Bevor der Sommer zu Ende geht: Ein Sommerabend auf dem Lande. Teil 1.
Wieder eine Jugenderinnerung aus den 90-ern:
In den letzten Augusttagen des Jahres 1997
Erläuterungen einiger Begriffe und Personen:
"Thomas Prandtner": Chefredakteur, Herausgeber und Verleger einer Regionalzeitung, bei der der Autor zum Zeitpunkt der Handlung des Buches angestellt war.
"Drescher": Mitarbeiter einer inzwischen nicht mehr existenten kleinen Wiener Fotoagentur, für die der Autor mal eine Zeitlang Aufträge übernahm.
"Katharina Bernstein": Freundin des Autors aus seiner Zeit in Deutschland.
"Magda Burgstaller": Freundin des Autors aus seiner Zeit in Retz.
"Mag. Johannes Prem", Spitzname "Prem-Jonny": Lehrer für Geschichte und Mathematik sowie Administrator an der Handelsakademie Retz, welcher nebenberuflich einen kleinen Computerhandel betreibt.
Gollitsch: Kleiner, fast halbkugelförmiger Hügel am Stadtrand von Retz.
"Mag. Rupert Dinkel", Spitzname "Schwarzer Blitz": Sportlehrer an der Handelsakademie Retz, bei dem auch der Autor Unterricht hatte.
Weltladen: Gemeinsamer Name für etwa 70 österreichische Dritte-Welt-Läden, die sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen haben und unter gemeinsamen Namen und Logo auftreten. Der Autor war mal eine Zeitlang im Retzer Mitgliedsbetrieb der Arbeitsgemeinschaft tätig sowie in seiner Trägerorganisation namens EFEU-Verein (Name setzt sich zusammen aus den vier Anfangsbuchstaben der Hauptleitlinien des Vereines, welche lauten: Entwicklung, Frieden, Eigenständigkeit und Umwelt).
Dieser Abend lag direkt vor einer einwöchigen Reise in meine ehemalige Stadt in Deutschland.
Kapitel 1.: In der Druckerei Hoffmann
Der gewohnte Maschinenlärm drang aus der Druckerei Hoffmann in die Brunngasse hinaus, als ich vorbei an ihren hohen, gitterartigen Fenstern auf ihren Eingang zusteuerte. Im Vorbeigehen sah ich unwillkürlich auf das lange Fassadenelement über den Fenstern. Wie gewohnt zog sich auf ihm der in alten, deutschen Lettern gepinselte Firmenschriftzug "Druckerei Karl Lederer" entlang. Erst auf den zweiten Blick entdeckte man danach am Beginn der Schrift das ganz klein geschriebene "vormals". Wieder einmal rätselte ich bei dem Anblick darüber, wozu einst die regelmäßigen, schlitzförmigen Maueröffnungen oberhalb des Fassadenelementes gedient haben könnten.
Vorsichtig öffnete ich das bereits etwas schief hängende und stets leise knarrende Holztor. Wie immer wirkte es auf mich irgendwie barock im Vergleich zu den grünen Aluminiumtüren der benachbarten Eisenwarenhandlung Steffl, die immer so entsetzlich laut knallten, selbst wenn man sie vorsichtig schloss.
Der kleine Vorraum tat sich auf, in dem unzählige Stapel von Papiervorräten aller Art lagerten.
Ich überschritt die Schwelle zur Druckhalle rechterhand. Vier Jahre ist es nun schon wieder her, seit Thomas seine regionale Wochenzeitung gründete und ich für ihn zu arbeiten begann, ging es mir in dem Augenblick durch den Sinn.
"Grüß Gott!" rief ich in den leeren Raum hinein.
Herr Hoffmann tauchte hinter einer Maschine auf. "Wollen Sie zum Thomas? Warten Sie, ich hole ihn."
Er verschwand hinter der Tür zum Computerraum, sagte irgendetwas, kam wieder zurück und teilte mir mit: "Er kommt gleich. Er erledigt nur noch schnell was am Computer."
Die Rotationsmaschine direkt neben mir spuckte gerade die Titelblätter unserer Zeitung aus. Die Schlagzeile darauf kündigte meine Story auf Seite Drei über das "Kulturfestival im Weinviertel" an. "Vier-Farben-Druck", erklärte Herr Hoffmann. "Die einzelnen Farbplatten werden übereinandergelegt." In rasendem Tempo stapelte die Maschine immer neue, halbseitig bedruckte Titelblätter. Sie erzeugte dabei Geräusche wie in einer Fabrik. Der Geruch frischer Druckerfarbe verbreitete sich in der Luft.
Ein Lehrling kam hinzu, unterbrach das unaufhörliche Rattern, entnahm einen Stapel ausgedruckter Blätter und legte neue Seiten nach. Sie hatten den Produktionsprozess erst zur Hälfte durchlaufen. Das kirschrote Logo der Zeitung erschien noch in einem trüben Gelbgrau. Herr Hoffmann entnahm ein Blatt, überprüfte die Qualität, legte es zurück und stellte die Maschine wieder an. Im Vorraum begannen in diesem Augenblick Mitarbeiter, fertig ausgedruckte Blätter maschinell zu falten. Ein Kunde erschien. Frau Hoffmann, die unbemerkt hinzugetreten war, bat ihn in das kleine Büro neben dem Eingang.
Die Tür zum Computerraum öffnete sich zum zweiten Mal. Thomas kam zum Vorschein. "Servas! Was macht mein Mann vor Ort?" Wie immer versuchte er lässig zu wirken, um über Schwächen und Unsicherheiten hinwegzutäuschen.
"Dem geht es gut. Ich bringe Dir ein paar Bilder, die schon für die übernächste Ausgabe bestimmt sind. Eine Liste mit den Erklärungen, was was ist, liegt mit drin."
Ich übergab ihm den Briefumschlag, den ich in den Händen hielt. Er öffnete ihn und sah sich flüchtig den Inhalt an.
"Die Fotos von der ÖVP-Delegation aus St. Pölten, gibt's die schon?" fragte er während des Blätterns.
"Sind dabei", antwortete ich.
Ich beschloss, ihn über den eigentlichen Grund meines Kommens zu unterrichteten. "Der Grund, warum ich Dir die Sachen heute schon bringe, ist der, weil ich mich für eine Woche abmelden möchte. Von meiner Deutschlandreise habe ich dir ja schon erzählt."
"Du hast fast schon so ein umfangreiches Reiseprogramm wie ein Politiker", kommentierte er meine Ankündigung ironisch. "Da fällt mir gerade ein: Was haben sie in der Agentur in Wien eigentlich zu deinen New-York-Bildern gesagt?"
"Ich denke, sie waren zufrieden. Drescher äußerte sich am Telefon jedenfalls sehr positiv."
"Wenn Du weiter so erfolgreich bist, werde ich mich hier in Retz bald nach jemand Anderem umsehen müssen", kommentierte er meine knappe Antwort wahrscheinlich nur halb ironisch und zur anderen Hälfte im Ernst.
"Um ganz ehrlich zu sein: Es war im Grunde eine Gefälligkeit mir gegenüber, dass ich den Auftrag zugeschanzt bekommen habe. Einfach damit ich sowas schon mal gemacht habe. Das Honorar bestand daher auch in den Reisespesen. Also, der große Karrieresprung war es noch lange nicht", entkräftete ich seine Befürchtung.
Weitere Unterredungen bezüglich der nächsten Ausgabe folgten.
Kapitel 2.: Die Grenze in den Köpfen
Ich befand mich schon wieder auf dem Weg nach draußen, als Thomas zu Herrn Hoffmann über mich äußerte: "Einen recht guten Kommentar hat er wieder geschrieben. Diesmal über die Zusammenarbeit zwischen unserer Gegend und der tschechischen Grenzregion." Und an mich gerichtet: "Lies ihn mal vor! Hol dir da vorn ein fertiges Blatt."
Herr Hoffmann: "Nein, ich halte kurz die Maschinen an und nehme ein Blatt raus. Die da vorn sind abgezählt." Er lief zu der Maschine, die an der Computerraumwand der Maschine, die die Titelblätter druckte, genau gegenüberstand. Dort betätigte er ein paar Knöpfe und Hebel. Schlagartig sank der Lärmpegel im Raum spürbar. Dann öffnete er eine Art Schutzklappe, entnahm ein druckfrisches Blatt und übergab es mir. Ich fand meinen Beitrag an der äußeren rechten Seite des Bogens. In der üblichen Spalte mit dem Wort "Kommentar" ganz oben. Gleich darunter war wie immer mein Passfoto und wieder darunter mein Name. Ich begann zu lesen.
