Rezension: „Verteidigung“ von John Grisham
John Grisham hat mit „Verteidigung“ erneut einen Anwaltsroman mit Bestseller-Potenzial geschrieben. Diesmal sind allerdings einige Zutaten im Topf, die den typischen Grisham-Handlungsverlauf ein bisschen auf den Kopf stellen. Davon abgesehen handelt es sich bei „The Litigators“ (Originaltitel) hinsichtlich Erzählkunst und Spannung um einen klassischen Grisham.
Die Story
In seinem neuesten Werk wechselt Harvard-Absolvent David Zinc von einer renommierten Kanzlei in Chicago zu einer kleinen Klitsche und gerät in einem gigantischen Fall, dem sein neuer Arbeitgeber nicht im Ansatz gewachsen ist, unter die Räder. Selten standen die Hauptfiguren so nah selbstverschuldet am Abgrund. Oscar Finley und Wally T. Figg sind Vorstadt-Anwälte, die Verkehrsunfälle und Scheidungen mehr schlecht als recht bearbeiten. Ein unglücklicher Seniorpartner, dessen mühsam verdientes Geld Frau und Tochter zum Fenster hinauswerfen und ein Alkoholiker-Juniorpartner, der vom großen Geld träumt und mehr mit Marketing denn mit Juristerei beschäftigt ist. Was für ein Glück, dass Zinc die Schnauze voll hat von „Internationalen Finanzen“ in der Großkanzlei Rogan Rothberg und betrunken bei Finley & Figg hereinschneit.
Es scheint aufwärts zu gehen, als Figg Mandanten für eine Sammelklage gegen einen Pharmariesen, der ein Medikament mit möglicherweise tödlicher Nebenwirkung produziert hat, an Land zieht. Als es jedoch vor die Jury geht, steht der Drei-Mann-Betrieb ohne jegliche Prozesserfahrung an einem Bundesgericht plötzlich ohne Schützenhilfe da. Die Kanzlei Finley & Figg ist heillos überfordert, verschuldet sich über beide Ohren und schließlich springen die beiden Partner im Gerichtssaal ab. Zinc muss die entscheidende Schlacht gegen ein Heer fähiger Anwälte rund um die brillante und attraktive Nadine Karros von seinem Ex-Arbeitgeber Rogan Rothberg allein führen. Nebenbei wird er Vater und trägt für arme Einwanderer aus Myanmar Beweismaterial gegen einen Spielzeugimporteur, dessen bleiverseuchte Ware einen kleinen Jungen zum Schwerbehinderten macht, zusammen. Dumm nur, dass die Familie die Verpackung der Vampirzähne nicht aufgehoben hat, diese scheinbar in ganz Chicago nirgends mehr zu kaufen sind und somit kein Beklagter zu ermitteln ist.
Was ist neu?
Grisham bleibt seinem Stil treu, wenngleich sich die Karrierespirale seines Protagonisten diesmal abwärts dreht. Relativ früh wird klar, wie die Verhandlung der Hauptgeschichte ausgeht, dennoch blättert der Leser Seite für Seite weiter. Denn langweilig wird es trotz einiger Vorhersehbarkeiten nicht. Viel Sympathie für Zincs windige Kollegen, die sich als streitlustige, raffgierige und nur mäßig kompetente Juristen herausstellen, mag sich nicht einstellen. Doch der Leser fiebert mit dem Protagonisten, hofft, dass sich dieser aus dem Sog des persönlichen Verderbens befreien kann.
Neue Facetten liefern in „Verteidigung“ das digitale Zeitalter und mehrere Erzählstränge. Während Grisham sich in der Regel auf einen Fall konzentriert, gibt es in „Verteidigung“ entscheidende Fälle neben dem Hauptstrang. Ungewöhnlich ist auch, dass die Prozessanwälte nicht mit harten Bandagen kämpfen, sich sogar ausgesprochen fair zueinander verhalten. Fast scheint es, als wäre Zusammenhalt trotz gegensätzlicher Ziele vor Gericht die Maxime. Die Online-Welt macht sich derweil durch einen (zu) gut informierten Blogger und die Tatsache, dass selbst ein Richter kurz vor der Rente per E-Mail kommuniziert, bemerkbar. Und dann wäre da noch der Einstieg, der damit beginnt, dass ein aufstrebender Jurist seinen gut bezahlten Job hinschmeißt und über den Umweg Kneipe bei einer Minikanzlei ohne Perspektive anfängt, bei der Mandanten ihre Rechnung auch mal mit Sex begleichen.
Fazit: Wer neugierig auf Anwaltsromane ist, greift zu „Verteidigung“. Wer Grishams Werke kennt und schätzt, kommt auch diesmal wieder auf seine Kosten. „Verteidigung“ ist 2012 im Heyne Verlag erschienen. Die ISBN lautet 978-3-453-26791-6.
Bürgerreporter:in:Michael S. aus Neusäß |
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