myheimat Westheim
Gedankenblitze an der Ampel

Hinter dem ampelgesicherten Fußgängerüberweg erkennt man die halbrunde Front des Wohnhauses, in dem einstmals das Schuhgeschäft der Familie Liepert seinen Sitz hatte. Dahinter die Baustelle in der ehemaligen Nudelfabrik.
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  • Hinter dem ampelgesicherten Fußgängerüberweg erkennt man die halbrunde Front des Wohnhauses, in dem einstmals das Schuhgeschäft der Familie Liepert seinen Sitz hatte. Dahinter die Baustelle in der ehemaligen Nudelfabrik.
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EIN BLICK IN DEN RÜCKSPIEGEL

Um die Schulwege in Westheim für alle Grundschüler noch sicherer zu machen, wurde in der von-Rehlingen-Straße eine neue Fußgängerampel installiert. Wenn man dort bei Rotlicht zum Stehen kommt, fällt der Blick unweigerlich auf das halbrunde Wohnhaus dahinter, welches bei älteren Menschen sofort Gedanken an die eigene Kindheit erweckt, als dort ein ganz besonderer Laden untergebracht war, welchen man nur sehr selten betrat. Als ich heute hier entlang fahre, nehme ich mir vor, zuhause noch einmal meinen kleinen Aufsatz durchzulesen, der sich um eben diesen Ort dreht:

DER FEUERSALAMANDER IM SCHUHLADEN

In die Nachbarorte verirrte man sich als Hainhofer Dorfkind nur wenn es unbedingt sein mußte, denn die dort ansässigen Rabauken war einem meist feindlich gesinnt und verhielten sich Eindringlingen gegenüber äußerst aggressiv. Nach Schlipsheim verschlug es uns nur, wenn beim "Haller Simmerl" ein Fahrrad zu reparieren war oder wenn man genügend Taschengeld für einen Ritt auf Winterhalders bockigen Eseln gespart hatte. Ottmarshausen galt als extrem heißes Pflaster, denn dort drohten einem ein rustikaler Haarschnitt vom Frisör Gröner oder ein paar Kopfnüsse der rauflustigen Lorenz-Brüder. Westheim hingegen war immer schon die große Ausnahme im kleinen Grenzverkehr. Dort gab es mit dem Bahnhof die einzige Möglichkeit um ohne Auto in die Stadt zu kommen, hier hatten sich feine Restaurants und Cafés angesiedelt, in Westheim hatte die weithin bekannte PERLACH-Eiernudelfabrik ihren Firmensitz und nebenan am Bahndamm gab es sogar ein richtiges kleines Kaufhaus mit großen Schaufenstern.

Betrachten wir als Vergleich zu dem aktuellen Ampel-Foto zunächst das Dia aus den Sechziger Jahren. Die vier Jungs im Sonntagsstaat sind Teil einer Hochzeitsgesellschaft, die im ehemaligen Restaurant Merk feierte, was sich eine Familie mit normalem Einkommen nur zu wenigen besonderen Anlässen leisten konnte. Als noch exklusiver als dieses Lokal galt damals nur das renommierte Café Heider droben auf dem Westheimer Kobelhang. Im Hintergrund erkennt man etwas unscharf die bekannte Perlach-Eiernudelfabrik, wo derzeit neue Wohnungen entstehen.  Direkt unterhalb der Firma sehen wir die markante halbrunde Fassade des ehemaligen Schuhwarengeschäfts von Wilhelm Liepert.

Wenn man ein „neues Gwand“ brauchte, war dessen Kauf zu allen Zeiten kein Vergnügen für uns Kinder. Das nadelpieksende Maßnehmen empfand man als die reinste Tortur, die man allerdings nicht oft erdulden mußte, denn neue Kleidung, selbst genäht oder gekauft, gab es nur zu klassischen Ehrentagen wie Einschulung und Erstkommunion. Ansonsten wurden Löcher in den Hosen vom Vater mit Hausarrest bestraft und von der Mutter in Heimarbeit gestopft. Funktionsfähige Kleidungsstücke wurden traditionell und allen modischen Trends zum Trotz innerhalb der Familie zum "Auftragen" an die nächst kleinere wehrlose Orgelpfeife weitergegeben.