"Die kürzlich in Retz mit Chören aus dem niederösterreichischen und mährischen Raum abgehaltene 1997-er-Veranstaltung des jährlich stattfindenden, grenzüberschreitenden Musikfestivals 'Musica Sacra' (siehe auch Artikel auf der vorhergehenden Seite) stimmt etwas optimistisch. Es existiert in der Gegend hier also noch ein Stück Aufbruchsstimmung für gemeinsames Handeln über die Staatsgrenze hinweg, welche in der Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Region um Retz diesseits der Grenze und die benachbarte Region um Znaim jenseits der Grenze erfasst hatte. Oberflächlich betrachtet könnte man nämlich meinen, dass acht Jahre später nur noch der Import billiger tschechischer Arbeitskräfte nach Österreich und der Abfluss österreichischer Kaufkraft in das Billig-Preis-Paradies Tschechien übrig geblieben sind. Man könnte den Eindruck gewinnen: Am Anfang freute man sich ehrlich über die Grenzöffnung, aber inzwischen macht jede der beiden Regionen wieder 'ihren Stiefel' und kümmert sich nicht um das, was jenseits der Grenze ist. So wie es 45 Jahre zuvor der Fall war.
Die wichtigsten Bollwerke dagegen, das dieser Zustand einmal tatsächlich eintritt, sind zurzeit wahrscheinlich die beiden bikulturell geführten Schulen in Retz, die Handelsakademie und die Hotelfachschule. Jedoch wäre es ein Sich-aus-der-Verantwortung-Stehlen, würde man diese Aufgabe bereits jetzt stillschweigend auf die nächste Generation übertragen.
Selbstverständlich sind auch neben diesen Schulen noch einige weitere Initiativen übrig geblieben aus der Zeit der Grenzöffnung bzw. seitdem einige neu entstanden, welche sich ebenfalls redlich bemühen, etwas Grenzüberschreitendes auf die Beine zu stellen. Die meisten von ihnen haben jedoch folgendes Problem: Sie kommen einfach nicht aus den Startlöchern heraus. Sie haben heute, sieben Jahre nach Öffnung der Grenzen, noch immer den gleichen feierlichen Charakter eines ersten offiziellen Kontaktes. Sie haben nach wie vor den Charakter einer sehr verkrampften, multikulturellen Sonntagsveranstaltung, auf der Küsse ausgetauscht werden nach dem Motto: Habt die Ausländer lieb! Jedoch sollte diese Multikulturalität nur eine Zwischenstufe sein, die irgendwann einmal in einem Zustand der Normalität mündet. Šatov, Havraniky und Znaim sollten als so normale Nachbarorte von Retz wahrgenommen werden wie etwa Mitterretzbach, Zellerndorf oder Pleißing. Ohne deshalb jetzt etwa für die Einebnung bestehender kultureller Unterschiede plädieren zu wollen. Zwischen den einzelnen Regionen unseres Bundeslandes gibt es ja auch kulturelle Unterschiede, und trotzdem hat man zu diesen Regionen ein völlig normales nachbarschaftliches Verhältnis. Es leuchtet einem daher nicht ein, warum genau das nicht auch ein paar Kilometer über eine Staatsgrenze hinweg funktionieren soll. Beispiele dafür, wie es auch sein könnte, gibt es genug in Europa. Man denke dabei nur einmal an die deutsch-französische Grenze. Deutsche und Franzosen waren fast 1.000 Jahre lang erbitterte Todfeinde, die sich immer wieder gegenseitig an die Kehle sprangen. Heute herrscht an jener Grenze eine Form von Symbiose, die wahrscheinlich weltweit ihresgleichen sucht. Und meiner Einschätzung nach besteht eine realistische Chance, entlang der Außengrenzen Österreichs zu den ehemals sozialistischen Nachbarländern Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien eine zweite 'deutsch-französische Grenze' in Europa zu errichten. Genutzt wurde diese Möglichkeit bisher jedoch kaum.
Die Burgen auf beiden Seiten der Thaya erinnern daran, vor wie langer Zeit es an dieser Grenze schon politische Konflikte gab. Angesichts dieser Tatsache sollten wir doch endlich a l l e einmal anfangen, darüber nachzudenken, welche einmalige historische Chance jetzt vorliegt. Überlassen wir das wie bisher einigen Idealisten, laufen wir Gefahr, diese Chance wieder einmal zu verspielen."
"Da werden zwar einige Leute angefressen sein, aber ich finde, das gehört eh mal gesagt", stimmte Herr Hoffmann meinen Aussagen zu.
Kapitel 3.: Feierabend im Viertel
Die Glocken der Dominikanerkirche läuteten das Ende eines Tages ein, als ich wieder das Holztor zur Straße aufschob und den Fußweg betrat.
Draußen liefen eine Menge Leute umher. Firma Steffl bekam wieder eine Heizöllieferung mit dem Mercedes-Tank-Lkw. Arbeiter mit Baseballcaps legten gerade einen Schlauch daran an. Einer von ihnen war aufs Auto geklettert und öffnete die Luke. Das andere Ende des Schlauchs wurde an die Zapfsäule angeschlossen, die sich in der kleinen Kammer gleich neben dem Eingang ebenfalls hinter einer Metalltür befand. Kurz darauf begann die Pumpe zu brummen. Neben dem Auto waren Angestellte des Hauses bereits damit beschäftigt, die Schautafeln mit den Fließenmustern und die Drahtcontainer mit Grillkohle und Saatgut auf dem Fußweg reinzuräumen.
In das Motorengeräusch mischten sich plötzlich entfernt klingende Trompetentöne. Ich umging den Öltransporter auf der Straße, um zu ermitteln, woher sie kamen. Ein paar Meter weiter, wo die Brunngasse, die gegenüber beginnende Klostergasse und die horizontal laufende Kremserstraße einen Schnittpunkt bildeten, entdeckte ich schließlich die Quelle. Das "Vinzenz Liebl" veranstaltete wieder einmal einen Jazz-Abend. Eine Gruppe Musiker stand auf der Straße und probte noch ein letztes Mal.
Sie unterbrachen ihr Spiel begaben sich auf den Fußweg, als ein sperriges Containerauto auftauchte. Am Seiteneingang des Modehauses Gründler, wo sich das Büro der Heinrich-Versicherungen befand, hielt es kurz an. Danach manövrierte es sich dann aus der Klostergasse nach rechts um die Ecke in die Kremserstraße. Stück für Stück ließ es den Schriftzug "Gegründet 1883" an der Vorderfront des Modehauses verschwinden. Ein kleiner Stau baute sich hinter ihm auf. Zuerst standen nur zwei Autos vor dem ehemaligen Obstgeschäft Säher, das auf der Modehaus-Straßenseite gleich nach der Klostergassenabzweigung kam. Dann reichte die Schlange bis vor die Trafik ein Haus weiter. Dann bis vor den Bauernladen. Zwei der dort verkaufenden Bäuerinnen räumten gerade die Trachtenpuppe aus Stroh vor der Tür hinein.
Immer neue Autos kamen von der rechten Seite der Kremserstraße vom dahinter liegenden Hauptplatz hinzu. Das über den Platz hinweg gelegene gigantische Verderberhaus geriet in Sicht. Seine venezianische Fassade lag gerade in orangelichem Abendlicht.
Das Containerauto hatte sein Fahrmanöver schließlich bewältigt. Es passierte das Eckhaus der Katholischen Frauenbewegungs-Vorsitzenden Friederike Koran. Anschließend fuhr es am Kremsertor/Nalbertor vorbei und war aus dem Blickfeld verschwunden.
Vor der Eisenpforte am Bogen des ehemaligen Stadttores mit den zwei Namen stand bereits eine Gruppe Jugendlicher. Sie wartete darauf, in die Disko hineingelassen zu werden, deren Haupteingang im Tor lag. Auf der Dachplattform des Tores wurden in dem Moment gerade die dort wild wachsenden jungen Bäume von einem leichten Windstoß bewegt.
Ich machte kehrt, um wieder nach Hause zu gehen. Der Öltransporter war inzwischen verschwunden, mit ihm die Leute, die an ihm gearbeitet hatten. Der Fußweg war wieder begehbar.
Im Viertel war die Feierabendroutine ausgebrochen. Auf dem Schloßplatz ging wie an jedem Abend bereits der Postler auf und ab. Er wartete auf den Bus, in dem die Post aus den umliegenden Dörfern gebracht wurde. Einige seiner Kollegen verluden inzwischen vor der Torfahrt des Postgebäudes neben der Druckerei Pakete in einen Kleinbus. Wieder ein anderer Postler verließ die Einfahrt mit einem der nicht mehr ganz neuen Dienstmopeds, die allesamt sehr laute Geräusche fabrizierten.
