Hainhofen damals
VON TRAPPERN UND GEIGERN

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Der schwierige Weg eines Dorfkinds zur Mobilität in der Nachkriegszeit

"Schau a mol, der Kloine geigt aber ganz schee“, diesen Spruch konnte man in meiner Kindheit immer wieder mal hören. Damit meinte man aber keinesfalls, daß ein Kind besonders virtuos auf der Violine spielen konnte. Es ging vielmehr um den Fahrstil beim Radeln und "Trapper" hatten nichts mit Pelztierjägern im Wilden Westen zu tun!

Lektion 1: ERSTE SCHRITTE AUF 3 RÄDERN

Den Umgang mit dem Zweirad lernte man damals stufenweise in der Gemeinschaft von Geschwistern und Nachbarskindern. Zunächst wurde man mehr oder weniger freiwillig auf ein rustikales Dreirad gesetzt. Diese primitiven Gefährte hatten noch keinen gepolsterten Sattel, sondern eine Art hölzernes Bänkchen und Hartgummireifen, die zwar absolut plattfußresistent waren, aber dafür jegliche Unebenheit des Bodens ungedämpft an den kindlichen Popo weitergaben. Eine Kette war nicht nötig, denn die Pedale, damals „Trapper“ genannt, waren als Direktantrieb fest ans Vorderrad montiert. Für den öffentlichen Straßenverkehr waren diese Dreiräder nicht zugelassen und auch fürs Radeln über den Hof waren sie nur bedingt geeignet. Auf holprigem oder tiefem Boden kam die Muskelkraft eines Dreijährigen schnell an ihre Grenzen und bergab hauten einem die Pedale blaue Flecken an die dünnhäutigen Schienbeine, sobald man der erhöhten Drehzahl nicht mehr folgen konnte und mit den Füßen abrutschte.

Lektion 2: GUT GEBREMST IST HALB GEWONNEN

Sofern einem die schmerzhaften Fahrstunden auf diesen Oldtimern das Radeln nicht von vorneherein vermiest hatten, durfte man in Stufe 2 auf ein Kinderfahrrad umsteigen. Eines, von dem keiner mehr sagen konnte, wem es eigentlich gehörte, stand immer auf dem Hof herum. Bike-Sharing würde man das heute nennen und „nachhaltig“ war die Weitergabe der Drahtesel an die nächste Generation von Fahrschülern allemal. Dieses Anfängerrad war nicht viel größer als der oben beschriebene Frontantriebler, aber es verfügte erfreulicherweise über einen Kette mit Freilauf und eine Rücktrittbremse, was das Verletzungsrisiko bei übermütigen Bergabfahrten deutlich verminderte. Außerdem sorgten luftgefüllte Ballonreifen für deutlich mehr Fahrkomfort und ein entspanntes Hinterteil. Erste, um ihren mobilen Nachwuchs besorgte „Helikoptereltern“ bestückten das Zweirad zusätzlich mit zwei wackeligen Stützrädern. Die verhinderten zwar nicht, daß die unerfahrenen Piloten bei Vollbremsungen unfreiwillig aus dem Sattel geworfen wurden, aber sie bekamen dafür bessere Stilnoten. Mit diesen Einsteigermodellen fuhr man gewöhnlich solange, bis man so groß gewachsen war, daß man mit den Kniescheiben am Lenker anschlug.

Lektion 3: DER „SCHNELLLÄUFER“ ALS ALTERNATIVE

Ängstliche Probanten vertrauten dem Fahrrad als Fortbewegungsmittel grundsätzlich nicht und benutzten lieber einen Tretroller. Da stand an erster Stelle als Ur-Urahn aller E-Scooter der hölzerne „Schnellläufer“ mit seinen winzigen hartgummibereiften Rädern. Es gab eine Luxus-Variante, die für eine ausgewogenere Balance hinten mit 2 Rädern bestückt war, aber genau das Heck war die größte Problemzone dieser Ökoscooter. Steile Schußfahrten wie den Kirchberg hinunter endeten regelmäßig blutig, denn abbremsen ließ sich der Roller nur, indem man mit der Schuhsohle direkt aufs Hinterrad drückte. Das bescherte so mancher Sandale ein kurzes Leben und dem Piloten tränenreiche Erziehungsmaßnahmen, aber das war immer noch besser, als wenn man barfuß einen Hang hinabschoß und bei Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit wählen mußte zwischen Absprung ohne Bremsfallschirm oder Brandblasen an den Füßen. Anfang der 60er Jahre schleppte das Christkind endlich komfortablere, ballonbereifte Tretroller der neueren Bauart an. Die boten eine breitere Stellfläche für die Füße, dazu ein mittelmäßig wirksames Bremspedal und einen ultracoolen Gepäckträger, auf dem man talwärts sogar sitzen konnte, wenn die Arme lang genug waren, um den Lenker aus dieser Position zu fassen.

