Reizvoll: Das Hinterland der Amalfiküste
Die versteckten Schätze der Milchberge
Sie ist das ganze Jahr über ein Magnet – die Amalfi-Küste südlich von Neapel: Doch neben ihren legendären Orten wie Ravello oder Positano und dem von schroffen Felsen eingerahmten azurblauen Meer wartet noch eine andere Seite auf die Besucher – ein grünes Hinterland, viel unberührte Natur, wild und verzaubert, durchzogen von Wanderwegen und Bergdörfchen mit ihrem ganz eigenen Charme.
Es sind nur noch ein paar Schritte hinunter, dann breitet sich die vor mir liegende, aus groben Vulkangestein-Platten ausgelegte Terrasse aus wie eine große Theaterbühne. Hoch über dem türkisblauen Wasser des Tyrrhenischen Meeres thronend, ist sie die ideale, imposante Plattform für eine kurze Verschnaufpause – nach dem auf und ab über zahllose, steile Treppenstufen.
Vor mir liegt Amalfi, die mondäne Perle der Costa d'Amalfi in der Region Kampanien, die sich wie ein geballtes, weißes „Tuch“ in die dramatische Felsenküste schmiegt. Im Rücken erhebt sich das grüne Hinterland, ein Labyrinth aus steil aufeinander geschichteten Olivenhainen, Zitronengärten und Weinbergen. Hier beginnt meine Reise – eine Entdeckungstour zu den versteckten Wundern von Amalfi und Scala, die weit über die bekannten Postkartenmotive hinausgehen.
Amalfi, mit seiner bewegten Geschichte als eine der vier mächtigen Seerepubliken Italiens im Spätmittelalter, hat sich trotz der vielen, durch die kompakte Altstadt bummelnden Besucher (in der Hauptsaison) seinen Zauber bewahrt. Die engen Gassen sind ein Gewirr aus Bogengänge-Häusern, blumengeschmückten Balkonen, einladenden Trattorien und kleinen Läden, in denen handgemachte Keramik und köstlicher Limoncello, der allgegenwärtige süßsaure Likör, feilgeboten werden.
Aber ich bin heute nicht hier, um nur die Altstadt, eingepackt zwischen Meer und den Monti Lattari zu erkunden. Mich zieht es hinaus, hinein in die Hügel und Schluchten der sogenannten Milch-Berge (die Gebirgskette erreicht Höhen über 1400 Meter), in das grüne Herz der Amalfi-Küste – zum staatlichen Naturpark Valle delle Ferriere.
Der Weg dorthin beginnt gleich hinter dem über eine imposante Steintreppe zu erreichenden Dom von Amalfi, einem architektonischen Juwel mit seiner mehrfarbigen, arabisch-byzantinisch inspirierten Fassade, der neben zahlreichen Kunstschätzen die Reliquien des Apostels St. Andreas und den „Kreuzgang des Paradieses“ beherbergt.
Schon bald verlässt der Pfad die belebten Straßen und taucht ein in die ergreifende Stille des Waldes. Es ist wie ein Übergang in eine andere Welt. Die Luft wird kühler, die Geräusche der quirligen Kleinstadt, deren Ursprung fern aller Gründungsmythen auf Soldaten des Kaisers Konstantin zurückgehen soll, verschwinden und ich höre nur noch das leise Plätschern des Wassers des Rio Canneto, das sich seinen Weg durch das mystisch-grüne Tal bahnt.
Das Valle delle Ferriere ist ein Naturschutzgebiet (als Teil des Regionalparks Monti Lattari) von seltener Schönheit und ökologischer Bedeutung. Hier wächst eine Vegetation, die sonst nirgends in Europa zu finden ist, darunter seltene Orchideen und Farne. Zur letzteren Pflanzenart gehört der Riesenfarn Woodwardia Radicans, der 1710 vom italienischen Botaniker Pier Antonio Micheli erstmals erwähnt wurde. Dieser Farn, dessen Blätter eine Länge von 180 Zentimetern erreichen können, ist typisch für heiße Regionen mit starken Niederschlägen.