Beim Blick geradeaus in Richtung Schloßplatz fiel mir wieder einmal das Farbspiel der Häuser dort auf. Hellolivgrün das Haus von Konditormeister Wiklicky. Dunkelrosa unser altes Haus. Gelb die Vorderansicht des Schloßgasthaus. Momentan bildeten außerdem noch der tiefblaue Himmel über der Vorderfront des Schloßgasthauses und das Theresiengelb auf der Vorderfront einen Komplementärkontrast. Ein Angestellter vom Küchenpersonal ging gerade aus der Richtung des Kellers kommend ums Gasthaus herum. In den Händen hielt er irgendeine Kiste.
Vom Gasthaus aus geriet mir die natursteinfarbene und teilweise glimmerbewachsene Fassade des Schlosses Gatterburg ein Stück hinter dem Gasthaus ins Blickfeld. Von meinem Standort aus war es gerade zur Hälfte von der Baumreihe davor verdeckt. Wie immer zeigte seine Turmuhr Dreiviertel Zwölf, was sie schon seit urewigen Zeiten tat. Das Schloss schien sich fast hinter dem Platz als solchen zu verstecken, obwohl es ihm als Namensgeber diente, dachte ich bei seinem Anblick wieder einmal. Auf den ersten Blick glaubte man gar nicht, dass das Gasthaus ein Teil des Schlosses war.
Unser ehemaliges Haus geriet mir wieder ins Blickfeld. Ich erinnerte mich kurz an unseren Einzug 1992 in das alte Weinbauernhaus und unseren mietvertragsendbedingten Auszug zu Beginn der Sommerferien dieses Jahres.
Ein kleiner Windstoß kam auf, als mir all dies während des Laufens nebenbei von selbst durch den Kopf ging. Er trieb ein abgerissenes Stück von einem "profil"-Werbeplakat ein paar Meter den Fußweg in Richtung Schloßplatz hinab.
Ich kam am Ende der Brunngasse an. Links fiel die Wienerstraße Richtung Hauptplatz ab. Mit ihr tauchte das dreistöckige Gebäude der Post auf, das sich über die gesamte Westseite der Straße erstreckte. Bei seinem Anblick erinnerte ich mich wieder daran, wie oft ich schon gedacht hatte, dass der Bau mit seiner Jugendstilfassade irgendwie ein Stück Wien in die Stadt an der Grenze brachte.
Ein Gabelstapler mit einem Fahrer der Firma Steffl erschien. Er durchquerte die Enge an der rechten Ecke des Schloßplatzes zwischen dem Computerhandel Himmelreich links und dem Wiklickyhaus rechts. Von der Enge aus fuhr er vorbei an der Vorderfront des Wiklickyhauses. Vorbei am gleich darauf folgenden Ende der Brunngasse, vorbei an unserem Haus auf der anderen Seite. Geradeaus bewegte er sich weiter in die Wienerstraße hinein, in Richtung des Hauptplatzes an ihrem Ende. Nach unserem ehemaligen Haus fuhr er vorbei am "Schmähbankerl", vorbei am Kreißler. Als er ihn passierte, kam mir die Idee, von dort eine Wurstsemmel zu holen. Ich ließ das Fahrzeug vorbei und überquerte die Straße, geradewegs auf den Eingang des Kreißlers hinzu.
Kapitel 4.: Im Kreißler
Wie immer klingelte der mit der Tür verbundene Glockenzug zweimal. Einmal beim Öffnen und einmal beim Schließen der Tür. Das nach allen Seiten ausgerichtete Gewölbe des Ladens tat sich auf. An der Pinnwand gleich rechts neben der Tür erschienen wieder wie gewohnt die zwei Werbeplakate mit den Aufschriften "Täglich frische Krapfen" und "Milch – Frisch aus dem Waldviertel".
Ebenfalls wie jedes Mal war ich bemüht, nicht gegen den Mauervorsprung in Kopfhöhe zu stoßen, als ich die drei Stufen hinab stieg.
Frau Schellander und Frau Haider verkauften heute. Frau Schellander säuberte bereits den kleinen Nebenraum an der linken Seite. Der Ladenschluss war schon nahe. Automatisch sah ich zu der Uhr an der Wand hinter der Theke, deren Ziffernblatt aussah wie die ausgeschnittene fotografische Originalgrößen-Abbildung einer Wurstsemmel. Der Zeiger lag zwischen Dreiviertel und um sechs.
"Grüß Gott!" rief ich in den Raum hinein.
"Grüß Gott! Bitte sehr?" sprach mich Frau Haider an.
"Eine Wurstsemmel bitte!"
"Mit woas deafs sein, bitte?"
"Mit Pikantwurst."
"Mia haum jetz a Gurkerlwurst im Angebot", machte sie mich auf eine Neuerung aufmerksam.
"Die probiere ich dann das nächste Mal."
Die Verkäuferin griff in den Kasten mit den Semmeln unter dem Ladentisch, schnitt mit dem Messer die Semmel in zwei Hälften. Dann nahm sie das Pikantwurststück aus der Vitrine und schaltete die Wurstschneidemaschine an, die wie eine Kaffeemaschine brummte. Die alte mechanische Waage, welche neben der Maschine stand, vibrierte währenddessen leicht.
Beim Blick in den kleinen Nebenraum war ich wieder einmal erstaunt darüber, welch verhältnismäßig breites Sortiment an Lebensmitteln und Haushaltswaren dort auf engstem Raum übersichtlich geordnet Platz fand.
"Deaf i's eahna eipoackn?"
"Nein danke, ich esse sie gleich."
"Neun Schilling bitte!" Sie legte mir die fertige Semmel auf das Glas.
Ich nahm mein Portemonnaie aus der Brusttasche meines Hemdes, öffnete es und suchte aus dem Kleingeldfach ein Fünf-Schilling-Stück und vier Ein-Schilling-Stücke heraus. Als ich die Münzen zusammenhatte, legte ich sie in die Geldschale auf der Vitrine.
Kapitel 5.: Das Touristen-Ehepaar
Als ich wieder die Straße betrat, sah ich, wie auf der anderen Seite gerade Herr Wiklicky aus seiner Konditorei in der Znaimerstraße heimkam und sein Haus betrat. Inzwischen hatte auch der Bus mit den Briefsendungen vor dem Wiklickyhaus gehalten. Der Fahrer öffnete die Tür, begrüßte den wartenden Postler, übergab ihm den Sack mit den Briefen und fuhr weiter.
Ein älteres Ehepaar stand unschlüssig vor dem Eingang des "Schmähbankerls". Es machte nicht den Eindruck, als ob es die Absicht hätte, den Bierpub zu betreten. Schließlich sprach mich die Frau an: "Entschuldigen Sie, können Sie uns ein Gasthaus sagen, in dem man ein typisches Essen hier aus der Gegend bekommt?"
Dem Dialekt nach musste sie aus der Gegend Tirol/Vorarlberg kommen. Sie bemühte sich zwar, Hochdeutsch zu sprechen, man hörte es ihr jedoch dennoch an.
"Da wüsste ich etwas für Sie. Kommen Sie mit!"
"Gehören Sie auch mit zu unserer Reisegruppe?" fragte mich der Mann. "Ich habe sie im Bus gar nicht gesehen."
"Nein, nein, ich bin Einheimischer. Allerdings erst seit fünf Jahren. Kurz nach der Wende sind wir aus der ehemaligen DDR hierhergekommen."
Ich führte sie um die Ecke unseres Ex-Hauses herum auf den Schloßplatz. Geradeaus tauchte wieder die gelbe Repräsentierfassade des Schloßgasthauses mit dem Glockengiebeldach auf. Vor ihr geriet der aus Rundhölzern gezimmerte Fahrradständer ins Blickfeld. Bei seinem Anblick dachte ich wieder daran, wie mir mal irgendjemand aus Spaß gesagt hatte, dass da die Pferde von den Gästen daran festgemacht werden.
"Ein schönes Schloss", fiel der Touristin das Schloss Gatterburg auf, als wir an der Eingangstür in der Vorderfront unseres ehemaligen Hauses vorbeikamen. "Kann man das auch besichtigen?"
"Es wird ausschließlich privat genutzt. Aber Wein aus der Schlosskellerei können Sie welchen kaufen. Die Familie, die dort wohnt, stellt schon seit über 250 Jahren welchen her. Wenn Sie unter dem Tor mit dem steinernen Familienwappen durchgehen, gleich links klingeln.
– So, und hier haben wir das Gasthaus auch schon. Es ist übrigens der ehemalige Schüttkasten des Schlosses."
Die gesamte Parkfläche vor unserem alten Haus war zur Gänze mit Autos zugestellt. Ebenso die auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Auch etliche Autos mit fremdländischen Kennzeichen waren auf der schmalen Parkfläche vor der Vorderfront unseres Ex-Hauses geparkt.
Als die Touristen das optisch registrierten, sagte ich ihnen: "Hoffentlich finden Sie da im Gasthaus noch einen freien Platz."
