Drei Golfer auf Abwegen

... ein Beladener auf dem Jacobsweg - Günter Hörnig ...
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Alles begann im letzten Jahr. Günter Hörnig, ein golfbesessener Siebzigjähriger aus Bredenbeck, verschwand grußlos im Aprilregen. Das war eher ungewöhnlich und eigentlich nicht seine Art. Hatten wir Grund, uns Sorgen zu machen? Nachgefragt teilte man mir mit, Günter sei auf Pilgertour. Er laufe den Camino vom französischen St Jean Pied de Port rund achthundert Kilometer zum spanischen Santiago de Compostela.

Günter war zurück. Er war anders. Zwölf Kilogramm leichter. Schlohweißes Kopfhaar betonte die sonnengebräunte Haut seines Gesichts. Aber was war anders an ihm? Natürlich: Ein schlohweißer Vollbart zierte nun sein gewöhnlich glattrasiertes markantes Kinn.

Achthundert Kilometer per pedes. Über Stock und Stein und murmelnde Bäche, vorbei an romantischen Ortschaften, auf deren Kirchtürmen Störche zuhauf nisteten. „Bis zu achtunddreißig Kilometer am Tag“, erzählte Günter, „zerren an der Substanz. Was glaubst du“, fragte er schmunzelnd, „was die Leute so alles mitschleppen?“ Sechszehn Kilo auf dem Rücken, das hatte Günter getragen. Seinem brillanten Aussehen nach hatte er die Strapazen sogar genossen, ebenso wie die Übernachtungen in Herbergen am Wegesrande.

Was hatte Günter zu solch einem Kraftakt bewogen? Was wollte er sich und anderen damit beweisen? Die Wanderung durch die Pyrenäen allein war schon eine Herausforderung für ihn. Denn die Sonne schien nicht, sondern es regnete und regnete. War die Stimmung da nicht schon dahin? Günter wies das entschieden zurück. „Ich hatte den Plan gefasst, ich führte ihn aus“, sagte er. Seine Überzeugung motivierte auch seinen Mitpilger.

Vier von sechs Wochen regnete es. Und kalt war es. So ist auch das schwere Gepäck einleuchtend, das auf dem Rücken lastete. Der erste Tag lieferte einen Vorgeschmack auf das, was kommen würde. Start in zweihundert Höhenmetern. Es regnete. Im mittleren Pyrenäenbereich hagelte es. Und in 1.300 Metern, als Günter und sein Mitläufer die Rolandsquelle erreichten, schneite es. Die Rolandsquelle ist geschichtsträchtig, denn dort wurde der Paladin Karls des Großen von Sarazenen ermordet. Zwei Tage, nachdem Günter den grausigen Ort verlassen hatte, sollen dort zwei Amerikaner erfroren sein, die bei einer Rast am Wegesrand vor Erschöpfung eingeschlafen waren.

Was Günter aber besonders beeindruckt hatte, war die Begegnung mit Menschen, die gleich ihm dem Motto folgten: „Das Ziel ist der Weg.“ Bescheidenheit auf dem Pilgerweg sei erste Pflicht, merkte er an, und es klang wie der Aufruf, aufmerksam zu sein. Helfe, so wird dir geholfen – auf dem Pilgerweg, so Günter, sei keiner lange allein, der nicht allein sein will.

Günters Schilderungen machten mich neugierig. Doch zu Fuß – das wollte ich mir nicht antun. Da eine andere Variante des Pilgerns, nämlich hoch zu Esel, für mich nicht in Frage kam, blieb nur noch eine Möglichkeit, den Jacobsweg mit einem Drahtesel zu bezwingen.

Wochenlang bereitete ich mich in diesem Frühjahr vor. Fuhr mit dem Bike in Etappen pro Woche rund zweihundert Kilometer. Denn für Ungeübte, so die Reisebeschreibung des Organisators, würden die Strapazen, die Bikern mehr Steigungen als Gefälle entgegensetzten, schwer zu packen sein.

Wenige Kilometer von meinem Trainingslager entfernt pedalte sich Klaus Urbanek aus Gehrden warm. Klaus, ebenfalls vom Bacillus Golferus gepackt, hatte in diesem Frühjahr anderes im Kopfe. Er lebte den Traum, Amerika von West nach Ost zu durchqueren. Mit einem Rennrad. Als 70-jähriger. Klaus hatte sich ein Kilometerpaket von rund 5.000 Kilometern geschnürt. Wer ihn kannte, zweifelte nicht daran, dass er sein Vorhaben in die Tat umsetzen würde. Bis zur Abreise in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten strampelte er tagtäglich Kilometer um Kilometer mit seinem Rennrad durch die Region Hannover. Vor der Pflicht kam allerdings stets erst die Kür – die Runde Golf am Deister.