Lektion 4: GEIGEN OHNE VIOLINE

Beim Radfahren begann für viele eine schwierige Phase, sobald sie dem hofeigenen Gemeinschaftsrad entwachsen waren, denn für ein richtiges Jugendrad mit altersgerechter Rahmengröße fehlte den Eltern das Geld und deshalb hieß es, mit derlei frommen Wünschen mindestens bis zur Heiligen Erstkommunion zu warten. So stieg man gezwungenermaßen um auf ein viel zu großes, ausrangiertes Erwachsenenrad, bei dem der TÜV längst abgelaufen und die Chromteile mit rostigen Sommersprossen übersät waren. Damenräder galten in dieser Periode tatsächlich auch bei allen Jungs als Favoriten, denn mit den zu kurzen Beinen reichte man entweder oben nicht auf den Sattel oder unten nicht auf die Pedale und man mußte notgedrungen im Stehen radeln. Das ging mit der weiblichen Ausstattung erstaunlich geschmeidig, während die männliche Stange wie so oft im späteren Leben große Probleme bereitete.

Wenn man endlich mit den Fußspitzen gerade mal bis auf die "Trapper" reichte und voller Stolz auf dem Sattel sitzend radeln konnte, ergab sich naturgemäß aus dieser Position ein ganz besonderer Fahrstil: das sogenannte "Geigen", bei dem der ganze Oberkörper in einer Art Wiegeschritt rhythmisch hin und her wogte. Das sah ziemlich unästhetisch aus und verursachte auf Dauer Reibungsschäden am Hinterteil. Wenn man extrem "geigte" und die lästernden Kumpels am Straßenrand standen, konnte man hören, wie sie einem schadenfroh hinterher riefen: "Hey, was koschtet bei Dir a Pfund Geigamehl?"
Ja, gemobbt wurde man damals auch schon, es hieß bloß nicht so!

Lektion 5: BORN TO BE WILD 

Man kann das Wandbild am Dönerladen neben der Tankstelle in der Neusässer Mitte kaum noch erkennen, aber so mancher heutige Rentner, der durch die Sechziger Jahre mit dem ersten eigenen Fahrrad gekurvt ist, mag feuchte Augen bekommen, wenn er am ehemaligen Geschäft von "Zweirad Häufle" vorbeikommt. Reparieren ließ man als Hainhofer Dorfkind seinen defekten Drahtesel in der winzigen Werkstatt droben beim "Haller Simmerl" am Schlipsheimer Berg, der war billig und nah genug, falls man sein Rad mal dort lassen mußte. Aber wenn es darum ging, den fahrbaren Untersatz optisch aufzupeppen, um damit die neidvollen Blicke der Kumpane zu ernten oder gar ein Mädel auf den Gepäckträger zu locken, dann trappte man den weiten Weg zum Häufle in Neusäß. Dort bekam man all die exklusiven Accessoires, welche ein einfaches Tourenrad zu einem bewunderten Einzelstück machten: zweifarbige Ummantelungen für die Bremskabel, Spritzlappen mit bunten Reflektoren für die Schutzbleche, bürstenartige Ringe, die während der Fahrt die Naben polierten, bunte Wimpel fürs Heck oder als Standarte am Vorderrad, neonfarbene Überzieher für die Hebel der Vorderbremse und der Torpedo-Dreigangschaltung, Lenkergriffe mit erotischen Gumminoppen, Glockendeckel mit besonderem Design oder gar eine sündteure Radlaufglocke? Damit landete man schon in der Luxusklasse, in der verchromte Rückspiegel oder extravagante Bordinstrumente wie Kilometerzähler und Tacho obligatorisch waren. Als Non-Plus-Ultra galten jedoch die sog. "High-Riser", jene coolen hochgezogenen Lenker, mit denen man als Möchtegern-Easyrider absolut lässig die Dorfstraße rauf und runter cruisen konnte. Klar, beim Häufle hing im Schaufenster auch der zweiradgewordene Traum jedes 14jährigen: eines dieser schlanken, federleichten Rennräder von Bianchi oder Peugeot mit den beiden silbernen Schalthebeln am Rahmen und den vielen Zahnkränzen für die 12 Gänge ... aber da blieb uns, wie es unsere Eltern pragmatisch ausdrückten, "der Schnabel sauber"!