Auf das Fahrradmuseum könnte ich sie auch aufmerksam machen, fiel es mir gleich darauf ein. "Nur, falls sie sowas interessieren sollte: Den gesamten Keller des Gasthauses hat unlängst ein privater Verein sehr stilgerecht zur gesamten Schlossanlage passend renoviert und ein Museum mit alten Fahrrädern darin untergebracht. Da sind ein paar Stücke dabei, die man wirklich nicht überall zu sehen bekommt. Aber nur, falls Sie das interessieren sollte."
Wir überquerten die zwischen unserem Haus und dem Schloßgasthaus nur drei Meter breite Lehengasse. An der Vorderfront des Gasthauses lehnte wieder die schwarze Tafel mit den kreidegeschriebenen Tagesangeboten. Die Touristen blieben davor stehen. Einiges über der Tafel, an der Hauswand anmontiert, tauchte das Schild mit der Aufschrift "Zum Bahnhof" auf. Als ich es wahrnahm, flackerte bei mir wieder für einen Moment dieses eigenartige melancholische Gefühl auf, das immer kam, wenn ich irgendwo Züge oder Gleise sah.
"Auf Wiedersehen! Angenehmen Aufenthalt noch!" Mit diesen Worten verabschiedete ich
mich von ihnen und ging weiter in die Lehengasse.
Kapitel 6.: Vor dem Schloßgasthaus
Ich blieb kurz auf der Straße vor dem Gasthaus stehen. Ein Blick in den Garten bestätigte meine Überzeugung, dem Paar etwas vermittelt zu haben, das ihren Vorstellungen entsprach. Auch was das Drumherum betraf. Denn wenn sie schon an regionalem Essen interessiert waren, konnte man davon ausgehen, dass sie auch auf das dementsprechende Ambiente Wert legten. Und da dürfte der wind- und hitzegeschützte Gastgarten zwischen den zwei rechtwinklig zueinanderstehenden Gebäudeteilen des Gasthauses genau das richtige sein, analysierte ich den Gesamteindruck des Lokals. Natürlich nicht zuletzt auch aufgrund der riesigen, alten Linde in der Mitte.
Und wenn sie sich einen günstigen Platz in Zaunnähe sicherten, hatten sie auch gleich einen Blick auf die architektonischen Besonderheiten der Lehengasse. Auf die Geranien, die in den Blumenkästen am Zaun üppig blühten. Auf die Geranien in den zwei kleinen Holzfässern zur linken und zur rechten des Eingangs im Zaun. Auf den Garten mit den Kiefern. In denen man, wenn man ganz dicht daran vorbei ging, ab und zu ein Eichhörnchen herumspringen sah. Den winzigkleinen Schuppen neben dem Haus von Optiker Sulzberger. Mit der bloß mannshohen Mauer, nur einer Flügeltür an der Vorderfront und dem unverhältnismäßig hohen Ziegeldach. Das Sgraffito-Haus in der Schmiedgasse, auf das man direkt am Ende der Lehengasse stieß. Die Turmspitze der Stadtpfarrkirche hinter dem Haus von Direktor Steirer daneben. Die Reihe Akazien in der Straße, deren Kronen durch jährliche Verschneidung im Laufe von Jahren sehr buschig geworden waren. Die verschachtelte Architektur einiger Innenhöfe. Die Blumengefäße mit den rosa Geranien vor den Toren zu den Höfen der Häuser ...
Auch am späteren Abend würde es ihnen sicher gefallen, dachte ich abschließend. Wenn die Laternen auf dem Zaun mit der Werbung für "Stephl Export" auf der Glasfläche, die Laternen an der Wand und die Petroleumlämpchen auf den Tischen angezündet würden.
Außerdem war im Garten wieder einmal Grillabend. Man konnte den Bratengeruch schon um die Ecke auf dem Schloßplatz spüren. Der Ofen am Ende des Gartens vor dem Beginn des Stadtparks lief bereits auf Hochtouren. Auch die Salatbar im rechten Winkel daneben, längs des Jägerzauns zum Fußweg, war schon aufgebaut. Der Mann in Kochuniform hinter dem Grill schob die Pfanne hin- und her. In ihr zischte und brodelte es. Der Koch wendete die Schnitzel in der Pfanne, schwenkte die Gewürzdosen. Nebenbei machte er zwei Teller zurecht, die am Rande standen und auf denen bereits Pommes Frites lagen. Dämpfe stiegen aus der Pfanne empor, ab und zu sprangen kleine Fettspritzer heraus. Zwischendurch machte der Mann kurz Pause, trank einen Schluck Mineralwasser aus einer Flasche hinter sich.
Am Stammtisch in der Ecke der zwei Gebäudeteile, zwischen den zwei zu Blumenkästen umfunktionierten ehemaligen Weinfässern, saß derweil wieder die Stammtischrunde zusammen.
Einen Tisch weiter zwei Rugier in voller Montur. Offensichtlich hatte ihre Verbindung irgendetwas zu feiern, schlussfolgerte ich.
Kellner im weißen Hemd und mit Fliege liefen umher und teilten Speisekarten aus. Sperlinge am Boden waren emsig um heruntergefallene Brocken bemüht. Aus den Autos auf der gegenüberliegenden Seite der Lehengasse stiegen weitere Gäste aus und begrüßten Bekannte über den Zaun hinweg. Gleichzeitig tauchte auf dem Fußweg eine Gruppe von Spaziergängern auf. Nach der Art zu urteilen, mit der sie sich die Gegend ansahen, musste es sich um Touristen handeln. Sie bemerkten das Grillen und blieben am Zaun stehen. Kurz entschlossen betraten sie den Garten.
Bei einem erneuten Blick auf den Baum dachte ich wieder daran, wie die Lindenblüten im Frühjahr immer herunterregneten. In der Regel verfärbten sie die grün gestrichenen Holz-klappstühle und die grünen Tische ganz gelb, erinnerte ich mich.
Kapitel 7.: In der Lehengasse
Ich trat auf den Fußweg und setzte den Heimweg fort. Gleich nach dem Gasthausareal zweigte rechts vom Fußweg die lange, in den Stadtpark hineinführende Allee ab. An ihrem Ende schimmerte die knallgelbe, verschlungene Wasserrutsche vom Stadtbad hindurch. Wie immer war die Signalfarbe überdeutlich erkennbar, obwohl das Objekt hinter dem Park und über die Wallstraße hinweg lag. Man hörte bis zu meinem Standort Wasserspritzen, Kinderkreischen und metallisch klingende Lautsprecherdurchsagen. Ein Stück näher sah ich weitere Rugen, ebenfalls in Uniform. Sie standen auf der Holzbrücke, die aus der Mitten des langen Schlittensaales des Gasthauses über den kleinen Graben hinweg in den Stadtpark führte.
Die Reihe von Akazien, die sich durch die ganze Lehengasse zog, dachte ich wieder einmal, verlieh der Straße irgendwie etwas Südländisches. Das einzige was noch fehlte, kam es mir darauf in den Sinn, wäre eine melancholische Tangomusik im Hintergrund.
Da war es wieder einmal, dieses angenehme Gefühl, allein in der Fremde zu sein, so wie ich es mir als Kind immer vorgestellt hatte. Ich erinnerte mich wieder, wie ich mich dabei immer in Gedanken irgendeine fiktive Straße in Amerika hinabgehen sah.
Wie immer hielt das Gefühl leider nur wenige Sekunden an. Wieder einmal wünschte ich mir, es irgendwie künstlich in die Länge ziehen zu können, um es intensiver zu erleben.
In dem stachligen Grünzeug, das in den runden Granitwürfeleinfassungen der Akazien am Boden wuchs, versammelten sich wieder einmal etliche Vögel, weil sie nach irgendwelchen Bestandteilen davon ganz verrückt waren.
Ich kam am Haus Nummer Acht mit der Geschichtstafel an der Fassade an. Ich beschloss, erst einmal die Wurstsemmel zu essen und mir dabei wieder einmal den Inhalt der Tafel durchzulesen:
"Hier stand seit der Gründung der Stadt um 1280 das Lehenhaus, ein Freihof von Vasallen der Grafen von Hardegg. Vor dem Jahre 1436 saßen hier die Ritter von Grub, von 1436 bis 1550 die Herren von Einzing. Es folgten ab 1439 die Habsburger als Lehensherren des Hauses. 1486 wurde es durch die Ungarn völlig zerschossen und gelangte als Ruine in den Besitz der Stadt Retz. Kaiser Leopold erneuerte 1694 die Lehensrechte. 1698 verkaufte die Stadt die 'Öde' an Christoph Jäger, der hier ein Bürgerhaus erbaute. Es wurde in der Landtafel gestrichen, galt also nicht mehr als Adelsbesitz. Die Benennung 'Lehengasse' erinnert noch an ihn."
