Hainhofen damals
MEINE DUNKLE RASSISTISCHE VERGANGENHEIT
ÜBER DAS HERANWACHSEN IN EINER GEWALTBEREITEN DORFJUGEND
Der Feind griff völlig überraschend im Gegenlicht der tiefstehenden Sonne an. Wir reinigten gerade die Waffen, als der Kamerad neben uns von einem Pfeil durchbohrt lautlos zu Boden sank. Sein Blut ergoß sich über die hölzernen Dielen des Vorbaus und versickerte im staubigen Boden. Kampflos würden wir uns der Übermacht niemals ergeben und bald sangen unsere Colts das Wiegenlied vom Totschlag ...
Kapitel 1: MITTWOCHS UM 1/2 DREI AM FUSS DER BLAUEN BERGE
Zur Army hatten wir uns schon in der vierten Klasse freiwillig gemeldet, mein Freund Werner und ich. Jetzt taten wir Dienst in diesem gottverlassenen Außenposten im tiefsten Westen. Das Fort war ein Geschenk meines Taufpaten, eines der schönsten, das ich je in diesen kargen 1960er Jahren erhalten hatte. Es verfügte über einen offenen und einen überdachten Wehrturm, war geschützt durch spitze Palisaden und ein mächtiges Holztor, welches man mit einem echten Riegel von innen versperren konnte. Die Mannschaft wohnte in einem rustikalen Blockhaus und sie bestand aus einem zusammengewürfelten Haufen von Uniformierten in den blauen Hemden der Nordstaaten und mit gelben Halstüchern, sowie zahllosen Revolverhelden mit stets schußbereiten 45er Colts in den Fäusten. Wir beide trafen uns mehrfach die Woche zum Cowboy- und Indianerspielen, mal bei ihm und mal bei mir zuhause und der Gast brachte seine Figurensammlung jeweils in einem großen Plastikeimer mit. Die Schlachten gegen die Indianer verliefen stets nach dem selben Strickmuster. Es waren generell die verhaßten Rothäute, die uns edle Bleichgesichter heimtückisch und aus reiner Mordlust überfielen, um an unsere prächtigen Skalps zu kommen. Zunächst durften sie auch einige von uns niedermetzeln, das machte unseren Endsieg später umso glorreicher, aber es waren immer nur die leicht abgenutzten, schäbigen Cowboyfiguren, die wir als Kanonenfutter opferten. Als die Lage schließlich hoffnungslos erschien, wagten wir beiden Helden des Westens einen todesmutigen Ausbruch und knallten alles nieder, was uns vor die glühenden Läufe kam. Ein gnädiger Tod auf dem Schlachtfeld erschien uns viel zu milde für die verhaßte Indianerbrut. Auge um Auge, Zahn um Zahn hieß es und so begannen wir die Gefangenen nach Art der Kiowas zu martern und durchbohrten ihre muskulösen Elastolinkörper mit rotglühenden Stecknadeln, die wir vorher über einer Kerzenflamme erhitzt hatten. Die grausamen Szenen, die sich auf unserem Küchenboden abspielten, hätte man in den jugendfreien Bonanzafolgen am Sonntagnachmittag nicht senden dürfen. Nach vollbrachtem Gemetzel kamen alle Bleichgesichter und Rothäute wieder gemeinsam in den Eimer und wir beide gönnten uns zufrieden noch den einen oder anderen sahnig fluffigen Mohrenkopf.
Kapitel 2: WER MACHT DIE WEHRMACHT?
Manchmal spielten wir auch 2. Weltkrieg, von dem uns die Eltern nur ganz wenig erzählten, obwohl er noch gar nicht lange zurück lag. Das Drehbuch war im Prinzip das gleiche wie bei den Indianerkriegen, nur die Statisten dafür wurden ausgetauscht. Der heimtückische Aggressor waren jetzt die Russen und auf der guten Seite stand erneut die US Army. Von unserer deutschen Wehrmacht wußten wir ja nur, daß sie den Krieg versemmelt hatte und deshalb galt sie als Verlierer und in diese undankbare Rolle wollte kein Kind schlüpfen. Das Rekrutieren der Kompanien war ein langwieriger Prozeß, denn die kleinen Spielfiguren waren Teil der begehrtesten Lutscher, die man „beim Bäck“ droben kaufen konnte. Die Plastiksoldaten waren quasi der Stiel eines Lollis und wenn man die kegelförmige Masse aus Zucker und Chemikalien darüber weggelutscht hatte, besaß man einen neuen, anfangs klebrigen Kämpfer für sein Regiment. Hatte dieser eine Maschinenpistole umhängen oder hielt ein Sturmgewehr im Anschlag war man selig, während unbewaffnete Funker und Beobachter mit Feldstecher nur als Staffage dienten. Die militanten Lutschsoldaten gab es in zwei Farben, in einem hellen Mausgrau und im dunklen Oliv. Die graue Variante war natürlich „der Russ“ und die grünen Uniformen standen für die GIs aus Amerika. Farblose Russen kaufte man sich trotzdem oder erstand welche auf der dörflichen Tauschbörse, denn schließlich brauchte man auch jede Menge Iwans, die man mit seinen MG-Schützen reihenweise niedermähen konnte. Verstärkt wurden die Einheiten durch kleine Plastikkanonen, mit denen man Streichhölzer abfeuern konnte. Das wirkte besonders effektiv, wenn man die Schwefelköpfchen vor dem Abschuß anzündete, allerdings sollte man dann nicht auf der guten Auslegeware im Wohnzimmer Krieg spielen, denn sonst hinterließ man auf dem Schlachtfeld Einschußlöcher und wie im wahren Leben „verbrannte Erde“.
