Hainhofen damals
Zwei Blutsbrüder gegen die Oberschwester
Damals gab es manche harte Nuß zu knacken
Das Schloß Hainhofen bildete in meiner Kindheit nicht nur den optischen Mittelpunkt unseres Viertels. Die Grünanlage in seinem Schatten war unser Treffpunkt und Spielplatz. Doch wir mußten draußen bleiben, der adlige Wohnsitz war gegen das unbefugte Eindringen schmutziger, barfüßiger Dorfkinder hermetisch abgeriegelt durch eine vermeintlich unüberwindbare hohe Mauer, die sich vom Ufer der Schmutter am Badsteg hinaufzog zum Haupteingang an der Ottmarshauser Straße, vorbei am heutigen Neuen Feuerwehrhaus, dann folgte sie der Straße weiter in südlicher Richtung als landwirtschaftlicher Trakt bis hinüber zur Kreuzung am Alten Feuerwehrhaus. Dort befand sich nochmals ein Wohngebäude fürs ehemalige Gesinde neben dem kleinen Südtor und anschließend begrenzte erneut die Mauer den riesigen Schloßgarten bis hinunter an die große Schmutterbrücke.
Das Hainhofer Schloß ist längst als Wohngebäude in Privatbesitz und diente vormals wechselnden, teilweise kuriosen Zwecken, die alle eine Gemeinsamkeit hatten: Betreten war uns Kindern stets untersagt! Für eine kurze Saison war darin das edle "Schloßcafé" beheimatet, aber noch mehr Aufmerksamkeit erregten das Gebäude bzw. seine Gäste, als in dem renovierungsbedürftigen mittelalterlichen Bauwerk ebenso renovierungsbedürftige mittelalterliche Damen in einer "Schönheitsfarm" Gurkenmasken auflegten oder gar als sich die Ordensbrüder der Tempelritter und später orange gekleidete Bhagwan-Jünger ausgerechnet das biedere Hainhofen als Ziel der spirituellen Selbstverwirklichung auserkoren hatten.
In meiner frühesten Kindheit war Baron Rolf von Humann der Hausherr des Schlosses. Den fürchtete man immer ein bißchen und wenn man heute seine Vita im Internet nachliest, scheint dieser kindliche Instinkt durchaus berechtigt. Die Frau Baronin Emilie kannte man hingegen in erster Linie aus der Pfarrkirche, wo sie in ihrer eigenen Loge hoch über dem gemeinen Volk an der Sonntagsmesse teilnahm. Immerhin erwies sie der Dorfjugend die Gnade, an frostkalten Wintertagen auf dem zugefrorenen Schloßweiher Schlittschuhfahren und Eishockey spielen zu dürfen. Aber zu allen anderen Zeiten hieß die Devise "Betreten verboten" und das traf uns besonders im Spätsommer mit voller Härte. Denn jenseits der Mauer wuchsen jede Menge Haselnußbüsche, an denen die verlockenden braunen Kerne nur darauf warteten, von geübten Kletterern wie Eichhörnchen und Drittklässlern geerntet zu werden.
Das Schloß beherbergte in den Fünfziger und beginnenden Sechziger Jahren ein Altersheim der Arbeiterwohlfahrt. Die Heimbewohner waren mittellose Leutchen, die im Zweiten Weltkrieg als Heimatvertriebene im schwäbischen Hainhofen gestrandet waren. So manche dieser Senioren kannten wir gut: da war z.B. der kleine "Herr Ludwig", der stets elegant gekleidet mit dem immer gleichen Hut und Anzug jedermann so freundlich grüßte oder die bedauernswerte Frau, die vom Knie abwärts auf eigenartigen Prothesen laufen mußte und sich auf diesen klobigen Lederstümpfen zu unserem Erstaunen so erstaunlich schnell fortbewegen konnte. Betreut wurden die "Insassen" des Altersheim von Schwestern der Wohlfahrtseinrichtung. Durch ihre eigene Jungfräulichkeit und den ständigen Umgang mit senilen Sozialempfängern, die im Heim klaglos ihrem Lebensabend entgegendämmerten, war ihnen lautes Kindergeschrei von außerhalb der Mauern ungewohnt und lästig. Die Erlaubnis, die reifen Haselnüsse auf legalem Weg pflücken zu dürfen, hätte man deshalb nie erhalten. Die unzähligen Nüsse, welche die Eichhörnchen nicht knackten oder sinnlos im Boden verbuddelten, wären herabgefallen und im nachtfeuchten Gras ungenutzt vermodert.