Ich hatte die Semmel aufgegessen und ging weiter. Als ich die im Schaufenster von Scherenschleifer Trnka im Haus neben uns ausgestellten Retz-Souvenirs sah, überlegte ich kurz, ob ich noch eines für Kastanienberg mitnehmen sollte. Ich entschied mich jedoch dann, es bei den Dingen zu belassen, die ich schon vor einigen Tagen gekauft hatte.
Ich kam vor unserer Wohnung an. Der alte Herr Seitenstetter parkte gegenüber gerade seinen kleinen grünen Traktor vor der Neo-Jugendstil-Fassade der Inneneinrichtungsfirma des Sohnes.
Kapitel 8.: Allein zuhause
Ich drückte die Türklinke nach unten. Die Tür bewegte sich nicht. Mutter war also noch nicht zu Hause. Ich nahm den Schlüssel aus der Hosentasche, steckte ihn in das Schloss, drehte um und betrat die Wohnung. Während des Durchquerens der Wohnung dachte ich: Jetzt in diesem Augenblick, in dem ich den Flur, die Küche und das Wohnzimmer durchstreife, um in mein Büro zu gelangen, wäre als Hintergrundmusik irgendwie eine sehr melancholische Blues-Melodie passend.
Nachdem ich ein paar Minuten an meinem Schreibtisch gesessen und nichts getan hatte, kam mir die Idee, einen Küraso zu trinken. Ich stand auf, ging zu meiner Hausbar und öffnete sie. Ich musste zunächst über die Reihe mit den Likören von regionalen Bauern hinweg greifen, um an die Flasche mit dem blauen Inhalt zu gelangen. Aus der hinteren Reihe entnahm ich sie dann von ihrem Standort zwischen Jack Daniels, Eierlikör und Bacardi. Vom rechten Rand des Faches nahm ich mir eines der mundgeblasenen, mexikanischen Schnapsgläser mit den eingearbeiteten blauen Farbspielereien, die ich mal im Weltladen gekauft hatte.
Beides stellte ich auf dem Tisch ab und ging die zwei Schritte zum Plattenspieler. Ich öffnete das Fach mit den Schallplatten, Kassetten und CD's im unteren Fach des Schranks links daneben. Danach zog ich Schallplatte für Schallplatte hervor, um kurz einen Blick auf das Cover zu werfen. Schließlich entschied ich mich für den Sampler mit den Flower-Power-Melodien. Ich entnahm vorsichtig die Platte aus äußerer und innerer Hülle. Anschließend hob ich den durchsichtigen Plastikdeckel vom Plattenspieler, legte die Platte auf und startete das Gerät. Die ersten Töne von "In The Year 2025" erklangen. Wieder einmal erstaunte es mich, wie gut das alte Gerät aus DDR-Zeiten, das sich inzwischen seit 14 Jahren in unserem Besitz befand, noch immer seinen Dienst versah.
Als ich mich wieder aufrichtete, fielen mir im Glasschrank die beiden Biergläser mit dem "Kaiserbier"-Logo auf. Ich erinnerte mich flüchtig an den Pressetermin, bei dem ich sie bekommen hatte. Anfang Oktober 1994 war das. Auf dem Niederösterreich-Finale des Bierzapf-Wettbewerbes, den die Brau-AG jährlich an allen Gastronomieschulen Österreichs veranstaltet. Damals fand er in der Tourismusfachschule draußen am Seeweg statt. Zum Schluss der Veranstaltung hatte ich wie mehrere andere Ehrengäste auch einen Pappkoffer überreicht bekommen, in dem sich Flaschen mehrerer von dem Konzern gebrauter Biermarken, ein Flaschenöffner, ein paar speziell designede Bierdeckel, etwas Fachliteratur übers Bierbrauen und die beiden Gläser befanden.
Gleich neben den Gläsern lag die meerblaue Ionensubstanz, die mir Katharina 1992 zum Abschied geschenkt hatte. Sie war noch genauso schön wie am ersten Tag, nichts hatte sie von ihrer Besonderheit verloren.
Ich setzte mich wieder hinter meinen Schreibtisch, öffnete den Verschluss der bereits halbverbrauchten Flasche und goss mir ein Glas voll ein. Ehe ich den ersten Schluck nahm, hielt ich das Glas gegen das Licht. Die Flüssigkeit darin schimmerte in verschiedensten Blautönen.
Ich trank den ersten Schluck und ließ ihn langsam die Kehle herunter fließen. Die gewohnte Illusion von Sonne, Strand und Karibik stellte sich ein, verstärkt noch durch die zwei Palmen auf dem Etikett.
Kapitel 9.: Das wieder eingerichtete Zimmer
Ich ließ den Blick im Zimmer umherwandern und war zufrieden, wie ich nach dem Umzug vom Schloßplatz in dem schmalen Raum mit nur einem Fenster zur Straße hin alle meine Möbel und Archivmaterialien untergebracht hatte.
Der Schreibtisch mit der rechten Stirnseite direkt am Fenster. Auf dem Schreibtisch die Computeranlage mit Tower, CD-Laufwerk, CD-Brenner, Monitor, Maus, Tastatur, Farbdrucker, Soundblastern und Internetmodem. Alles geliefert und installiert vom Prem-Jonny.
Am rechten Rand des Tischs die Stiftebecher und ein Bild von Magda.
In den zwei an die Wand geschobenen Regalen auf dem Schreibtisch meine Marvel-Comics-Sammlung; Hefte und Taschenbücher von allen wichtigen Serien. "Spinne", "Hulk", die "Fantastischen Vier", "Rächer", "X-Men".
Auf den obersten Fächern die Ordner mit den Dritte-Welt-Info-Materialien aus dem Weltladen. Es hatte sich im Verlaufe all der Jahre, stellte ich fest, in denen ich bereits aktives Mitglied im "EFEU"-Verein war und daraus resultierend ehrenamtliche Verkaufsdienste im Weltladen leistete, eine Menge angesammelt.
An der Wand darüber links die indonesische Kriegerstabpuppe, auch aus dem Weltladen.
Auf der Fläche in der Mitte der Wand die Mitbringsel aus Ägypten. Der kleine Teppich mit der Totenmaske Tut-ench-Amuns als Motiv.
Die beiden Original handgemalten Papyri, das mit dem Schlachtwagen und das, auf dem mein Name in Hieroglyphen dargestellt ist.
Das auf Bananenblattpapier gedruckte altägyptische Horoskop, das ich mir andrehen ließ, als ich an einem Abend meiner Ägyptenreise den Cairo Tower hinauffuhr.
Rechts neben den Ägyptenstücken, in Fensternähe, die zwei Vogel-Fadenpuppen aus Bangladesch, auch im Weltladen gekauft.
In der langen Wandnische links daneben das Regal mit dem Schul-Archiv, in dem ich sämtliche Materialien der vergangenen vier Schuljahre eingeheftet und geordnet aufbewahrte. Auf dem Schrankteil darunter der Plattenspieler.
Dann der Glasschrank. Über beide Schränke hinweg die Reihe mit den Ordnern, in denen sich die Zeitungsmanuskripte und die Info-Materialien von den Presseterminen befanden.
Mein Blick war nun an der schmalen Seite des Zimmers angekommen. Wo unmittelbar der Schrank mit den Büchern über Ägyptologie und Atomphysik anschloss.
Wieder links daneben, noch immer an der schmalen Seite, die passgenaue Nische mit meinem Bett. Über dem Kopfende des Bettes das Riesenplakat mit den Bildimpressionen aus Afrika und dem Slogan "Und welches Bild von Afrika haben Sie? Afrika. Mehr über Afrikas Vielfalt im Dritte-Welt-Laden."
Neben dem Bett an der Wand oben in der Mitte meine Teilnehmerurkunde von der Spanienwallfahrt.
Darunter die erste Reihe mit den Sachen aus dem Weltladen. Das Werbeplakat für Eistee aus dem Weltladen, das irgendwie auf perfekte Weise Sommer-Sonne-Strand-Gefühl suggerierte.
Das Werbeplakat für Jambo, den Kaffee aus Uganda, den es auch im Weltladen gab.
Der tibetanische Pergamentpapier-Wandkalender mit den religiös-buddhistischen Motiven.
Und das Plakat mit den zwei jungen indischen Teepflückerinnen.
In der Reihe darunter die restlichen Sachen aus dem Weltladen. Das Plakat mit der Schurwolle verarbeitenden Inderin.
Der Nachdruck eines mittelalterlichen Kupferstichs von Vranov, den ich mal bei einem Pressetermin geschenkt bekam. Und das Plakat mit der Inderin an der Nähmaschine.
Über dem Fußende des Bettes das Plakat mit den zwei indischen Tänzerinnen.
Die Inderinnen konnte man sich jeden Tag immer wieder aufs Neue ansehen, dachte ich. Sie wirkten alle vier so keusch und anständig.
