Tötet Tibet Olympia?

Vehemente Freiheitsproteste in Tibets Hauptstadt Lhasa könnten dazu führen, dass viele Nationen die Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen im Juni boykottieren. Sämtliche ausländische Medien und Privatpersonen wurden von der Pekinger Regierung angewiesen, Tibet binnen 24 Stunden zu verlassen. Chinaexperten befürchten ein Blutbad und ein moralisches Dilemma – auch im Hinblick auf das Sportgroßereignis.

Dabei hatten die antiken Olympischen Spiele einen friedlichen Hintergrund. Ursprünglich war der sportliche Vergleich ein Wettlauf der einzelnen griechischen Völker mit religiöser Komponente. Religion und territoriale Ansprüche sorgen 2008 für ernstzunehmende Turbulenzen. Denn die buddhistischen Tibeter nutzen die mediale Präsenz der ganzen Welt, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Über 100 Aufständische sind dem Militär offenbar bereits zum Opfer gefallen, Peking spricht von 16 Todesfällen. Doch gerade die toten Protestanten könnten dem für China so prestigeträchtigen Ereignis den Todesstoss versetzen. „China würde wohl eher einen Boykott ertragen, als eine Abspaltung Tibets“, vermuten Experten und Blogger wie Martin Ritman. Der kommunistische Staatsapparat habe angeblich Beweise, dass die Clique des Dalai Lamas eine „politische Verschwörung“ anstrebt. Dabei wehren sich die Einwohner Tibets gegen Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung und die mangelnde Religionsfreiheit. Denn Anlass für den Aufstand sind die Festnahmen einiger Mönche, die von der chinesischen Regierung dazu verpflichtet wurden, an politischen Sitzungen teilzunehmen und dort politische Grundsätze zu verinnerlichen, in denen der Dalai Lama als Verräter deklariert wird. „Brennende Polizeiautos und Militärlastwagen auf den Straßen von Lhasa“ stellen womöglich eine neue Variante des olympischen Feuers dar.

Tibet nutzt die Olympischen Spiele wie viele andere vorher und zerstört damit die Hoffnungen Chinas, sich von seiner besten, kulturellen Seite und zu präsentieren. Die neuen Stadien sind architektonische Meisterleistungen, die imposanten Kulturstätten vergangener Tage sind bis zum Sommer rechtzeitig restauriert, der Tourismus boomt und damit auch die Wirtschaft. Kalligraphie und die Stempelkunst, die sich im olympischen Logo in Gestalt eines tanzenden Menschen mit anmutigen Kurven „wie der Körper eines sich windenden Drachen“ widerspiegelt, geben Einblick in die traditionellen Kunsthandwerke des kommunistischen Landes. Auch sportlich hat das Gastgeberland zahlreiche Medaillen im Visier. Hürdenläufer Xiang Lu gilt ebenso als Titelfavorit wie die Badminton- und Tischtennisakteure aus dem Reich der Mitte.

Der Lauf der Sportgeschichte zeigt, dass die bedeutendsten Sportspiele gerne für politische Zwecke missbraucht wurden. Schon 1936 richteten die Nationalsozialisten in Berlin eine wahre Propagandaveranstaltung aus. 1972 wollte sich Deutschland in München von einer gastfreundlichen Seite zeigen. Doch palästinensische Terroristen nahmen elf israelische Athleten als Geisel. 1976 durfte Taiwan nicht als „Republik China“ teilnehmen und sagte ab, während afrikanische Apartheid-Regime entweder einem Sportbann ausgesetzt waren oder aus Trotz fern blieben. Der kalte Krieg führte anschließend dazu, dass die US-Amerikaner die Olympischen Spiele 1980 in Moskau boykottierten, wofür sich das sowjetische Lager 1984 in Los Angeles revanchierte. Nun droht auch Chinas Motto „One world, one dream“ wie eine Seifenblase zu zerplatzen. Jacques Rogge, Vorsitzender des Internationalen Olympischen Komitees, glaubt nicht an einen Boykott. „Wir sind eine Sportorganisation, die sich auf Werte, Ethik und den Respekt der Menschenrechte stützt. Aber wir können nicht alles erreichen, was andere von uns erwarten.“ Tatsächlich hat noch kein Land angekündigt, nicht in Peking anzutreten. Doch das könnte sich in den nächsten Tagen drastisch ändern, wenn trotz winkender Todesstrafe erneut Videos die Zensur umgehen und im Internet brutale Bilder aus Lhasa kursieren.

Bürgerreporter:in:

Michael S. aus Neusäß

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