Hainhofen damals
WEM DER GELBE WECKER LÄUTET

Auch in der pickligen Teenagerzeit standen der gelbe Wecker und ein Grundig-Radio immer noch auf dem Nachtkästle
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Beschwerlicher Schulweg in einer unbeschwerten Zeit

Als ich vor dem Einschlafen den digitalen Wecker meines Smartphones mit all seinen Schlummerfunktionen und Klingeltönen für morgen früh aktiviere, erscheinen vor dem geistigen Auge plötzlich verschwommene Bilder aus meiner Kindheit in den 60er Jahren. Gleich am nächsten Tag will ich sie aufschreiben, um sie festzuhalten bevor sie wieder in Vergessenheit geraten und ein passendes Foto müßte doch irgendwo auf der Festplatte zu finden sein:

Draußen erwacht ein kalter Wintermorgen und es hat in den letzten zwei Tagen immer mal wieder geschneit. Der mechanische gelbe Wecker auf meinem Nachtkästchen scheppert gnadenlos bis ich endlich klein beigebe und schlaftrunken den kleinen Sperrhebel zwischen den Glocken umlege. Die Zeiger stehen auf Punkt Sechs, das Zimmer ist außerhalb der wärmenden Bettdecke frostig kalt, heizen kann man hier oben nur im Notfall mit unserem "Sputnik", das ist ein kleiner elektrisch betriebener Heizofen, ein wahrer Stromfresser, der mit seinem Propeller und seinen 2000 Watt Leistung kurzfristig warme Luft in den Raum blasen könnte. Aber in diesen Zeiten ermahnen uns Eltern und Großeltern immer noch ständig, wir sollten bloß nicht unnötig "Licht und Strom verbrennen". Der kleine Bruder schläft noch selig, der große geht schon ins Büro zum "Hauser" nach Ottmarshausen in die Lehre, muß später raus und hat sein eigenes Zimmer seit wir hier in der Schlipsheimer Straße im Haus von Oma und Opa wohnen. Um die anderen nicht zu wecken, taste ich mich leise die steile Stiege hinunter, das Badezimmer ist ebenfalls kalt, der emaillierte Badeofen wird nur mit Holz und Briketts geheizt wenn samstags das Wasser für ein Wannenbad heiß gemacht werden soll. Immerhin gibt es unter dem Waschbecken einen dieser modernen Boiler, der dreistufig temperiertes Wasser fürs Zähneputzen und die Katzenwäsche liefert. In der Küche ist es dagegen schon angenehm warm, der Vater ist bereits zur Frühschicht im Stellwerk Westheim losgeradelt und hat am Gasherd die Heizfunktion angeschaltet. Ich hole zwei Meßmer-Teebeutel aus der Anrichte und bereite eine Kanne Tee für mich und die Spätaufsteher. Wie jeden Tag schmiere ich mir mein Marmeladebrot selber und genieße zum Frühstück neben dem Heißgetränk zwei Mickymaushefte. Morgens alleine am Tisch zu sitzen hat viele Vorteile!

Ich gehe neuerdings nach Augsburg aufs Gymnasium. Letztes Jahr gab der Herr Lehrer einen Brief an die Eltern mit, in dem schulamtlich bescheinigt wurde, daß der Schüler der 4. Klasse die Voraussetzungen mitbrächte, eine höhere Lehranstalt zu besuchen. Das war Fluch und Segen gleichzeitig! Man gilt bei den Kumpels als "gscheit" wenn man in die "Stadtschule" geht, aber man ist von da an nicht mehr hundertprozentig in die Dorfgemeinschaft integriert. So richtig glücklich werde ich auf dem eingeschlagenen Weg nie, besonders Mathematik und Physik erweisen sich als ständige Stolpersteine. Immerhin teilt der Werner aus der 5. Klasse mein Schicksal und meinen neuen Schulweg. Wir werden dickste Freunde und gucken später im Emelka-Kino zusammen mit meinem Firmpatenonkel Winnetou I bis III. Um zur Schule nach Augsburg zu kommen, müssen wir mit dem Rad zum Bahnhof nach Westheim und von dort mit dem Zug weiter zum Hauptbahnhof fahren. Schulweghelfer gibts nicht, wir sind das selber, einer für den anderen. Den richtigen Weg hat man uns ein einziges Mal in den vergangenen Sommerferien gezeigt, das war's dann. Der bequemere Bahnbus hält erst in paar Jahren drunten beim Hainhofer Milchhäusle.