Die Luft ist erfüllt vom Duft feuchter Erde und wilder Minze, und die dichten Baumkronen spenden wohltuenden Schatten. Während ich den gut markierten Wanderpfad (ins Tal gibt es mehrere Routen) entlanglaufe, kann ich die Überreste der mittelalterlichen Eisenwerke sehen, die dem Bergeinschnitt seinen Namen gegeben haben. Im 12. Jahrhundert florierte hier die Eisenverarbeitung, und die Produkte, die man aus Rohstoffen aus Elba und Apulien erzeugte, wurden in der gesamten mediterranen Welt geschätzt. Heute sind die Ruinen der Eisenhütten überwuchert, wirken wie verzauberte Relikte, nur das Summen der Insekten und das Zwitschern der Vögel begleiten meinen Weg, bis ich am Talschluss an einer kleinen Hütte auf Candida Esposito treffe, eine Trekking-Führerin, die dort offiziell ab und zu im Einsatz sei, um auf die sensible Umgebung achtzugeben, wie sie erzählt.
Dank der geschützten Lage des Eisentals und regelmäßigen Regens sei eine beachtliche Vielfalt an Lebensräumen entstanden, die von den Mischwäldern in der Talsohle und in den Seitentälern bis zu den für den oberen Teil des Reservats charakteristischen Kastanien-, Erlen- und vereinzelten Buchenbeständen reichten. „Der Wanderfalke, eine fleischfressende, prähistorische Pflanze, die Steinschlange oder der Brillensalamander sind hier zuhause“, nennt sie noch kurz einige der Bewohner des felsigen Areals, bevor es für mich weiter über einen guten Pfad hinaufgeht – nach Scala, der ältesten Siedlung der Amalfi-Küste, gegründet von römischen Familien vor über 1600 Jahren, die hier Schutz vor Piratenangriffen entlang der Küste suchten.
Von diesem Kleinod, umgeben von viel Grün, schaue ich beglückt auf die darunter liegende Stadt Ravello, die wie ein leuchtendes Band aus pastellfarbenen Häusern am Hang klebt. Die Lage über Ravello verleiht Scala eine ganz besondere Atmosphäre – eine Art behütete Erhabenheit, die mir das Gefühl gibt, als hätte ich einen Zufluchtsort gefunden, fernab von der Hektik des Alltags und der mich in eine andere Zeit eintauchen lässt: Die Cattedrale di San Lorenzo aus dem 12. Jahrhundert (ein stattlicher Dom, der weitaus größer ist als irgendeine der Kirchen von Ravello) ist das Herzstück der 1800 Bewohner zählenden Gemeinde. Die unscheinbaren, aber dennoch imposanten Mauern der Kirche, die kunstvollen Fresken und das mystische Licht, das durch die Buntglasfenster fällt, versetzen mich in eine stille Ehrfurcht. Ich erfahre, dass die Kathedrale ursprünglich im romanisch-gotischen Stil erbaut wurde und dass sie trotz einiger Umbauten bis hin zu barocken Elementen ihren mittelalterlichen Charme bewahrt hat. Hier, in der kühlen Stille des Gotteshauses, konnte ich die Jahrhunderte spüren, die am hohen Bau vorübergezogen sind, besonders jene Zeitläufe, als Scala Teil der großen marinen Handelsmacht und Seerepublik von Amalfi (839 bis Mitte 12. Jhdt.) und sogar Bischofssitz war.