Kapitel 3: EIN COLT FÜR ALLE FÄLLE
Drinnen wurde aber in dieser Zeit nur bei Tiefdruck oder Hausarrest gespielt. Ansonsten boten die umliegenden Höfe, die Schloßanlage und die ungeteerten Straßen die Freilichtbühne für allerlei kampfbetonte Spiele. Wenn es hieß „Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann“, suchte man sein Heil noch regelkonform in der Flucht nach vorne, aber schon bei „Räuber und Schandi“ war die Grenze zwischen Spiel und Ernst schnell überschritten, denn welcher Viertkläßler ließ sich schon freiwillig von einer kleinen Rotznase festnehmen? Mit den Karl-May-Bänden auf den Gabentischen und den ersten schwarzweißen Episoden von „Am Fuß der Blauen Berge“ erreichte der Wilde Westen auch die Siedlungen in den Westlichen Wäldern und „Kauboi und Indianer“ wurde schnell zum beliebtesten Actionspiel aller Sechs- bis Vierzehnjährigen. Wie bei unseren Indianerschlachten im Kinderzimmer an Regentagen war auch im Freien die Rolle des weißen Cowboys weitaus beliebter als die des rothäutigen Indianers, denn als Revolverheld hatten man eben diese faszinierenden Colts in den patronenbestückten Gürteln stecken. Als Munition der 45er dienten die „Blättele“, die gabs endlich auf praktischen Rollen mit 100 Schuß, damit konntest Du ohne nachzuladen einen ganzen Stamm Schoschonen in wenigen Minuten ausrotten oder Meinungsverschiedenheiten im Saloon nach Art des Westmanns klären. Der Indianernachwuchs war hingegen meist nur mit einem ärmlichen Bogen bewaffnet, den ein handwerklich begabter und sparsamer Vater aus einem feuchten Haselnußstecken gebogen und mit einer groben Schnur bespannt hatte. Zusammen mit den klobigen Pfeilen war ein Sieg gegen die weiße Übermacht zum Scheitern verurteilt, denn damit hätte man nicht einmal das berühmte Scheunentor getroffen. Zu filmreifen Blutsbrüderschaften zwischen Weiß und Rot wie in Winnetou 1 ist es in Hainhofen leider nie gekommen, da alleine der Gedanke, sich die Handgelenke mit einem scharfen Messer aufzuritzen sogar die marterpfahlerprobten Rothäute unter uns schlagartig zu aschfahlen Bleichgesichtern machte, denen das Blut in den Adern stockte.
Kapitel 4: SAROTTIMOHR UND NICKNEGER
Es war in diesen Zeiten vieles verboten, aber solange man nicht mit blutenden Wunden nach Hause kam, schenkten die Erwachsenen unserem kriegerischen Treiben nur wenig Aufmerksamkeit. Auch daß man seine Gegner lautstark als „Zigeuner“, als „Kanacken“, „Kameltreiber“ oder „Salzneger“ beschimpfte, regte niemand auf, schließlich betitelten sich die Schapfkopfer am Stammtisch mit Vorliebe auch so. Zu Dunkelhäutigen hatten wir Kinder ein zwiegespaltenes Verhältnis. Vor den tiefschwarzen Negern in den Marschtruppen der GIs hatten wir gehörigen Respekt, aber Hauptsache sie hielten einem „den hinterfotzigen Russ“ vom Hals. Super waren dagegen erste Lehrfilme der Kreisvolkshochschule über afrikanische Völker, in denen die eingeborenen Mädchen nur mit einem Lendenschurz bekleidet ihre Stammestänze zeigten. Die wippenden Schokobrüste waren unter dem Deckmäntelchen der Kultur die einzige legale Möglichkeit für uns beichtpflichtige Volksschüler der Unkeuschheit zu frönen. Daneben gab es noch die „Mohren“, das waren meist putzige Neger aus der orientalischen Märchenwelt. Sie waren oftmals von einfältiger Natur oder gar noch Kinder und überwiegend als unterbezahlte Dienerschaft bei der weißen Herrschaft angestellt. In Filmen mußten sie untertänig mit Palmblättern Frischluft fächeln oder als stumme und sterile Eunuchen den Harem ihres Meisters bewachen. Unvergessen blieb der pausbäckige „Sarotti-Mohr“, der als herzallerliebst gekleideter Sklave allzeit seine süsse Schokolade der weißen Herrschaft servierte. Das alles war für uns selbstverständlich, weil es die Erwachsenen auch so sahen. Der Herr Pfarrer führte uns sogar im Religionsunterricht einmal am eigenen geweihten Leib die sandsturmresistente Kleidung eines Wüstensohns vor, die er von einer Reise in den Nahen Osten mitgebracht hatte und auf dem Gymnasium trat im Geschichtsunterricht ein echter, zahmer Indianerhäuptling samt Friedenspfeife auf, den man sogar anfassen durfte!