Es gibt zwei passende Züge, um rechtzeitig um 8 Uhr im Klassenzimmer zu sein: den "Markt Walder" von der Staudenbahn um 7.05 Uhr und den "Ulmer" wenige Minuten später. Wir benutzen unsere betagten Drahtesel und den "Wiesenweg" nach Westheim bei jedem Wetter, selbst im Winter, aber bei der Abfahrt in Hainhofen wartet keiner auf den anderen. Schon gar nicht wenn es morgens noch dunkel ist! Mal kurz eine WhatsApp senden um eine Zeit zu vereinbaren? Pustekuchen! Man fährt los und erst beim Badsteg am Schloß wird Ausschau gehalten, ob der Freund schon vor einem im Schmuttertal unterwegs ist. Sobald einer den anderen entdeckt hat, sendet man sich zur Begrüßung vereinbarte Morsezeichen mit der Fahrradlampe und der Führende wartet jetzt auf den Nachzügler. Das funktioniert perfekt und stärkt die Freundschaft. Unsere Räder stellen wir im Hinterhof des Kaufhauses Kritschker in Westheim unter. Jahrzehnte später steht dort die Pilskneipe "Zur Wurzn" und 2023 lauert hier regelmäßig das Blitzermobil auf Autofahrer mit mehr als 30 kmh auf der Tachonadel. Dann laufen wir durch die kleine Unterführung und pilgern mit vielen anderen Pendlern den schmalen Fußweg am Bahndamm entlang bis zum Bahnhof. Für Basteiheftchen mit Schundliteratur aus dem verrauchten Kiosk fehlt meist das nötige Kleingeld und so zeigen wir nur dem uniformierten Beamten im Häuschen an der Sperre brav unsere Fahrkarten, denn nur dann läßt er uns die Bahnsteige betreten.

(Mehr zum Bahnhof Westheim siehe Links zu älteren Aufsätzen in den Fußnoten)

Auch in der Ausgangshalle am Augsburger Hauptbahnhof müssen wir unsere Schülerfahrkarten erneut vorzeigen, damit wir durch die Sperre ins Freie dürfen. In der Halderstrasse gibt es vor der Schrannenhalle ein paar niedrige Ladengeschäfte und in einem davon die besten Mohrenköpfe der Welt. Die beiden düsteren Gebäude der Holbein-Oberrealschule stehen links und rechts der Hallstraße und machen einem verschüchterten Kind vom Land in den Anfangsjahren Angst und Bange. Wenigstens liegen dort keine Tatzenstecken mehr griffbereit auf dem Harmonium und der gutmütige Religionslehrer Aichele ist nicht so ein grober Watschenverteiler wie unser Hainhofer Dorfpfarrer. Der Unterricht dauert meist bis 12.45 Uhr und sogar am Samstag heißt es bis 11.20 Uhr hier auszuharren. In der großen Pause verkauft der grau bekittelte Hausmeister Brezen, Milch und teuren Schokotrunk. Wenn wir beiden Freunde gemeinsam Schluß haben, fahren wir zusammen mit dem gleichen Zug zurück. Im Sommer bummeln wir zuvor nicht ohne Hintergedanken durch die Bahnhofstraße, vorbei am legendären Eiscafé Santin. Für einen Bollen Erdbeer oder Schoko reicht es oft nicht, aber einen schüchternen Blick auf die dornröschenschöne italienische Verkäuferin mit dem ebenholzschwarzen Haar zu erhaschen lohnt jeden Umweg. Da sind wir uns blutsbrüderlich einig!

Unser Bähnle zurück steht meistens auf Gleis 1. Die ausgebleichten Vorhänge am Abteilfenster und die klobigen Aschenbecher darunter stinken penetrant nach kaltem Rauch. Durch die Scheiben beobachten wir vor der Abfahrt oft voller Bewunderung die blauen und gelben Elektrokarren von Bahn und Post, die auf den Bahnsteigen reihenweise scheppernde Anhänger hinter sich herziehen, voll beladen mit Stückgut aus den Gepäckwagen. Sie schaffen es, auf engstem Raum zu wenden und die Wägelchen folgen dem Fahrzeug wie an der Schnur gezogen. Für ein bis zwei Jahre ist unser Traumberuf nicht Polizist oder Feuerwehrmann, sondern der Fahrer eines solchen elektrischen Gepäckkarrens zu sein. Ich wurde zwar eines Tages Eisenbahner, aber trotzdem blieb unser sehnlichster Wunsch für immer unerfüllt, wenigstens einmal so einen kleinen Schlepper fahren zu dürfen, um am nördlichen Ende des Bahnsteigs im den dunklen Schlund dieses verbotenen Tunnel zu verschwinden und zu erleben, welch geheimnisvolles Labyrinth sich dort unten verbirgt.

