Kurzgeschichte
Die letzte Generation
In einer verborgenen Ecke des Gartens, umgeben von duftenden Blüten und summenden Bienen, lebte die letzte Generation der Insekten. Sie waren anders als ihre Vorfahren – kleiner, zarter und irgendwie verletzlicher. Ihre Flügel trugen die Spuren vieler Sommer, und ihre Augen blickten sehnsüchtig auf den Sommerflieder.
Der Sommerflieder, auch Schmetterlingsflieder genannt, war ihr Zufluchtsort. Seine violetten Blüten zogen die Insekten magisch an. Doch es war nicht nur der Nektar, der sie hierher führte. Es war die Erinnerung an vergangene Zeiten, als die Luft noch erfüllt war von Flügelschlag und Summen.
Die Insekten hatten gelernt, sich am Sommerflieder festzukleben. Ihre winzigen Beinchen krallten sich an den Blüten fest, als würden sie nie wieder loslassen wollen. Sie hingen dort, zitternd vor Erschöpfung, aber mit einem Lächeln auf den Lippen. Denn sie wussten, dass dies ihre letzte Chance war.
Die Welt hatte sich verändert. Die Menschen hatten den Garten umgestaltet, die Wiesen bebaut und die Blumenwiesen verschwinden lassen. Die Insekten hatten keine Wahl – sie mussten sich anpassen oder verschwinden. Und so hatten sie beschlossen, am Sommerflieder auszuharren, bis zum letzten Atemzug.
Die Tage wurden kürzer, die Nächte kälter. Die Insekten spürten, wie ihre Kräfte schwanden. Doch sie hielten durch. Sie erzählten sich Geschichten von vergangenen Sommern, von bunten Blüten und flirrender Hitze. Sie sangen Lieder, die nur sie hören konnten, und tanzten im Mondschein.
Eines Tages kam ein kleiner Schmetterling zu ihnen geflogen. Seine Flügel waren noch unberührt, seine Augen strahlend. Er hatte die Nachricht von der letzten Generation gehört und wollte sich anschließen. Die anderen Insekten begrüßten ihn mit offenen Armen.
Gemeinsam hingen sie am Sommerflieder, ihre zarten Körper vereint in einem letzten Akt der Liebe und des Überlebens. Die Blüten dufteten süßer, die Farben leuchteten intensiver. Und als der Frost kam und die ersten Schneeflocken fielen, wussten die Insekten, dass ihre Zeit gekommen war.
Der Sommerflieder verlor seine Blätter, die Insekten ihre Kraft. Doch sie hatten etwas geschafft, das größer war als sie selbst. Sie hatten die Erinnerung an ihre Art bewahrt, den Zauber des Sommers, die Liebe zum Leben. Und so verabschiedeten sie sich, mit einem letzten Flügelschlag und einem Lächeln auf den Lippen.
Der Sommerflieder blieb zurück, kahl und still. Aber in seinen Ästen und Zweigen lebte die Geschichte der letzten Generation weiter.
Bürgerreporter:in:Thomas Ruszkowski aus Essen |
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