Ich war optisch bei der langen Wand zum Wohnzimmer angekommen. Auf dem Schrank mit den Videos gleich links daneben begann die Reihe mit meinen Tagebuchordnern. Sie setzte sich jenseits der Tür auf dem schmalen Kleiderschrank mit meinen Jacketts fort. Daneben auf dem Schrank mit meinem Zeitschriftenarchiv fand sie ihr Ende direkt an der schmalen Fensterwand. Auch das Archiv mit allen möglichen politischen und naturwissenschaftlichen Magazinen, die ich immer wieder zum Nachschlagen brauchte, war in den Schrankfächern darunter bereits vollständig untergebracht.
An der gesamten Längswand zum Wohnzimmer hin hatte ich nebeneinander die Filmplakate aufgehängt. Beginnend mit einem Bild von der alten "Enterprise"-Mannschaft gleich neben dem Fenster. Anschließend eines von der neuen Mannschaft. Dann eines mit David Duchovny und Gillian Anderson. Als letztes eines von William B. Davies, das ich mal aus einem "Akte-X"-Fan-Magazin hatte herausvergrößern lassen, da es Poster ja immer nur von den positiven Helden eines Films gab. Vielleicht mit Ausnahme des Darth Vader aus "Star Wars".
Kapitel 10.: Presse
In dem Plastikablagekasten, in dem ich die Zeitungsmanuskripte und dazugehörigen Informationsunterlagen zwischenlagerte, bevor ich sie abheftete, geriet mir mein jüngstes Manuskript ins Auge. Es war das mit der Abhandlung über die Geschichte desjenigen Teils der Bernsteinstraße, der durch das heutige Weinviertel führte.
Darauf lag die im Format DIN-A-5 angefertigte Speisekarte von der Schuljahresabschlussfeier in der Hotelfachschule, über die ich ebenfalls für die Zeitung berichtet hatte. Das war wieder mal ein Menü, das keine Wünsche offen ließ, erinnerte ich mich. Eigentlich so wie jedes Mal, wenn ich zu einem Pressetermin dort draußen war. Ich nahm die Karte und schlug sie auf, um mir noch einmal die einzelnen Gänge durchzulesen. Beim Wein vorher kam für mich aus der Weinkarte natürlich nichts Anderes in Frage als der Chardonnay vom Weingut Burgstaller. Danach hatte ich für das Essen als solches ein "Hubertus-Bier" bestellt, das ganz in der Nähe in Laa an der Thaya im östlichen Weinviertel gebraut wurde. Nach den Vorspeisen vom Buffet ging es dann los mit einer Kürbiscremesuppe. Beim Hauptgang bestand die Auswahlmöglichkeit zwischen Truthahngeschnetzeltem nach Züricherart und Rösterdäpfeln oder Gebratenem Lachsfilet mit asiatischem Gemüse und Wildreis. Ich hatte mich für Letzteres entschieden. Als Nachtisch "Besoffener Kapuziner", ein schokoladenkuchenartiges Gebäckstück in Alkohol getränkt. Als Kaffee dazu hatte ich einen "Kaffee Maria Theresia" mit Schlagsahne und Orangenlikör ausgewählt.
Ganz am linken Ende des Tisches lagen noch die Mitbringsel von dem Pressetermin beim Hilfswerk in der Znaimerstraße neulich: DIN-A-4-Zettel; Prospekte; Falter; sowie Aufkleber, Kugelschreiber und Bonbons jeweils mit dem Vereinslogo drauf.
Kapitel 11.: Erinnerungen auf dem Tisch
Einzig und allein auf dem Tisch waren noch letzte Umzugsspuren vorzufinden. Auf dem größten Teil der Fläche. Es handelte sich um Dinge, die mit besonderen Ereignissen verbunden waren. In den Glasschränken hatte ich für sie absolut keinen Platz mehr gefunden und deshalb beschlossen, sie in einer Kiste zu verstauen, die ich mir jedoch noch besorgen musste. Ich begann mir die Sachen etwas näher anzusehen. Mein Abschlussball-T-Shirt, das ich nie getragen hatte, weil ich an diesem Abend einen Anzug anhatte, war darunter. Ebenfalls vom Ball zwei noch unbenutzte grüne Hexentreppen, mit Schnippgummis zusammengehalten. Ein Bild von mir als Fahnenträger beim 1. Mai 1989, dem letzten Maiaufmarsch unter sozialistischen Verhältnissen. Wallace und Grommit als Plastikfiguren, welche ich zum Abschluss meines Vortrages in dem Club in London im vorigen Jahr zur Erinnerung überreicht bekommen hatte. Eine nichtbenutzte Fackel vom Fackelumzug anlässlich des 40. Jahrestages der DDR. Eine Pilgerfigur von der Wallfahrt nach Spanien. Ein Briefumschlag mit einem 5-D-Mark-Schein von der deutsch-deutschen Währungsunion. Eine kleine US-Fahne mit Ständer von meiner Amerikareise vor ein paar Wochen.
Kapitel 12.: Die Fensterwand
Nachdem ich die Karte wieder zurückgelegt hatte, hob ich die Gardine zur Seite, um mich dort weiter umzusehen. Ich nahm das Bild von meiner alten Clique aus Deutschland von der rechten Seite der Fensternische von der Wand, das dort unter dem Papstbild hing. Es wies bereits erste Zeichen von Vergilbung auf. Ich erinnerte mich daran, wie es damals in der Achten Klasse vor der Rückwand des Fahrradschuppens in der Schule aufgenommen worden war.
Ganz links am Rande stand Connie, Connie Bachmann. Schnattchen, wie ich sie in Gedanken immer genannt hatte wegen ihrer äußerlichen Ähnlichkeit und der Ähnlichkeit zu sprechen mit der gleichnamigen Handpuppenente aus der Sandmännchensendung. Daneben Carola und Yvette, die beiden Unzertrennlichen. Ein Stück hinter ihnen Götz, Kalle, wie ihn aufgrund seines Nachnamens Kallenbeck alle nannten. Er hatte diesen Spitznamen stets widerspruchslos akzeptiert, erinnerte ich mich. Er war ihm lieber als sein anderer Spitzname "Götz-Zitat". Links auf dem Rand der Bank vor den Stehenden Guido. In der Mitte Tony, mit dem ich vom Kindergarten an bis zu seinem Ausscheiden aus der Schule nach der Achten Klasse befreundet war. Ein Meter neben ihm meine Wenigkeit. Und am rechten Rand Katharina. Das Mädchen, mit dem ich im Alter von dreizehn Jahren zum ersten Mal Sex gehabt hatte.
Kapitel 13.: Aufbruch in die Stadt
Ich nahm einen weiteren Schluck. Es ist komisch, dachte ich. Wenn man sich eine Sache lange wünscht und sie dann irgendwann eintrifft, weiß man sie oft gar nicht mehr zu schätzen. Wie oft hatte ich mir als Kind vorgestellt, dass ich später mal irgendwo in einem fernen Land in der westlichen Welt am Ende eines Tages von der Arbeit in meine kleine Wohnung heimkomme, in der sich auf engstem Raum die wichtigsten Habseligkeiten von mir befinden. Den unauffälligen kleinen Arbeiter oder Angestellten von nebenan zu spielen. Den zwar eine Menge Leute kennen, über den aber keiner so recht etwas weiß.
Ich lehrte den Rest des Glases in einem Zug und beschloss, wieder in die Stadt aufzubrechen, um auswärts Abend zu essen. Ich stand auf, ging zum Plattenspieler, stoppte ihn, legte die Platte zurück in die innere Hülle. Diese steckte ich wiederum zurück in die äußere Hülle, stellte sie wieder an ihren Platz im Schrank. Schließlich setzte ich auch wieder den Plastikdeckel auf die Oberfläche des Gerätes.
Aus meinem Schreibtisch zog ich die Lade mit der Aufschrift "Makulatur" hervor, entnahm ein DIN-A4-Blatt von einer Werbesendung, die mit der Post gekommen war. Ich legte es mit der Rückseite nach oben auf den Tisch, ergriff einen Filzstift aus dem Stiftebecher und schrieb in großen Buchstaben darauf: ESSE HEUTE IN DER STADT.
In der Küche deponierte ich den Zettel gut sichtbar auf dem Tisch und verließ danach das Haus.
Kapitel 14.: In der Werkstatt von Schuster Flammer
Hämmernde Geräusche drangen aus der Werkstatt von Schustermeister Flammer Tür an Tür mit unserer Wohnung. Bei dem Geräusch erinnerte ich mich daran, wie er uns seit unserem Einzug im Rahmen der Nachbarschaftshilfe schon des Öfteren mal kleinere Schuhreparaturen kostenlos erledigt hatte. Auf der Straße vor der Tür stand sein altes Puch-Rad. Ein so genanntes "Waffenrad", wie er mir mal erklärt hatte.