Wenn ich daheim ankomme, ist oft niemand zuhause. Das ist das Allerbeste! Mutti geht an manchen Tagen auch in die Arbeit und Papi hat Schicht oder holt tagsüber seinen Schlaf nach. Das Essen steht in einem Tiegel zum Aufwärmen auf dem Gasherd. Krautwickel mit einer dicken Soße aus der Bassermann-Konserve. Ich liebe solche Tage! Salzkartoffeln in die warme Pampe drücken, dazu wieder 2 bis 3 Micky-Maus-Hefte verschlingen, Onkel Dagobert kann sich nicht reicher fühlen! Das Thema "Hausaufgaben" wird im Zeitraffer abgearbeitet, schließlich warten die Kumpels längst irgendwo. Wenn Schnee liegt, fällt die Entscheidung leicht. Die Keilhose, den Anorak und die Bommelmütze angezogen, die vom großen Bruder weitervererbten Holzbretter geschultert und losmarschiert zu einem der Hainhofer Skiparadiese. Heuer trifft man sich meistens beim "Weinberg", dahin ist es nicht weit und ein paar Jungs und auch Mädels sind immer da. Das ist prima, denn auf dem blöden Knaben-Gymnasium leben wir quasi im Zölibat. Und das trotz der ersten Nebenwirkungen der beginnenden Pubertät! Wenn der boshafte Bauer nicht wieder mal hinterhältig Mist auf unsere Ski- und Rodelpiste gestreut hat, stellen wir unsere Skistöcke als Slalomstangen auf oder bauen mühselig eine Schanze, auf der Rekordweiten bis zu 3 Metern im freien Stil erreicht werden. Erst bei Einbruch der Dunkelheit geht's nach Hause. Die groben Bändel meiner Skischuhe sind nicht selten mit beinharten Eisklümpchen zusammengefroren und die steifen Finger verfärben sich dunkelrot, bis man sich endlich schmerzhaft aus dem Schuhwerk und der Bindungsschnalle befreit hat.

Zum Abendessen gibt es heute "Butter und Kartoffeln". Das kommt immer wieder mal auf den Tisch und hat vor allem in den bäuerlichen Küchen eine lange Tradition. Das übersichtliche Fastfood-Menu besteht aus dampfend heißen Pellkartoffeln mit frischer Butter von der Augsburger CEMA. Die Eltern essen gerne auch einen stinkenden Romadur dazu, aber bis ich Käse mag sollen noch viele Jahre vergehen. Wenn kein CHABESO im Haus ist (und das ist oft der Fall), mixen wir uns selbst eine hausgemachte Limonade. Dazu kippen wir in ein Glas Wasser ein paar Löffel Zucker, spritzen aus einem gelben, dickbäuchigen Plastikfläschen einen kräftigen Schuß künstlichen Zitronensaft hinein und rühren minutenlang mit einem großen Löffel um, bis sich der hartnäckige Zucker endlich in der kalten Flüßigkeit aufgelöst hat. 

Nach dem Essen dürfen wir zwischen 18 und 19 Uhr fernsehen. Der SABA vom Fernseh-Mayr steht jetzt im nagelneuen Wohnzimmer, das von einem Ölofen beheizt wird und dadurch zur besten Sendezeit wohlig warm ist. Das Heizöl muß man mit einer Plastikkanne aus einem großen Tank draußen in der Wellblechgarage abzapfen. Beim Einfüllen in den Ofen muß man sehr sorgfältig vorgehen, denn wenn man etwas verschüttet, riecht der ganze Raum unangenehm nach Diesel. Für den entspannten Fernsehgenuß gibt es zwei blaue Sessel und eine Eckcouch, aber ich lege mich vorzugsweise mit einem dicken Kissen mitten auf den Teppich direkt vor die Flimmerkiste. Das ist saubequem und außerdem habe ich eine unbehandelte Sehschwäche. Heute gibt es eine brandneue Folge von "Funkstreife Isar 12" und schon der Vorspann mit Blaulicht und Martinshorn versetzt uns in Ekstase. Am späteren Abend dürfen wir nur samstags die Quizshows mit Kulenkampff oder Peter Frankenfeld gucken, oder wenn ein eigenartig gekleideter Mann namens Werner Schwier die Sendung "Es darf gelacht werden" ankündigt. Dann erwarten uns die heißgeliebten ruckelnden Filme aus der Klamottenkiste mit unseren Lieblingen Dick & Doof, Charlie Chaplin und all den anderen. Daß die lustigen Streifen schwarzweiß sind stört niemand, denn das sind alle anderen Sendungen auch.