Was also trieb uns drei Golfer zu so außergewöhnlichen Leistungen, wobei meine Eigene einen eher bescheidenen Beitrag zu dieser Story liefert? Ich erinnerte mich an das Tagebuch eines amerikanischen Journalisten im National Geographic. Roff Smiths Ehe war zerbrochen. Er war frustriert und, wie er seinem Verleger mitteilte, brauchte er eine Auszeit, um klare Zukunftsentscheidungen treffen zu können. Das brachte ihn auf die verrückte Idee, fernab von Amerika den australischen Kontinent mit dem Fahrrad zu umrunden.

Doch muss man erst geschieden sein, damit neue, andersartige Herausforderungen Männern gleich Red Bull Flügel verleihen? Jeder hat einen innewohnenden Traum. Günters und mein Traum lag in der harschen Erhabenheit des geschichtsträchtigen Pilgerpfads Camino. Klaus’ Traum knüpfte eher an den Pioniergeist amerikanischer Einwanderer an - nur das Er statt auf einem Pferd mit einem Rennrad die neue Welt bezwang.

Ich googelte den Jacobsweg, zog mir Reisebeschreibungen rein und alleine die Schilderungen, mit zehn, zwanzig, dreißig oder mehr Typen in einem Raum schlafen zu müssen, die schnarchten, von anderen Geräuschen einmal abgesehen, nein, heulte mein innerer Schweinehund auf. Nein, das ist nicht dein Ding!

Natürlich gab es auch für Zivilisationsgeschädigte wie mir allfällige Angebote. Eines davon gefiel mir besonders gut: Nämlich eine geführte Radtour mit überschaubaren Tagesleistungen an Kilometern und Hotelbetten am Ende des Tages. Ich buchte.

Ankunft Leon, gut dreihundert Kilometer vom Zielort entfernt. Treffpunkt in Carrizo de la Ribera. Das Hotel in einem Zisterzienserkloster. Das Santa Maria del Rey. Der Ort selbst wenig einladend. In die Klosterkirche müsst ihr gehen, empfahl unsere Crewchefin. Um einundzwanzig Uhr. Dann halten die Nonnen Andacht, singen gregorianische Lieder.

In der Kirche saßen wir dem Altar zugewandt. Im Rücken das Chorgestühl. Die Nonnen hinter uns. Eine Vorbeterin leitete die Andacht. Ihre leise Stimme kam aus einem fernen Lautsprecher. Dann – Orgelklang, spanische Trompeten, Stimmen setzten ein. Leise, dann anschwellend, eindringlich, eingehend, einfach nur schön.

Jeder der sechs Tage Tournee führte uns durch abseits gelegene Orte. Vorbei an niedrigen Häusern aus grauem Naturstein gebaut. Oft mit eingefallenen Dächern, Getreidespeichern auf Stelzen. Überall der Odem von Silage und Mist. Rosen in allen Farbschattierungen warfen dekorative Farbkleckse auf das triste Grau der Mauerwerke. Kaum junge Menschen sieht man auf den Höfen. Stattdessen halten knotige Hände steinalte Stöcke, mit denen Rindvieh zur nächsten Weide gelenkt wird. In schattigen Hohlwegen grüne Fladen ihrer Hinterlassenschaften. Als Radfahrer sieht man sie nicht, fährt hindurch, Kot spritzt und bleibt an den Waden kleben. Was solls, die duftende Dekoration der Schienbeine gehört zum Jacobsweg dazu wie der Pilgergruß "Bon Camino".

Atemberaubend die Postkartenpanoramas, Steinwälle grenzten Wiesen und Felder ein. Typisch keltisch. Wälder und Hügelkuppen querte ich, über mir Schäfchenwolken, ich bin eins mit mir, meinem Bike und meinen Gedanken. Was wollte ich mehr?

Immer wieder schweiften meine Gedanken ab zu Günter. In jedem der wandernden Pilgergesichter glaubte ich ihn zu erkennen, unter schwerem Gepäck, schwer atmend. „Bon Camino“ riefen wir uns zu. Manchmal kam die Antwort gequält zwischen den Zähnen hervor, während die Füße der Beladenen in den schweren Schuhen oft nicht mehr vorwärtsgehen wollten.

Als wir schließlich den Monto Gozo erreichten, war das Finale nahe. Santiago de Compostela ante portas. Die Kathedrale, der Star der Pilger, ist Schlusslicht unserer Reise. Klein und müde kommen wir uns vor, gleichwohl glücklich, angekommen zu sein. Ob per pedes oder per Rad, oder per Pferd oder Esel, die Idee ist es, die jene Menschen auf diesen Trip treibt, die sich auf dem Vorplatz der Kathedrale in die Arme fallen, sich auf die Schultern klopfen, sich alle Gute wünschen, in allen Sprachen, jeden Alters.

