DAS BESTE KOMMT ZUM SCHLUSS

Das Beste kommt zum Schluss

Sie weiß, es sind nicht mehr viele Monate, eher einige Wochen, die das Leben ihr schenken wird; sie hat es akzeptiert und sich darauf eingerichtet. In dem Raum des Hauses, das sie seit einigen Jahren lebt, haben sich kleine Gesprächsgruppen zusammen gefunden – wie jeden Tag. Heute ließ sie sich von dem ihr vertrauten Geistlichen besuchen, sie zeigt ihm die Bilder vom Enkel, dem kleinen Engel in Übersee. Das kleine Album, ein Raum voller Geschichten und Geschichte - voller Leben; praller Vergangenheit und viel Zeit. Der Geistliche sitzt ihr gegenüber. Sie, die den kleinen Löffel, mit dem sie eben noch gedankenverloren gespielt hatte, an den rechten Rand des zart bemalten Tellerchens gelegt hat. Sie reden miteinander. Oder besser sie redet. Plötzlich ein überraschender Satz um Gespräch zwischen der Frau mit dem Löffel und dem Geistlichen. „Herr Pastor“, beginnt sie forsch, während die anderen sich von ihren Geschichten nicht abbringen lassen, „darf ich Ihnen heute ein Versprechen abnehmen?“ „Gern“, erwiderte der Geistliche, sichtlich überrascht. „Sie müssen mir heute etwas versprechen!“ Dabei nimmt sie den kleinen Löffel wieder in die Hand. „Gerne,“ stotterte wiederholt der doch eigentlich lebenserfahrene Pastor, „was kann ich denn für Sie tun?“. „Sie müssen mir versprechen, dass Sie mir bei meiner Beerdigung so einen kleinen Löffel mit in den Sarg legen.“ Sie sagte das mit einer Überzeugung und Selbstverständlichkeit, die diesen ungewöhnlichen Wunsch noch bizarrer anmuten ließen, als er eh schon ohne jede mimische Untermalung gehabt hätte. „Nun, ich glaube und hoffe nicht,“ wand sich der Pastor, um seine Sprachlosigkeit nicht zu sehr spürbar werden zu lassen, „dass ich Sie so bald beerdigen werde müssen, liebe Frau Meyer.“ - obwohl er sofort erkennt, wie sehr er sich damit verraten hatte - „Sie müssen mir das versprechen“ ignorierte sie den Einwand.
„Einen Löffel?“ - „Solch einen Löffel!“ Der Pastor zeigte auf ihre rechte Hand, die das „Spielzeug“ von eben fest umklammerte. „Genau, so einen Löffel.“ Der Geistliche zog die Augenbrauen etwas zusammen. Die Fragezeichen sprangen ihm nur so aus dem Gesicht. „Aber warum das denn, Frau Munkler?“ „Ach, wissen Sie, Herr Pastor, ich lebe seit vielen Jahren hier in den Seniorenheim. Es gefällt mir. Es ist gemütlich. Auch die liebevoll gedeckten Tische zum Essen. Nur am Nachmittag die Kekse die waren nie mein Fall, aber sie schmecken den anderen.“ „Ja“, nickte der Geistliche und verstand immer noch Bahnhof. „Aber immer wenn ich mittags an den Tisch kam und es lag neben dem Teller so ein keiner Löffel, dann wusste ich schon beim Platznehmen, dass da noch was kommt.“ Nun riss der Geistliche die Augenbrauen in die Höhe. Er brauchte mehr Erklärung. „dass da noch etwas kommt?“ wiederholte er ungläubig. „Ja, ich wusste dann immer, das Beste kommt zum Schluss. - Wissen Sie, Herr Pastor, ich hab die Geburtstage meiner lieben Freundinnen hier im Haus nicht im Kopf. Aber wenn so ein kleiner Löffel neben dem Teller liegt, war klar, eine von ihnen hat heute Geburtstag. Das ist wunderbar. Denn dann kommt nach den Mittagessen, immer noch ein sagenhaftes Dessert. Ein Kuchen oder irgendeine andere bezaubernde Leckerei. Kurz: Das Beste kommt immer zum Schluss. Also, wenn ich herkomme und diesen kleinen Löffel liegen sehe, freue ich mich schon die ganze Zeit auf das letzten Teil des Mittagessen. Denn das Beste kommt zum Schluss.“ – Der Geistliche verharrte in seinem fragenden Blick. Sie lächelte ihn an. Legte den Kopf auf die Seite. Begann zu sprechen. „Herr Vikar“, sagte sie sanft, „bitte geben Sie mir meine Lieblingsbibel und so einen kleinen Löffel mit in den Sarg, wenn ich gehe. Wenn ich gehen muss, dieses schöne Leben für mich zu Ende geht, dann will ich beides bei mir haben. Denn wenn ich eines verstanden habe und fest daran glaube, das ist: Das Beste kommt zum Schluss. Das gilt doch auch für das Leben, nicht wahr, Herr Pastor?“ Während sie dies sagte, spielte sie wieder unbemerkt mit dem Löffel, als wenn sie noch wartend in die Ferne blickte. „Versprechen Sie mir das?“ „Ja,“ sagte der Geistliche sichtlich berührt, „das verspreche ich Ihnen… das verspreche ich Ihnen.“ - Noch Jahre später war dieser kleine Löffel im Sarg der Verstorbenen ein Gesprächsthema.

Diese kleine Geschichte hörte ich erst heute Abend wieder... und ich ahne, sie kann auch vielen anderen Mitmenschen gefallen!

Bürgerreporter:in:

Christel Pruessner aus Dersenow

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