Ich höre aber auch leidenschaftlich gerne Musik im Radio und kenne seit ich Zehn bin sämtliche deutsche Schlager in- und auswendig. Am Freitagabend um 18 Uhr bringen sie im Bayrischen Rundfunk die "Schlager der Woche", das ist so eine Art Hitparade und ich bin jedesmal gespannt, ob es eines meiner Lieblingslieder auf Platz 1 geschafft hat. Wenn die zuckersüsse Schwedin Siw Malmkvist ihr "Liebeskummer lohnt sich nicht" trällert, gerät das junge Blut gehörig in Wallung, obwohl der erste eigene Herzschmerz noch einige Zeit entfernt ist. Doch vorher trifft mich noch ein völlig neuer musikalischer Blitz mit voller Wucht aus heiterem Himmel, als ich eines Tages zum ersten Mal sogenannte "Beatmusik" höre. Vier Jungs aus London mit eigenartigem Haarschnitt singen nicht brav ihr Lieder, nein, sie gröhlen zum rauhen Sound ihrer Gitarren und zum harten Beat des Schlagzeugs "Shake it up, baby now, Twist and Shout". Gottseidank steht auf meinem Nachtkästle auch mein eigener Radioapparat, eines dieser riesigen Röhrengeräte mit ebenso riesigen Drucktasten und dem grünen magischen Auge für die Feinabstimmung, welches aussieht wie das Röhrchen einer Wasserwaage. Stundenlang sitze ich von nun an abends auf der Bettkante, drehe an dem großen Rad für die Sendersuche und durchforste den Äther auf sämtlichen Mittel- und Langwellen bis sich zwischen all dem sphärischen Rauschen die Frequenzen von Radio Luxemburg oder Radio Saarland herausfiltern lassen. Nur dort empfange ich, oft nur für einen viel zu kurzen Moment, diese atemberaubenden neuen Klänge aus England oder den USA, während drunten gerade ein gewisser Fred Rauch in seinem biederen Wunschkonzert den Trompeter Nini Rosso mit dem schmalzigen Zapfenstreich "Il silenzio" ankündigt.

Heute brauche ich meinen gelben Wecker nicht zu stellen, denn morgen ist katholischer Feiertag und das ist doppelt gut. Ich muß erstens nicht zur Schule und seit ich auf dem Gymnasium bin, muß ich zweitens auch nicht mehr bußfertig zur Heiligen Messe in unsere kalte unfreundliche Dorfkirche gehen. Der Klerus hat für alle Zeiten seine Macht über mich verloren. Morgen früh kann ich sorglos im kuschlig warmen Bett bleiben und schon vor dem Aufstehen ein paar Micky Maus oder Fix & Foxi lesen. Aber jetzt schließe ich erstmal die Augen und träume davon, daß die kahlen Wände neben meinem Bett bald bis zur Decke tapeziert sein werden mit lebensgroßen Bravo-Starschnitten und bunten Postern meiner neuen Halbgötter wie den Kinks, den Lords oder den Troggs. Und Tag für Tag und Nacht für Nacht werden meine Haare ein Stückchen länger wachsen. Ganz lautlos, Millimeter für Millimeter. Einen Frisör- und Beichtstuhl werde ich für ganz lange Zeit nicht mehr benutzen ...

Hier noch je zwei ältere Aufsätze zum Schulweg und  zur musikalischen Spätentwicklung

Beitrag: Westheim ab 7.05 Uhr
Beitrag: Showdown am Bahndamm

Beitrag: Die Musikbox im Gasthof
Beitrag: Schuld war nicht der Bossa Nova

Bürgerreporter:in:

Helmut Weinl aus Neusäß

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