Es dauert nicht lange und ich stehe nach einigen Minuten Fußmarsch vor einem zweiten baulichen Wunderwerk – den auf einem Steilabhang thronenden Ruinen der Basilica Sant'Eustachio in Scalas Ortsteil Pontone, die zu den schönsten Orten der Spiritualität in Süditalien zählt, wie es im Reiseführer heißt. Gebannt lese ich mehr über diesen im 12. Jahrhundert von der Familie D'Afflitto, einem alten Adelsgeschlecht aus Amalfi, in Auftrag gegebenen Sakralbau, von dem man eindrucksvoll die Küstengegend überblickt. Auch wenn nicht mehr viel von der Kirche steht, ist ihre einstige romanische Grundstruktur noch greifbar – mit ihren drei Schiffen, dem Eingangsportikus, dem Querschiff und den drei zylindrischen Apsiden, typischen Architektur-Merkmalen jener Tage, in die Einflüsse aus der islamischen, spanischen und afrikanischen Welt eingeflossen sind. Während ich mich umschaue, an stillen Bögen, ehemals großen Marmorsäulen und verblassten Fresken vorbeigehe und am Ende die Krypta betrete, merke ich, wie mich eine leichte Melancholie anrührt und sich Gedanken einstellen, die sich mit den Menschen, die hier wirkten und beteten, verbinden.
Das Außerordentliche an Scala ist, dass die Stadt ihre Ursprünglichkeit bewahrt hat. Die Menschen hier sind freundlich und einladend, und in ihrer Wahrnehmung wurde mir deutlich , dass sie stolz auf ihr Erbe sind. Im kleinen Dorf-Café Campidoglio unweit der Piazza habe ich mich mit einem älteren Mann unterhalten, der mir Geschichten über den 400 Meter über dem Meer liegenden Ort und seine Traditionen erzählte. Er sprach von den alten Familien, die hier seit Generationen leben, von den Festen und Bräuchen, die hier noch gepflegt werden, und von der Liebe der Menschen zu ihrer Heimat. Seine Augen leuchteten, als er mir vom jährlichen Kastanienfestival im Spätherbst erzählte, einem traditionellen Ereignis, bei dem viele Einwohner zusammenkommen, um die reiche Ernte zu feiern. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie die Piazza Municipio mit Lichtern geschmückt wird, die Musik durch die Gassen hallt und die Luft von den Aromen frisch gerösteter Kastanien erfüllt ist.
Während ich so über die Pfade von Scala wanderte, wurde mir bewusst, dass dieser Ort mehr ist als nur eine schön gelegene, lebendige Dorfgemeinde. Scala ist ein Ort, an dem die Zeit stillzustehen scheint, ein Ort, an dem eine Auszeit vom Alltag ungestört möglich ist und wo man sich auf das Wesentliche besinnen kann. Es ist ein Ort voller Geschichte, Kultur, natürlichem Liebreiz und wunderbaren Panoramen auf den Golf von Salerno und Neapel, der mich auf eine Weise berührt hat, für die Worte zur Beschreibung nicht ausreichen. Jeder Schritt, den ich hier tat, jede Begegnung, die ich hatte, war wie ein kleiner, verborgen funkelnder Mosaikstein, der darauf wartete, entdeckt zu werden. Scala hat mir gezeigt, dass die wahre Schönheit oft in den versteckten Winkeln der Welt zu finden ist – und dass diese Schönheit manchmal nur darauf wartet, dass wir uns die Zeit nehmen, sie zu sehen.
Text / Fotos: Daniel Basler
Alle wichtigen Infos zu Anreise, Aufenthalt und Aktivitäten an der Amalfi-Küste finden sich u. a. auf folgenden Internetseiten: www.italia.it (Region Campania), www.distrettocostadamalfi.it, www.discoverscala.com, www.visitamalfi.info und www.lavalledelleferriere.com
Wer sich für geführte Wanderungen und Naturexkursionen in der Region interessiert, kann sich an folgende Ansprechpartner wenden: Brigida Corritore (Mail: info@amalficoastgreenlung.com) und Candida Esposito (Mail: costanatura.81@gmail.com)
Bürgerreporter:in:Daniel J. Basler |
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