Wie so viele Regeln, entsprach auch dieses Verbot den Moralbegriffen einer bleiernen Nachkriegszeit. Kindern war vieles untersagt, ohne daß es einen wirklichen Grund dafür gab. Verbote waren als Selbstzweck dafür da, eingehalten und nicht um hinterfragt zu werden. Wer sie befolgte war brav, wer sie mißachtete, bekam was hinten drauf. Aber brav zu sein war langweilig! Wir kannten zwei neuralgische Punkte, um die Mauer zu überwinden. Da gab es den olivgrünen Transformatorenkasten neben dem Kastanienbaum. Der war die ideale Zwischenstation um auf die Mauer und weiter in den Sichtschutz der Haselnußbüsche zu gelangen. Noch bequemer ging es für Mutige direkt am Haupteingang. Das hölzerne Tor stand untertags immer ein Stück weit offen und gleich hinter dem kleinen Türmchen war die innere Mauer ganz niedrig und leicht zu überwinden. Dann stand man direkt unter dem Laubdach der Nußsträucher und konnte mit der Ernte beginnen, ein Auge immer wachsam auf die Fenster drüben am Hohen Schloß gerichtet. Man war ständig darauf bedacht, die Äste nicht allzu sehr zu bewegen, um die wenig wohlfährtigen Hüterinnen des Altenheims nicht auf uns Eindringlinge aufmerksam zu machen.
Doch eines Tages wäre die Falle beinahe zugeschnappt. Die Person, die wir am meisten fürchteten, war die Oberschwester, deren Namen ich trotz aller frühkindlichen Ängste vergessen habe und die das Kommando über die Seniorenresidenz führte. Reinhold war zwei Jahre älter als ich und wohnte nur zwei Häuser weiter. Mit ihm hatte ich mich spontan zu einem Beutezug aufgemacht und alles war bis dahin bestens gelaufen. Mit prallvollen Hosentaschen stiegen wir lautlos wie Eichhörchen zurück über die innere Mauer um durchs Tor hinaus zu huschen, als just im falschen Moment Oberschwester Namenlos mit dem Fahrrad zurück vom Einkaufen kam. Sie erkannte sofort unsere mißliche Lage, stellte mit ungeahnter Geschwindigkeit ihren Drahtesel quer ins Tor, um uns so mit triumphierendem Blick den einzigen Fluchtweg zu versperren. Doch auch wir beide reagierten innerhalb von Sekundenbruchteilen wortlos mit dem Urinstinkt in die Ecke gedrängter Nagetiere: Reinhold, der gut trainierte Rechtsaußen, setzte mit einem geschmeidigen Hüpfer über das Vorderrad weg und auch ich schaffte den Sprung in die Freiheit mit einem riskanten Satz über den Gepäckträger. Noch bevor sich die verblüffte Aufseherin umdrehen konnte, waren wir hinter der mächtigen Kastanie verschwunden und hielten erst inne, als wir hinter dem "Turahäusle" erleichtert und kurzatmig im Gras lagen.
Gäbe es heute noch ein Altenheim im Hainhofer Schloß, wäre sicher vieles anders. Die Oberschwester würde selbstverständlich weltoffen mit ihren Mitschwestern beim alljährlichen Maibaumfest teilnehmen und die Leiterin der KiTa würde mit ihr einen Termin vereinbaren, bei dem die Kleinen den Schloßgarten besichtigen und Pflanzen sammeln dürften. Vermutlich hielten dann einige von ihnen zum ersten Mal fragend eine Haselnuß in Händen, die sie bisher nur von den Bildern auf ihrem Nutella-Glas kannten.
Bürgerreporter:in:Helmut Weinl aus Neusäß | |
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