Natürlich ist die Frage nach den Motiven einer solchen Reise erlaubt. Kurz gesagt offenbart sich die Antwort allen, die Augen haben zu sehen und Ohren haben, zu hören. Spätestens in der Mittagsandacht in der Kathedrale springt der Pilgerfunke über, dann, wenn atmosphärische Schwingungen die Kirche füllen, wenn eine Ordensschwester mit perfektem Sopran „Großer Gott wir loben dich“ anstimmt und der Organist die Ventile der spanischen Trompeten öffnet und Längs- und Querschiffe vibrieren lassen und wenn die Sonnencreme in den Augen zu brennen beginnt, dann weißt du, dass du dein Ziel erreicht hast.

Einen Armeerucksack gefüllt mit glanzvollen Erlebnissen brachte auch Klaus aus Amerika mit. Braungebrannt, hager, kurzum ein zäher Brocken, führte sein erster Weg auf den Golfplatz. „Vierzehn Staaten von Amerika habe ich durchfahren“, versuchte er, die lange Reise abzutun, „4.877 Kilometer von Oceanside in Kalifornien bis Annapolis in Maryland im Sattel, rund 160 Kilometer am Tag.“

Eigentlich war er mit dem knappen Kommentar schon am Ende seines Reiseberichts angelangt. Doch er vergaß nicht, auf die wunderbare Leistung seiner Frau Rosel hinzuweisen. „Ohne sie“, sagte er, „hätte ich das nicht geschafft.“ Rosel Urbanek fuhr mit einem Pick up Truck vorweg, mit Ersatzteilen und Getränken, die der Radler in der Tageshitze nötigst brauchte. Geschlafen wurde in Motels entlang den Straßen, die Klaus bezwang. Mittlerweile eilte ihm der Ruf des verrückten German voraus. Sein Bildnis erschien in verschiedenen amerikanischen Zeitungen.

Dass Klaus als Paradiesvogel angesehen wurde, erlebte er hautnah in einer Motelbar, in die die beiden sich eines Tages vor der Abendhitze flüchteten. Stockdunkel sei es darin gewesen, sagte Klaus. Aber das sei ihm egal gewesen, er hatte Durst auf ein Bier und davon sollte er mehr als genug bekommen. Aus dem Dunkel heraus wurde er von einem Ami angesprochen auf seine merkwürdige Verkleidung. Das sei Radfahrerkleidung erklärte Klaus, ich bin mit dem Fahrrad unterwegs durch Amerika. „Der Staatenbürger schüttelte ungläubig den Kopf“, erzählte Rosel, „die können sich ja nur mit ihren Sprit fressenden, klimatisierten Limousinen fortbewegen.“

Klaus’ Leistung wurde belohnt: Getränke flossen, Essen kam auf den Tisch, Übernachtet wurde kostenlos in Eldon nahe dem bekannteren Ort St. Louis in Missouri.

Während der Reise gab es außer ständig wechselnden Landschaften kaum Aufregendes, von den 40.000 Höhenmetern, die es auf der Reise zu überwinden galt, einmal abgesehen. Tagelang Langeweile, alle hundert Kilometer mal Begegnung mit einem Auto. Doch dann hatte ihn eine freilaufende Kuh im Navajo-Reservat Mesaverde wahrgenommen: In seinem bunten Fahrraddress wirkte er auf sie wohl wie ein “Rotes Tuch“. Allerdings blieb sie friedlich, so Klaus, stattdessen lief sie ein Stück Wegs hinter dem Truck hinterher.

Je näher sich der Urbanek-Konvoi dem Ziel näherte, umso windiger wurde es. Streckenweise radelte Klaus im Windschatten des Trucks durch die bergige Landschaft. Die letzte Etappe stellte sich Klaus entgegen, wie siebzehn Mal der Ninstedter Pass zwischen Barsinghausen und Eimbeckhausen. Wer diesen Pass schon geradelt ist, weiß, was das bedeutet.

In Annapolis verloren sich Rosel und Klaus kurz aus den Augen. Per Mobiltelefon lotste sie ihn zum Hafen. So wie die beiden Caminofans hatte auch Klaus sein finales Erlebnis. Rosel und eine Fangemeinde begrüßten den erschöpften Radler.

Schließlich merkte Günter an, dass es in den Kirchen Nordspaniens kälter sei als in klimatisierten Häusern. Das würde aber nicht über die Kulturschätze am Wegesrand hinwegtäuschen. Orte der inneren Einkehr, Naturschätze gäbe es dort zuhauf. Klaus legte nach und verwies auf die Gastfreundschaft der Amerikaner, die er oft erleben durfte. Als gemeinsames Motto legten die drei Golfer fest: „Wer kämpft, kann verlieren – wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Das Ziel ist der Weg. Bon Camino.

Bürgerreporter:in:

Friedrich Schröder aus Springe

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