Unbeschwerten Gewissens kaufte man sich beim Bäcker einen Schaumkuss namens „Mohrenkopf“, beim Metzger erstand man eine Blutwurst namens „Negerbeutel“ und man dachte dabei an alles andere, als an die Diskriminierung indigener Völker. Ganz im Gegenteil: in der gnadenbringenden Adventszeit unterstützte man barmherzig die hungerleidenden Ungetauften in Afrika, und zu diesem Zweck war in der Kirche neben dem Seitenaltar das sog. „Heidenkindlein“ aufgestellt. Wenn man dem Eingeborenen ein Zehnerle opferte und in den Münzschlitz warf, bedankte er sich sofort durch unterwürfiges Kopfnicken, weshalb diese missionarische Spendendose auch „Nickneger“ genannt wurde. Mein Onkel Martin hatte allerdings schon Jahre vorher festgestellt, daß sich das naive Negerlein genauso artig bedankte, wenn man ihm mit der Zipfelmütze einen leichten Schlag aufs Haupt verpaßte und mit dem Zehnerle lieber sich selbst beim Bäcker Gutes tat.
Kapitel 5: KNALLKETTENREAKTIONEN
In einer Landgaststätte habe ich in diesen Tagen tatsächlich noch das längst vergessene gutbürgerliche Zigeunerschnitzel wiederentdeckt und würde das reinen Gewissens auch heute noch bestellen, denn außer roter Paprika als typischer Zutat finde ich daran nichts Verwerfliches. Im Sommer würde ich dazu selbst in Zeiten von Putins Angriffskrieg einen erfrischenden „Russ“ trinken. Nur einen einzigen der vielen mittlerweile auf dem Index stehenden Begriffe würde ich heute tatsächlich nicht mehr über die Lippen bringen:
Bald ist wieder Silvesterabend, seit je her die Zeit der Böller und Feuerwerkskörper. In meiner Kindheit war der Einsatz von Pyrotechnik deutlich reduzierter, aber schon an den Nachmittagen vor dem Jahreswechsel hörte man im Dorf vereinzelte durch Kindeshand entzündete Knaller detonieren. Einen fetten „Kanonenschlag“ zur Explosion zu bringen, wäre das Größte für uns Kleine gewesen, aber dazu reichte das Taschengeld so gut wie nie und zum Einkauf hätte man den großen Bruder gebraucht. Deshalb blieb für uns minderbemittelte Minderjährige meist nur die harmloseste, frei verkäufliche Gattung der Silvesterkracher übrig, der sogenannte „Judenpfurz“! Das waren Bänder aus winzigen roten Knallfröschen, die alle untereinander mit einer einzigen Zündschnur verbunden waren. Die konnte man mit eben dieser Lunte in einer einzigen Kettenreaktion abbrennen oder man löste sie vorher ab und entzündete sie einzeln, was deutlich längeren Spaß fürs Geld versprach. Sensibles Hühnervolk oder schreckhafte Nachbarskinder im Vorschulalter ließen sich damit gerade noch aufscheuchen, aber der Wirkungsgrad war äußerst bescheiden. Der despektierliche Name kam wohl auch daher, daß der erzeugte Knall nicht viel lauter war als der von einem Kinderpups. Weshalb man sie aber diskriminierend den Juden zuschrieb, kann mir bis heute niemand erklären. Ich gehe jedoch davon aus, das sollte gezielt eine dumpfsinnige Beleidigung für ein ganzes Volk sein und deshalb streiche ich diesen Begriff für alle Zeiten aus meinem Wortschatz, wobei ich Flatulenzen alleine schon ziemlich unappetitlich finde. Heute dürfte man im Laden alternativ und legal nach „Ladykrachern“ fragen, aber würde man dabei nicht auch schon von diversen Mitmenschen entrüstet angeschaut? Und mal ehrlich, die Frage nach „Chinaböllern“ kommt einem 2022 doch ebenfalls nicht mehr völlig unbeschwert über die Lippen ...
Bürgerreporter:in:Helmut Weinl aus Neusäß | |
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