Schutz des Völkerbundkommissariats für russische Flüchtlinge, als dessen Delegierter Paul Reymond in Wien fungierte.
Der Kirchenchor der Donkosaken sang in dieser Zeit im Schwerpunkt kirchliche Gesänge und weltliche Lieder aus den Federn von Alexei Lwow, Peter Tschaikowsky und Dmitri Bortnjanski. Das „Kärntner Tagblatt“ schrieb am 30. November 1923: „Das Auftreten dieses hochkünstlerischen Ensembles in den verschiedenen österreichischen Städten ist ein ununterbrochener Triumph ihrer so eigenartigen Kunst (…) Jede der einzelnen Nummern fand stürmischen Beifall, und insbesondere bei der ersten Aufführung wollte nach dem Vortrage des ungemein stimmungsvollen Liedes ‚Abendglocken‘ der Beifall kein Ende nehmen.“
1924 gab der Don-Kosaken-Chor erste Konzerte in Deutschland, zuerst am 10. Mai in Stuttgart, dann in München, Hamburg und anderen Städten. In der „Schwäbischen Tagwacht“ verlautete: „Dieser aus 35 Personen bestehende Chor bedeutet eine Sensation des Chorgesanges. (…)“
Eine unglaubliche Karriere des Chores mit über 1.500 Konzerten in den nächsten sieben Jahren sorgte für eine internationale Bekanntheit des Don-Kosaken-Chores.
Serge Jaroff heiratete 1929 in der russisch-orthodoxen Kirche in Berlin-Wilmersdorf Neonila Nikolaevna Kudash (1907 bis 1997). Aus der Ehe ging der Sohn Aljosha hervor, ein hervorragender Pianist, der aber kein Interesse daran zeigte, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.

„Die singenden Donkosaken – Eine bevorstehende musikalische Sensation in Wien“, Ankündigung eines besonderen Konzerts. Neues Wiener Journal vom 1. Juli 1923 | Foto: ANNO - AustriaN Newspapers Online
Hier erfolgt 1923 der Durchbruch: WIEN I. K. k. Hofburg, 1920 | Foto: Wien Museum Online Sammlung
Bürgerreporter:in:

Matthias Blazek aus Adelheidsdorf

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

4 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.