Neusäßer Kameradschaft und Hürdenlauf über Gartenstühle - Leichtathlet setzt sich für Mitbürger mit Behinderung ein

Trotz der verblüffenden Ähnlichkeit: Hier läuft nicht Jack Bristow aus dem US-Serienhit „Alias“, sondern der Neusäßer Hans-Wilhelm Vogt | Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Hans-Wilhelm Vogt
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  • Trotz der verblüffenden Ähnlichkeit: Hier läuft nicht Jack Bristow aus dem US-Serienhit „Alias“, sondern der Neusäßer Hans-Wilhelm Vogt
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Hans-Wilhelm Vogt arbeitet seit 1996 aktiv in der Behindertenbetreuung der Stadt Neusäß mit.

Von 1974 – 1980 war er stellvertretender Vorsitzender der Lebenshilfe e.V., Augsburg, ehe er zwischen 1988 und 2000 im selben Verein als Finanzvorstand agierte. Dort war er maßgeblich am Auf- und Ausbau der Lebenshilfe beteiligt. So zeichnete sich Vogt unter anderem für den Kauf und Umbau der Förderstätte für Schwerstbehinderte in Königsbrunn verantwortlich.
Dass ihm die Funktionärsarbeit liegt, bewies der Senior bereits in früheren Jahren beim SC 1880 Donauwörth. Dort leitete Vogt in den 1950ern und 1960ern die Geschicke der Leichtathletikabteilung – sei es als Abteilungsleiter, Fachübungsleiter, Mitherausgeber der Abteilungszeitschrift oder Jugendwart des Gesamtvereins. Auch für den Bayerischen Leichtathletik-Verband (BLV) war er ehrenamtlich tätig. Als Lehrwart für Schwaben, als Kampfrichter bei internationalen Veranstaltungen, als Nachwuchstrainer mit B-Lizenz und Prüfer für das Sportabzeichen.

In diesem Zusammenhang baute der engagierte Funktionär zwischen 1968 und 1979 vor allem im Hinblick auf die Olympischen Spiele in München einige Trainingszentren auf und arbeitete im Landesleistungsauschuss für das Großevent von 1972 mit. Dieses breite Verdienstspekrum wurde entsprechend gewürdigt. Sei es mit der Goldenen Ehrennadel des BLV 1976, der 1997 folgenden Goldenen Ehrennadel des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) oder dem Bundesverdienstorden der Bundesrepublik Deutschlands im Jahre 1986. Natürlich schlossen sich diesen Auszeichnungen auch die beiden Heimatstädte Neusäß und Donauwörth an.
Doch Hans-Wilhelm Vogt war nicht nur jahrzehntelang hinter den Kulissen des Sports tätig, sondern rang selbst um Titel. In seinem ersten Wirkungskreis an der Donau stellte der junge Sprinter zusammen mit seinen drei Mitstreitern den nordschwäbischen Rekord in der 4x100m Staffel auf. Einen historischen schwäbischen Rekord stellte der Bayerische Mannschaftsmeister der Männerklasse 50 für die LG ESV Augsburg / TSV Neusäß auf, für die er seit seinem beruflich bedingten Wechsel aktiv ist. Denn die Gerätemaße und Gewichte, mit denen dieses Team 1993 noch angetreten ist, haben sich inzwischen geändert. Zwei Jahre später gelang den Herren Gaßner, Reischle, Bickel, Heinrich, Haschke und Vogt sogar ein weiterer historischer schwäbischer Rekord, zusammen mit den Leichtathletikkollegen Losert und Rößle, die 1993 in Fürth noch nicht dabei waren. Historisch diesmal deshalb, weil sich die Zusammensetzung der Disziplinen änderte. Mit diesem Erfolgsergebnis wurde die LG ESV Augsburg / TSV Neusäß übrigens erneut Bayerischer Mannschaftsmeister der Altersklassen.