Ich trat in den braun gestrichenen Holztürrahmen und stieß vorsichtig die innere Tür auf. Wie immer kam mir ein leichter Ledergeruch entgegen.
Ich sah in den Raum hinein. Der gewohnte Anblick folgte. An der Wand rechts das Regal mit den Arbeitsmaterialen. Alles Mögliche befand sich darin. Riemen. Schnüre. Leimtöpfe. Verschiedene andere Büchsen. Holzmodelle für Schuhe. Verschiedene Schuhe selbst. Dahinter stand die Schleifmaschine mit den vielen Schleifrädern. Ich erinnerte mich bei dem Anblick an den Höllenlärm, den sie erzeugte. An der Wand gegenüber der Meisterbrief von irgendwann. In der Mitte des Raumes der Tisch, auf dem sich ein Berg Schuhe türmte.
Drei Nähmaschinen, allesamt die legendären Singer-Nähmaschinen, standen in der Werkstatt. Zwei davon beim Reingehen links in der Ecke, eine in der Nähe des Schemels des Schusters. Die älteste von ihnen wurde im Jahr 1941 angeschafft, wie er mir einmal erzählt hatte, erinnerte ich mich.
Der Schuster selbst saß auf seinem Holzschemel in der Ecke neben dem Ofen. Der Platz, auf dem man ihn täglich beobachten konnte. Wie immer trug er seine blaue Arbeitsschürze. Vor sich einen Berg Leder, hämmerte er an der Sohle eines Stiefels. Er bemerkte mich, ich wünschte ihm ein "Grüß Gott!"
"Begrüße Sie, Herr Chefredakteur!" dankte er.
Die Titulierung brachte mich zum Lachen. "Ganz so weit ist es noch nicht", erwiderte ich. "Das dauert noch ein bisschen."
Jeder seiner Bekannten bekam einen Titel verpasst, unabhängig von dessen tatsächlicher sozialer Stellung, dachte ich an die Gespräche, welche er mit seinen Kunden führte und die ich in den vergangenen Wochen seit unserem Einzug manchmal per Zufall mitgehört hatte. Ein wesentliches Vergabekriterium war der persönliche Bekanntheitsgrad. Die Palette reichte von "Herr Doktor" bis hin zu "Herr Generaldirektor". "Und Sie sind so spät noch fleißig?" bewunderte ich seine Arbeit.
"Joa, doamit woas weitageht. Waun de Hitz weita so oahoit, waß i net, woas i in de nächstn Toag schoaff."
"Stimmt, dieses Jahr ist es wirklich schlimm. Man kann fast glauben, wir würden hier am Mittelmeer leben. Die Weinbauern jammern auch schon alle. Auf Wiederschauen!"
Kapitel 15.: In der Herrengasse
Wieder auf dem Fußweg blieb ich einen Moment stehen. Ich sah zum Garten des Schloßgasthauses hinab und überlegte, dort essen zu gehen. Doch bereits im nächsten Augenblick ließ ich den Plan wieder fallen. Ich beschloss stattdessen, einfach weiterzugehen. Ich würde es dem Zufall zu überlassen, in welcher Lokalität ich auf dem Weg durch die Stadt hängenblieb.
Ich überquerte die Straße und steuerte auf die Herrengasse zu.
Die schmale Gasse zwischen dem gelben Eckhaus und dem Geschäft von Nachbar Seitenstetter tat sich auf. An dieser Stelle, gerade außerhalb der Hörweite des Lärms vom Schloßgasthaus, bot sich mit dem Gasthaus "Zu den sechs Schimmeln" bereits die nächste Möglichkeit zum Essen.
Ich hielt mir reflexartig die Hand vor die Augen, als ich die Herrengasse betrat. Die tief stehende Abendsonne blendete. Entgegenkommende erschienen mir zunächst als schwarze Silhouetten.
Rechts zog an dem gelben Eckhaus zur Lehengasse hin die hölzerne Flügeltür vorbei. Bei dem Anblick erinnerte ich mich daran, dass bis vor kurzem in dem Keller dahinter die Heinrich-Versicherungen ihr Büro hatten.
Dann sah ich bereits von weitem, dass im Gasthaus "Zu den sechs Schimmeln" Hochbetrieb zu herrschen schien. Nahezu ausnahmslos alle Plätze an den Tischen des Straßenbetriebes waren besetzt. In dem Augenblick fiel mir ein, dass ich schon lange nicht mehr im Windmühlheurigen gewesen war. Ich entschied mich daher, den Abend dort zu verbringen. Ich ging jetzt etwas schneller als vorhin, um noch einen Platz zu bekommen.
Frau Förster trat gerade aus dem Elektro- und Fotofachgeschäft nach dem Gasthaus, um die auf dem Fußweg ausgestellten Waren reinzuräumen. "Es san wieda Fühme featig", teilte sie mir mit.
"Meine Mutter holt sie morgen ab."
Kapitel 16.: Auf dem Hauptplatz
Ich ging weiter. Vorbei an dem längst geschlossenem Spezereiwarengeschäft Ullmer am Beginn des Hauptplatzes. Vorbei an der Sparkasse. Vorbei an der Firma Herzog. Auch dort wurde Feierabend gemacht. Angestellte räumten die am äußeren Rand des Fußweges ausgestellten Waren in das Haus hinein. Die gewohnten Haushalts- und Baumarktwaren standen dort wieder. Drahtkästen mit Geschirr und Haushaltswaren. Rasenmäher. Mit Saatgut beladene Schubkarren. Motoröl. Tretautos. Kinderfahrräder.
Vor dem Eingang des Kinos schräg über den Hauptplatz hinweg stand eine Gruppe Jugendlicher. Auf dem Gang rund um die Rathausturmspitze, von wo aus man weit ins Land hineinsehen konnte, liefen Touristen umher.
Ich erreichte das an die Firma Herzog angrenzende Gebäude der Bauernkammer. Aus mir unbekannten Gründen erinnerte ich mich dabei streiflichtartig an unsere Ankunft auf dem Hauptplatz November 1992. Unwillkürlich drehte ich mich im Gehen zur Seite und sah über den Platz hinweg zum Beginn der Wienerstraße. An ihrem Ende konnte man ein Stück unseres alten Hauses erkennen. Gleich dahinter erschien wie gewohnt das Dach des Schlosses Gatterburg mit dem Türmchen für die Uhr auf der Spitze.
Auf der Straße fuhr inzwischen der weiße VW-Käfer-Dienstwagen von Stadtamtsmitarbeiter Franz Körberl mit den über 700 Aufklebern auf der gesamten Karosserie vorbei.
Ich war auf der Höhe der Pizzeria angekommen. Ich ging hindurch zwischen dem Gebäude und ihrem Straßenbetrieb neben der Litfasssäule an der Ecke zur Znaimerstraße. Wie immer musste ich dabei einen Riesenbogen um Haushund Cubi machen. Er lag wie gewohnt, alle Viere seitlich von sich wegstreckend, mitten auf dem Fußweg. An der Tür stand wie jeden Tag die lebensgroße Stiller-Zecher-Figur im Charlie-Chaplin-Kostüm.
Ich warf einen flüchtigen Blick durch die offenstehende Tür des Lokals. Drinnen loderte gerade ein Feuer im Steinofen. Gleichzeitig bemerkte ich, dass es drinnen genau so voll war wie draußen. Ich begann daher, wieder etwas schneller zu laufen, um im Windmühlheurigen noch einen Platz zu bekommen.
Vor dem Rathaus in der Mitte der oberen Hauptplatzhälfte wehten die drei gewohnten Flaggen im Abendwind. Die rot-weiß-rote der Republik mit dem Bundesadler in der Mitte. Die blau-gelbe des Landes Niederösterreich, in der Mitte mit dem Wappen mit den fünf kleinen Adlern und der gemauerten Krone darüber. Und die ebenfalls blau-gelbe der Stadt Retz. Jedoch mit dem steigenden Löwen im Emblem, dem Wappen des Stadtgründers Berthold von Rabenswalde.
Ich erinnerte mich daran, wie man vom Hauptplatz aus manchmal am nächtlichen Himmel Flugzeuge, die vom Flughafen Wien-Schwechat aus in aller Herren Länder starteten, als winzige, flackernde Punkte ausmachen konnte. Es war meistens an jenen Abenden, an denen der Himmel besonders klar war und der Neumond kurz nach Sonnenuntergang über der Dreifaltigkeitssäule in apokalyptischem Rot erschien. Ansonsten war der Hauptplatz jedoch leer, so wie an jedem Abend.
Kapitel 17.: Kurzer Aufenthalt beim Caritasladen
Ich ging weiter um die Ecke zur Znaimerstraße. Der riesige, weiße Torbogen des Verderberhauses, der so genannte Schwippbogen, tat sich auf.
