Erfahrungen eines Ahnungslosen

Nun hatte ich mich entschlossen! Ich wollte in die Ukraine.

Freunde hatten mich mehrmals nachdrücklich eingeladen und im Mai 2006 brach ich für einige Wochen auf. Das Programm war auf 4 bis 6 Wochen angelegt.

Alles war gut vorbereitet. Da und dort hatte ich mich kundig gemacht und viel Gepäck hatte ich mit, für alle Fälle, damit auch nichts Wichtiges fehlt. So groß und schwer war mein Koffer bisher bei keiner Reise. Es ging ja auch in ein Land, das nicht den Ruf hatte, dass alle im Überfluss leben.

Mehrere Buchhandlungen hatte ich aufgesucht und nach passender Literatur und Landkarten gesucht. Verdammt rar und teuer sind diese Sprachführer und Wörterbücher. Schließlich fand ich eins, mit den wichtigsten Redewendungen in einer für mich lesbares Schrift. Da stand nun drin: "Haben sie ein Zimmer frei für eine Nacht?" - "Wohin fährt diese Straßenbahn?" - "Kann ich bei Ihnen Tampons bekommen?" - "Ich habe Zahnweh" - "Wo startet der Zug nach Wladiwostok?" - "Hat die Apotheke auch nachts geöffnet?" - "Was kostet ein Flugticket nach Sankt Petersburg?". Alles extrem wichtige Sachen, natürlich mit perfekter Übersetzung in Lautschrift.

Dumm, ich konnte kein Wort Russisch oder gar Ukrainisch. Englisch und Deutsch, so sagte man mir, sind kaum verbreitete Sprachen und auf dem Land nicht zu erwarten, ja, selbst in Großstädten selten.

Klar, Wodka hätte ich noch bestellen können, aber ich trinke so selten, das gerade dieses Wort verzichtbar wäre. Außerdem, so hieß es, wird man mit Wodka sowieso ständig abgefüllt, auch wenn man nichts bestellt hat.

Aber ich habe schon so viele Länder bereist, ohne die Sprache zu können. Da bin ich immer mutig und zuversichtlich, dass ich mich durchfinde.

Eine elendig lange Bahnfahrt begann in Berlin. Die Nacht durch Polen habe ich überwiegend verschlafen, statt mein Sprachbüchlein zu studieren.

Ab der Morgendämmerung gab es draußen viel zu entdecken. Nichts Besonderes, aber für mich fremdartig und damit sehenswert. Dann kam die ukrainische Grenze, das interessante Umspuren, viele neue Eindrücke.
Natürlich verfolgte ich die Strecke auf der Landkarte. Aber immer suchte ich erfolglos nach dem Ort Вокзал. Das stand mehrmals groß an verschiedenen Gebäuden an den Haltestellen. Der Ort musste sehr groß sein, denn er hatte mehrere Stationen. Doch auf meiner Karte konnte ich ihn nicht finden. Na ja, vielleicht noch ein alter Druck aus Sowjetzeit, da wurden ja einige Karten "korrigiert" wegen der westlichen Spionage.
Der Kartenindex, auch das Wörterbuch brachten nichts. Die hatten nach dem A nicht mal ein richtiges B, sondern ein Б und das C fehlte total am Anfang. Das haben sie nach hinten verschoben. Oh, diese blöden Russen, nicht einmal das ABC haben sie drauf!

Nun, irgendwann begriff ich es, dass das ABC bei denen vielleicht АБЦ heißt und СССР (ich lese ze-ze-ze-pe) eigentlich die SSSR ist. Eigenartige Menschen. Beim R vergessen sie ein Strich und machen ein Р daraus, dafür haben sie das R und N gespiegelt, aber Я und И kann man noch mit etwas Fantasie lesen. Doch sie sagen "ja" und "I" dazu.

Selbst Zahlen wie 3 haben sie im Alphabet, aber erst an 8. Stelle. Dann diese Verzierungen: Durch das O und X machen sie einen senkrechten Strich, dass es wie Ф und Ж aussieht (oder sind es zwei verfeindete K, die Rücken an Rücken stehen?) und sie nennen es F und Z oder so ähnlich. Das W ist total eckig geraten, sieht aus wie Ш und wird zu allem Überfluss noch "Sch" genannt. Wichtige Buchstaben fehlen total, dafür haben sie andere Hieroglyphen erfunden, die kein Mensch lesen oder gar aussprechen kann. Kein Wunder, dass das Sowjetsystem bei dem heillosen Durcheinander zusammengebrochen ist. Aber schon wieder hielt der Zug in Вокзал. Noch einmal langsam buchstabieren: B, o, ein geschrumpftes K, dann eine 3, zwischendurch ein kleines a und dann ein verbogenes n. Wie spricht man Bok-drei-an richtig aus? Vielleicht ist з keine zu klein geratene 3 sondern ein verdrehtes, gerundetes Mini-E? Also Bokean?

Noch eine weitere Station hat diese riesige Stadt. Schon bald zwei Stunden lang fahren wir hindurch, sie hat einen gewaltigen Grüngürtel und zwischendurch nur wenige Häuser. Auf keiner Karte steht Bokean und sie ist doch so groß.

Wie lange fährt man denn dann durch Großstädte wie Kiew oder Kiev, das die auf der Karte mal Киïв aber auch Киев schreiben Knib? Kneb? Na, die probieren bestimmt noch und sind sich nicht sicher.

Selbst bei Lemberg, was ja jetzt wahlweise Lwiw oder Lwow heißt, machen sie Schreibübungen : Nbbib (Львiв) oder Nbbob (Львов). Das macht einen gebildeten Mitteleuropäer total konfus.

Schon wieder ein Bahnhof in dieser Monster-Stadt. Nun Frage ich endlich eine nette Frau, die etwas Deutsch versteht, in welchem Ort wir denn sind. "Sariji (САРИЫ)" sagt sie freundlich.

"Aber da steht doch groß ..." und ich weise auf die Aufschrift am Gebäude.

"Nein, das da am Haus? Woksal? Das heißt auf Deutsch Bahnhof!"

Oh, mit der wüsten Propaganda von der sowjetischen Großmacht bin ich aufgewachsen und die Ukraine, die ja ein beachtlicher Teil davon war - viel größer als unser Deutschland - besteht aus lauter kleinen, verstreuten Nestern mit tollen Bahnhöfen!

Immerhin, nun kannte ich ein neues Wort: Woksal, das wie Вокзал aussieht.

Bürgerreporter:in:

Klaus-Peter Gadacz aus Beelitz

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