Neben Kurzstreckensprinter Vogt mischen noch viele andere Seniorensportler kräftig bei Leichtathletik-Meetings mit. Einige Neusäßer Akteure wie Kugelstoßer Stipo Knez oder Manfred Wenzke gewinnen dabei in Serie die Meistertitel auf DLV-Ebene.
Hans-Wilhelm Vogt zählt zwar nicht zu den Favoriten bei bundesweiten Wettkämpfen, doch dafür hat er zahlreiche Rekorde für Mittel- und Nordschwaben in der Klasse M65 aufgestellt, bevorzugt in der Halle. Denn am 28. Januar 2006 zeigte sich Vogt erneut in Fürth blendend in Form. Gleich drei Sprintrekorde stellte er an diesem denkwürdigen Tag auf – über 60m, 100m und 200m. Seinen 200m-Hallenrekord verbesserte er im Rahmen der Senioren-Weltmeisterschaften im österreichischen Linz sogar um eine halbe Sekunde auf 32,05. Im starken Teilnehmerfeld der besten Sprinter M65 reichte es mit dieser Topzeit immerhin zu einem Mittelfeldplatz. Doch die Stadionstrecke scheint ihm besser zu liegen. Denn draußen auf der Aschenbahn legte er die selbe Distanz in 30,99 Sekunden zurück und brach damit vor zwei Jahren den von ihm selbst aufgestellten 200m-Stadion-Rekord für Mittel-und Nordschwaben. Inzwischen startet der Neusäßer Leichtathlet in der Altersklasse M70 und steht weiterhin auf den Siegerlisten. Mit vier Titeln (100m, 200m, 4x100m Staffel, Weitsprung) und zwei Vizetriumphen (Kugelstoßen und Speerwurf) gilt Vogt als erfolgreichster Teilnehmer M70 bei den letztjährigen Schwäbischen Meisterschaften. Momentan hält Vogt als Einzel- und Mannschaftssportler ungefähr ein Dutzend Altersklassenrekorde auf Bezirksebene. „Von jeher liegt mir die Kurzstrecke. Das ich ein bisschen in den technischen Disziplinen rumrühre, das ist eher...“ – „Verlegenheit“, ergänzt seine Frau Bruni, die ihren Ehemann 1955 bei einem Länderkampf in der Weitsprunggrube kennen gelernt hat. Unter dem Aspekt „Deutsche Schweine raus!“ sind sie damals in Dänemark und Schweden gestartet. Der Ursprung ihres Leichtathletikinteresses findet sich bei Frau Vogt bereits im zweiten Weltkrieg. In Donauwörth fingen Polizisten die Kinder nach der Schule ab, um sie vor den Fliegerangriffen in den Luftschutzbunker zu fliehen. Weil ihre Oma es ihr geraten hatte, rannte die Erstklässlerin los, um den Polizisten zu entkommen. Auch Hans-Wilhelm Vogt trainierte in seiner Jugend noch unkonventionell. Hürdenlaufen übte er mit Gartenstühlen, die ihn hinterrücks attackierten, wenn er sie nicht sorgfältig übersprang.

Solange die Knochen noch mitmachen, nimmt Hans-Wilhelm Vogt aktiv an Wettkämpfen teil. „Weitsprung in diesem Alter ist so gefährlich“, beginnt er seinen Satz, den Ehefrau Bruni ergänzt: „,dass die Sancars schon in der Nähe stehen.“ Wichtig ist ihm die Kameradschaft, die in Neusäß stimmt. Denn in seinem Alter existiert kein Zwang mehr, Leistung erbringen zu müssen. Dennoch läuft und läuft und siegt Vogt weiter, bis er irgendwann endgültig über die Ziellinie kommt und seine Turnschuhe an den Nagel hängt.

Name: Hans-Wilhelm Vogt
Geboren: 12. 11. 1937
Wohnort: Neusäß-Steppach
Sportart: Leichtathletik
Verein: TSV Neusäß
Größter Erfolg: in den letzten Jahren war wohl die Bayerische Mannschaftsmeisterschaft 2005 im Dreikampf mit Georg Rößle und Gerhard Reischle

Fragen an den rüstigen Leichtathleten:
- Wieso reicht es für deutsche Sprinter nicht mehr zur Weltspitze?