Lektion 6: BONANZA ... NICHT NUR ALS TV-WESTERN

Die selben trüben Aussichten bestanden für den Besitz eines legendären „Bonanzarads“, das seinen Siegeszug aus den USA bis ins kleinste schwäbische Dorf antrat und standardmäßig mit dem hohen Motorradlenker und einem stylischen Längssattel mit Rückenlehne ausgerüstet war. Auch das viel kleinere Vorderrad erinnerte unweigerlich an Peter Fondas futuristischen Chopper, aber das atemberaubendste technische Detail war zweifellos der auf dem Oberrohr montierte Schaltknüppel für die Nabenschaltung, mit dem man die 3 Gänge lässig wie beim Auto reinwuchten konnte. Doch bei Otto Normalverdiener waren die Mittel immer noch knapp und auf Hainhofens mittlerweile asphaltierten Straßen tauchten nur wenige dieser teuren Gefährte auf. Weitergegeben an jüngere Geschwister wie 10 Jahre zuvor üblich, wurden diese kostspieligen Kulträder allerdings kaum noch, denn sie waren wie alle Modeerscheinungen äußerst kurzlebig und auf den Aha-Effekt gebürstet. Von der Technik und Verarbeitung her waren sie eher minderwertig und im Vergleich mit einem traditionellen Hercules oder Viktoria deutscher Bauart galten sie als „a recht a billigs Glumpp“!

Lektion 7: HALBSTARK IN DIE WILDEN SECHZIGER

Im bartflaumigen Alter von Sechzehn endete für einige Jungs die lange Phase der muskelbetriebenen Fortbewegung. So mancher Achtklässler war dann schon Stift im 2. Lehrjahr beim Attinger oder in der MAN und konnte mit Hilfe erster eigener Ersparnisse plus einer elterlichen Finanzspritze an den Kauf eines richtigen Mopeds denken. Schwachbrüstige Mofas waren selbst als Zwischenlösung eher verpönt und galten abschätzig als Notlösung für Bergaufbremser, die zu blöd für den Führerschein waren. Das Kleinkraftrad hingegen, der Zweitakter mit der Kraft aus seinen 50 Kubikzentimetern Hubraum und dem süßlichen Duft der blauen Auspuffwölkchen, trug seinen Besitzer in eine völlig neue Welt, machte den Weg frei zu den Tanzschuppen der Nachbarorte oder zu den Bikinischönheiten am Kuhseestrand. Man mußte nur hier und jetzt eine einmalige Entscheidung für sein weiteres Lebens fällen: Zündapp, Herkules oder doch eine Kreidler Florett?

Lektion 8: WENIGER WAR OFT MEHR

Mit der Hinwendung zu renommierten hochpreisigen Marken begann eine seltsame Entwicklung, die bereits mit dem Bonanzarad schleichend eingesetzt hatte. Während früher kaum jemand aus purer Angeberei auf den Hersteller seines Fahrrads achtete, schenkte man den angesagten Firmenlogos der fahrbaren Untersätze, insbesondere der Automobile, fortan immer mehr Aufmerksamkeit. Bald blieb man markentreu und begann die Fahrer von konkurrierenden Herstellern hämisch zu verspotten. Den Lenkern bestimmter Fabrikate wurden gewisse negative Charakterzüge zugewiesen und wenn deren Fahrzeuge auch noch das „falsche“ Ortskennzeichen mit den kleinstädtischen 3 Buchstaben trugen, war das Päckchen Vorurteile schnell geschnürt. Pferdestarke Edelkutschen zu steuern, bedeutete mehr Image und mit zunehmendem Wohlstand gedieh in Deutschland wieder ein Pflänzchen namens "Neid" heran, das in den kargen Zeiten zuvor lange ein Schattendasein gefristet hatte. Auf den fruchtbaren Äckern des Überflusses findet er jedoch ausreichend Nährboden und zusammen mit seinem Bruder, dem Egoismus, begegnen wir ihm heute mehr denn je an jeder roten Ampel! 

In jüngster Zeit ist dieses Konkurrenzdenken auch bei den Radfahrern angekommen. Wenn Du heute auf dem Weldenradweg kurzatmig und verschwitzt den Horgauer Berg hoch strampelst, kann es durchaus passieren, daß Dich eine Gruppe E-Biker leichtfüßig überholt und dabei mitleidig tuschelt: "Schauts amol, der muß no alles selber trappa!"

Bürgerreporter:in:

Helmut Weinl aus Neusäß

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