Eine Ausnahme bildete dabei das Schuhwerk. Die Ausstattung eines zwölfjährigen männlichen Familienmitglieds war sehr überschaubar. Da gab es für die warme Jahreszeit die unvermeidlichen Sandalen nach Pfarrer Kneipp und für feuchte, kalte Tage den festen Halbschuh oder den Schnürstiefel. Schuhe konnte die Mutter gottseidank nicht selber stricken und anders als die viel zu großen aufgetragenen Pullover oder die viel zu kurzen Hochwasserhosen, sollten die Schuhe wenigstens einigermaßen passen. Gekauft wurden ein neues Paar beim „Liepert“ in Westheim. Dorthin ging man auch als Kind nicht ungern mit. Beim Betreten des Ladens läutete ein helles Glöckchen und wenn man dann staunend in dem kleinen Verkaufsraum stand, in dem sich die Schuhkartons bis unter die Decke stapelten, umfing einen dieser unvergleichlich betörende Duft von gegerbtem Leder. Daß es in einem Raum so gut roch, war man weder von der winzigen Stube zuhause gewohnt, in der ein bullernder Kanonenofen ungefiltert seinen Dienst tat, noch vom miefenden Klassenzimmer der Unterklasse, wo 52 feuchte Käsefüsse unter den Schulbänken dampften. Neben den von Meister Liepert zwiefachgenähten Maßschuhen stand in den Regalen auch zugekaufte schwäbische Ware aus der nahen Schuhfabrik August Wessels in Augsburg und zunehmend erweiterten sogar so klangvolle Marken wie Romika und Salamander das Angebot.

Beim Namen „Salamander“ glänzten die Augen der kleinen Kunden nicht nur wegen der neuen Schuhe, sondern vor allem wegen „Lurchi“. Die schwarzgelbe gestiefelte Amphibie mit dem grünen Hütchen war das Markenlogo dieses Herstellers, der zu Beginn gar keine Kinderschuhe produzierte, aber um die quengelnden Kleinen bei Laune und die Erwachsenen somit länger im Laden zu halten, hatte man voller List das kostenlose „Lurchi-Heft“ erfunden. Darin zu blättern beschäftigte den Nachwuchs wie heute das Starren aufs Smartphone und die Eltern konnten in aller Ruhe ein Paar Schuhe nach dem anderen anprobieren. Der erste Band mit den Abenteuern des Feuersalamanders und seinen Freunden wie dem Frosch Hopps und dem Zwerg Piping erschien bereits 1937, aber erst nach 1950 begann die wahre Erfolgsgeschichte der Lurchi-Hefte. Anders als die zeitgleich in Mode gekommenen Comicstrips aus den USA wie Micky Maus, wurden diese Bildergeschichten aus deutschen Landen von den Erziehungsberechtigten nicht kritisch beäugt oder gar als Schund verboten. Das mag daran gelegen haben, daß sie als Werbeartikel gratis über den Ladentisch gingen, aber man sprach ihnen durchaus auch einen gewissen pädagogischen Nutzen zu. Die biederen Texte waren in Reimform gestaltet, was die ABC-Schützen zum Auswendiglernen animierte. Obendrein wurden die Heftchen damals in lateinischer Schreibschrift gedruckt und das überzeugte selbst den konservativsten Lehrkörper von derem didaktischen Wert. Neben aufregenden Abenteuern erfuhren die jungen Leser eine Menge über fremde Länder oder den noch unerforschten Weltraum. Im Lauf der Jahre mutierte Lurchi zu einem wahren Kultobjekt, neben den Heften kamen u.a. Büchlein im Pixi-Format, Malbücher und Kassetten mit Hörspielen auf den Markt, die von Sammlern begeistert gesucht und gehortet wurden.

Eines dieser grünen dünnen „Heftla“ geschenkt zu bekommen, war das schönste Erlebnis für die kleinsten Kunden beim Schuhkauf. Aber es gab noch andere begehrenswerte Dinge in Wilhelm Lieperts Laden, nämlich diese polierten runden Blechdosen mit dem roten Froschkönig der Firma Erdal auf dem Deckel oder die Nigrin Schuhkreme mit dem schwarzen Kaminkehrer als Markenzeichen. War deren Inhalt aufgebraucht, konnte man die leeren Dosen prima mit Sand füllen und als Puck beim Eishockey auf dem zugefrorenen Schloßweiher benutzen.

Die Lurchi-Hefte gibt es bis zum heutigen Tag auch als Sammelbände zu kaufen, der Westheimer Schuhmachermeister Liepert hat sein gutriechendes Ladengeschäft im Jahr 1973 jedoch für immer geschlossen.

Bürgerreporter:in:

Helmut Weinl aus Neusäß

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