Vogt: Ich sehe das nicht so kritisch. Wir haben Athleten in den technischen Disziplinen Kugel, Diskus und Speer, die zur absoluten Weltspitze gehören. Das Problem mit den Sprintern ist ein zeitliches, das sich ändern kann. Es hängt viel davon ab, wie viele Mittel für den Sport zur Verfügung gestellt werden. Beispielsweise konnten wir mit den Fördergeldern für die Olympischen Spiele 1972 in Sonthofen Peter Kannenberg aufbauen.

- Wie begeistert man Kinder für Leichtathletik, wenn sie doch Fußball oder Handball spielen können – Sportarten, bei denen Deutschland vorne mitspielt?

Vogt: Der Zulauf bei uns ist hervorragend. Dienstag und Donnerstag im Stadion trainieren 50 bis 60 Kinder. Der Neusäßer Bereich ist der beste Beweis für gute Jugendarbeit. Von unserer Jugend bin ich positiv überrascht. Sie kommen immer wieder mit Schwäbischen Meistertiteln heim und sind eine tolle Truppe.
Allerdings kümmert sich die Stadt zu wenig um ihr Stadion. Die Stadträte kennen meine Richtung. Da wäre einiges zu tun. Leichtathleten kollidieren mit Fußballern und umgekehrt. Da sind die Trainingstage offenbar nicht abgestimmt. Aber besonders kritisch ist die Situation der vier Umkleiden und zwei Duschräume für all diese Spieler und Leichtathleten – auch die Mädels wollen mal duschen.

- Sie sind ein vielseitiger Leichtathlet. Welche Disziplin bestreiten Sie am liebsten, welche liegt Ihnen gar nicht?

Vogt: Von jeher liegt mir die Kurzstrecke. Das ich ein bisschen in den technischen Disziplinen rumrühre, das ist eher... Verlegenheit

- Spielt ein über 70-jähriger Sportler nicht mit dem Gedanken, aufzuhören?

Vogt: Wenn Sie mich zum Sportplatz tragen müssen, höre ich auf. In Neusäß haben wir eine Seniorentruppe, die durch dick und dünn geht – da macht’s auch Spaß! Leistung ist in diesem Alter sekundär.

- Sie arbeiten mit Behinderten. Treiben Sie auch Sport mit Ihren Schützlingen? Sehen die ein Vorbild in Hans-Wilhelm Vogt?

Hans-Wilhelm Vogt: Unser Sohn Gunter ist behindert. Daher sind wir in die Lebenshilfe eingetreten und jahrelang nicht in den Urlaub gefahren, um den Verein und das Schulhaus samt Tagesstätte in Königsbrunn aufzubauen. Wir haben uns gegen die damalige Politik und deren Motto „Behinderte sind nicht bildungsfähig!“ engagiert. Dagegen ist die Haltung der Stadt Neusäß gegenüber Behinderten dem restlichen Landkreis und der Stadt Augsburg weit voraus. Fünf mal im Jahr lädt sie Behinderte zu kostenlosen Veranstaltungen und Fahrten ein, dafür möchte ich die Stadt Neusäß an dieser Stelle wirklich loben!

Bruni Vogt: „Gunter hat im Volkshochschul-Mutter-Kind-Turnen für Behinderte, dass ich in der Halle des Maria-Theresia-Gymnasiums 30 Jahre lang aufgebaut und geleitet habe, praktisch das Laufen gelernt.
Hans-Wilhelm Vogt: Heuer macht er zum achten Mal das Behindertensportabzeichen, dass es erst seit 2008 gibt. Bei zwei sportlichen Eltern sucht er sich tagesabhängig den Trainer raus.

- Stichwort Oscar Pistorius. Warum sollte der Südafrikaner mit seinen künstlichen Beinen im olympischen Sprinterfeld starten dürfen?

Vogt: Auf Grund seiner Behinderung und der Unterschenkel-Amputation, wird er beim Start praktisch wie ein Katapult abgeschossen. So hoch ich seine Leistung im Behindertenbereich auch schätze, kann ich nicht akzeptieren, dass er im Feld der Nicht-Behinderten startet.. Er arbeitet mit Hilfsmitteln, die vom Regelwerk her nicht gestattet sind. Aber ein Mensch mit Behinderung versteht das nicht, für ihn ist das diskriminierend

Bürgerreporter:in:

Michael S. aus Neusäß

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