Rechts in ihm erschien der nur sechs Quadratmeter große Caritasladen. An dem vorderen seiner zwei klobigen, grau gestrichenen Flügeltüren hing wieder das Hängegitter. Aller möglicher Wandschmuck befand sich heute daran. Schwarz-Weiß-Fotos. Gestickte Bilder. Kleine Ölmalereien auf Holz. Eine Lithographie vom Stephansdom in Wien. Ein Holzhampelmann. Ein kleines Ölgemälde mit einem See. Eines von einer Alm. Ein gesticktes Bild, ebenfalls mit einem Alpenmotiv.
Auf dem Boden vor dem Türflügel befand sich eine Kiste mit allen möglichen Spielen. Zuoberst lagen ein paar Kartenspiele.
Durch die halb geöffnete Tür hinter dem Holztor fiel der Blick auf das Innere des Ladens, auf das Regal mit den Glas- und Porzellansachen.
Vor dem anderen Türflügel stand eine Kiste mit Puppen. Ihr zu Füßen eine Kiste mit Plüschtieren. Daneben, entlang der Wand, ein paar Kisten mit Schallplatten, Puzzles, einer Wohnzimmerschrankuhr mit massivem Holzgehäuse. Wieder dahinter begann die lange Reihe der Bücherkisten entlang der Hauswand. Ich dachte daran, wie oft ich hier schon etwas für mein Archiv gefunden hatte.
Wie immer erinnerte mich das Geschäft ein wenig an den Laden eines Trödelhändlers in einer mittelalterlichen Stadt. Im nächsten Augenblick dachte ich daran, wie bis vor zwei Jahren der Weltladen in dem Geschäftslokal untergebracht war.
Auch das Schmuckatelier "Doris" auf der anderen Seite des Torbogens machte gerade Feierabend.
Kapitel 18.: In der inneren Znaimerstraße
Ich hatte den Torbogen durchquert und befand mich am Beginn der Znaimerstraße. Der Schall der Schritte pflanzte sich nun zwischen den engen, hohen Häusern mit den südeuropäisch wirkenden Fassaden in weitem Umkreis fort. Von weitem reflektierte der Reichsadler auf der Spitze des Znaimertores das Licht der Abendsonne. Das Objekt lenkte den Blick auf die deutsche Kanonenkugel aus dem 17. Jahrhundert an der rechten Seite des Gebäudes.
Ich beschleunigte das beim Caritasladen etwas verlangsamte Tempo wieder ein wenig. Ich kam vorbei am Weltladen, vorbei an der Konditorei Wiklicky. Am Rand des Fußweges stand wieder der Eisbär-Pappkamerad mit der riesigen Eistüte in den Händen. Wie jeden Tag in der Sommersaison machte er auf den Eis-Straßenverkauf der Konditorei aufmerksam. Gleich darauf zog auch das Schaufenster direkt neben der Eingangstür vorbei, in dem der Straßenverkauf stattfand.
Auf der Straßenkreuzung vor mir hatte sich ein Stau gebildet. Ich blieb daher vor dem direkt in der Hausecke liegenden Konditoreieingang stehen. In allen angebundenen Straßenästen hatten sich Fahrzeuge angesammelt. Auf der Znaimerstraße geradeaus, auf der Schmiedgasse gleich rechts von mir und auf der Althofgasse gegenüber. Ein breit gebauter Getränkeliefer-Lkw bewegte sich durch die enge Znaimerstraße in Richtung Hauptplatz. Aufgrund der architektonischen Gegebenheiten kam er nur im Schritttempo voran. Etliche Pkw, die ihn nicht überholten konnten, folgten ihm ebenfalls Meter um Meter.
Drei Fahrzeuge standen auch gegenüber am Beginn der Althofgasse. Das vorderste befand sich direkt an der linken Straßenecke. Unmittelbar vor dem altwienerisch wirkenden Jugendstilhaus mit dem Eingang zum Lederwarengeschäft genau in der Ecke. Von dort aus machte es Anstalten, in Richtung Hauptplatz abzubiegen.
Ein weiteres Auto wartete am Rande der Schmiedgasse, neben der BIPA-Filiale im Eckhaus gegenüber. Ich überquerte die Schmiedgasse, hinter dem Auto vorbei. Drüben setzte ich den Weg neben dem BIPA fort.
Gegenüber zog das Eckhaus zur Althofgasse mit der Filiale der "Niederösterreichischen Versicherung" vorbei. Gleichzeitig tauchte das Straßencafe des danebenliegenden "Stadtcafé" auf. In dem Traditionscafé herrschte so wie in den anderen gastronomischen Einrichtungen ebenfalls viel Betrieb. Mehrere Gäste standen auch um den Eisverkauf im Fenster neben der Tür des Hauses.
Tourismusstadtrat Gruber verließ das Café. Er ging vorbei am benachbarten Bürgerspitalshof mit der überdimensionalen Jesusfigur an der Fassade. Gleich darauf verschwand er wieder hinter dem grünen Holztor des Bürgerspitalshofes mit der Bibliothek, dem Büro der Orts-ÖVP und der Einsatzzentrale des NÖ Hilfswerks dahinter. Mir fiel der Komplementärkontrast auf, den die größtenteils himmelblaue Fassade der Farbenhandlung von Stadtrat Gebhardt mit dem erdgelben Bürgerspitalshof davor bildete.
Kapitel 19.: In der Durchgangspassage
Ich passierte den Frisör Stiedlmayr mit seiner grünen Holzverkleidung der Erdgeschossfassade und war am Znaimertor angelangt. An seiner gegenüberliegenden Innenseite tauchte das längst zugemauerte und nur noch durch ein noch erhaltenes Gitter erkennbare Mautfenster auf, das noch aus der Zeit als Stadttor stammte.
Gleich darauf durchquerte ich den schnitzereiverzierten, grünen Holzrahmen der Durchgangspassage, die rechts am Tor vorbeiführte. Auch im Inneren der Passage hallten die Schritte wieder.
Ich blieb kurz vor der Auslage der Keramikwerkstatt Blaha aus Mitterretzbach gleich links in der Wand stehen. Die ausgestellten Keramikgegenstände erinnerten mich an die große Tasse, die ich dort als Mitbringsel für den Nachbesitzer unseres Hauses in Kastanienberg anfertigen ließ. Das Abbild der Vorderfront unseres alten Hauses, das ich anhand eines alten Fotos mit dünnen Glasurstrichen auf den Gegenstand auftragen ließ, machte das Ganze auf jeden Fall sehr persönlich, dachte ich. Der Gedanke an die Tasse brachte auch wieder die Erinnerung an die Fahrt nach Unterretzbach vor 14 Tagen zurück, als ich die Tasse abholte und wir gleichzeitig bei Pater Georg im Pfarrhaus eingeladen waren.
Hatte ich schon alles eingepackt, was ich nach Kastanienberg mitbringen wollte, überlegte ich kurz? Die Tasse, die Packung Retzer Taler aus der Konditorei Wiklicky und die Flasche St. Laurent von Burgstallers Weingut? Natürlich, fiel es mir ein, die Reisetasche war ja gestern schon fertig gepackt. Die Weinflasche dürfte auch gut ankommen, dachte ich. Nicht zuletzt Dank des selben Hausmotivs wie auf auf der Tasse, das ich allerdings von der Familie in Breitenwaida anfertigen ließ, die sich auf künstlerische Bemalung von Spirituosenflaschen spezialisiert hatte.
Kapitel 20.: In der inneren Znaimerstraße jenseits der Durchgangspassage
Ich verließ die Passage auf der rechten Seite durch den efeubewachsenen Ausgang, der gleich hinter dem Znaimertor endete. Rechts am Kopfende des Gangs zog die Auslage von der Farbenhandlung Stadtrat Gebhardts vorbei.
Mitarbeiter der Farbenhandlung verließen jenen Gebäudeteil des sich Wand an Wand am Znaimertor vorbei schiebenden Geschäftes, der gleich hinter dem Tor stand.
Geradeaus tat sich der erste Blick auf die Weingärten des Altenberges auf, der unter Kennern als besonders gute Lage galt. Daneben auf das Winzerhaus auf seiner Spitze. Hinter all dem tauchte der bewaldete Kamm des Manhartsberges auf. Von diesem Standpunkt aus gesehen erstreckte er sich wie immer bis zur tschechischen Grenze. Dort verschwand er hinter dem Horizont.
Bei der Trafik und dem Parkettgeschäft danach überquerte ich auf der Höhe der gegenüberliegenden ehemaligen "Znaimer Bierhalle" die Straße. Beim Anblick des längst nicht mehr existierenden Lokals erinnerte ich mich flüchtig daran, wie ich mal auf einer Stadtführung gehört hatte, dass sein Name daher kam, weil in ihm früher in erster Linie das Bier aus der Znaimer Brauerei ausgeschenkt wurde.
Bürgerreporter:in:Christoph Altrogge aus Kölleda |
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