Sozial- und Caritaswissenschaftler Heinrich Weber
Heinrich Weber (geb. 20.10.1888 in Röllinghausen b. Recklinghausen, gest. 29. 08. 1946 in Münster/W.) hat in der Umbruchszeit der Weimarer Republik und, soweit es der einschränkende politische Rahmen der nationalsozialistischen Diktatur zuließ, auch noch über diese Zeit hinaus, wegweisende Akzente für Sozial- und Wirtschaftsethik und für Theorie und Praxis der Caritasarbeit gesetzt. Er war Professor für Wirtschaftswissenschaften, Gesellschaftslehre und Fürsorgewesen in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster, hatte zudem einen Lehrauftrag für Christliche Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät, war viele Jahre gleichzeitig Vorsitzender des Diözesan-Caritasverbandes Münster, des Fachausschusses Caritaswissenschaft sowie der Finanzkommission der Zentrale des Deutschen Caritasverbandes (DCV) und Mitglied seines Zentralrates und seines Zentralvorstands. Seit 1935 leitete er ehrenamtlich zudem die Bischöfliche Finanzkammer der Kölner Kirchenprovinz und seit 1936 (nach seiner Zwangsversetzung durch das nationalsozialistische Regime an die Universität Breslau) das Institut für kirchliche Verwaltung und Finanzwirtschaft in Breslau. Nach 1945 gehörte er zu den Gründern der Sozialforschungsstelle Dortmund, der lange bedeutendsten Sozialforschungsstätte in Deutschland, und war ihr erster Direktor. Diese einmalige Kombination von Aufgaben hat ihn gefordert, Kenntnisse und Einsichten miteinander zu verknüpfen, die sonst verschiedenen Experten vorbehalten sind.
Weber hat nicht allein eine Fülle von Themen im Bereich von Sozial- und Wirtschaftsethik, Finanzwissenschaft, Wohlfahrtskunde und Caritaswissenschaft aufgegriffen, sondern darüber hinaus in erstaunlichem Maße ausgebaut und vertieft. Als einer der ersten Theologen hat er empirisch soziologisches Wissen in theologische und philosophische Theorie und die praktische Gestaltung von Kirche eingebracht und ist damit ein Brückenbauer der Kirche in die Moderne gewesen. Heinrich Weber war von seiner Herkunft her ohne Zweifel vom Milieukatholizismus als der unter Katholiken vorherrschenden Sozialform geprägt, und er hat als so geformte und doch selbstbewußte Persönlichkeit in diesen Sozialkatholizismus anregend, gestaltend, ermutigend und stabilisierend hineingewirkt. Dies war ihm aber nur möglich, weil er bewahrende und vorwärtsweisende Elemente in seiner Person zu verbinden vermochte. Er hat es verstanden, seine katholisch geprägte Identität in den Diskurs der Wissenschaften einzubringen und insofern zahlreiche Kontakte zu Personen in Wissenschaft, Politik, Verwaltung, Gesundheitswesen und praktischer Sozialarbeit zu knüpfen, die eine liberal-protestantische oder gewerkschaftlich-sozialdemokratisch orientierte Sozialisation erfahren hatten. Er hat seine eigene engagierte christliche Position in diesem Diskurs nie verschwiegen, aber er hat aufmerksam andere Positionen wahrnehmen und in seinem Denken berücksichtigen können. Er hat von ihnen gelernt, ohne das Eigene zu verraten. In seinem Handeln und in seinem Dialog ist er glaubwürdig gewesen. Aufgrund dieser Integrationskompetenz konnte er sich einbringen in die Entwicklung der Sozialen Arbeit, ihre Aus- und Fortbildung und die bewußte und gezielte Reflexion dieser Sozialen Arbeit, die in der Umbruchszeit der Weimarer Republik einen vorwärtsweisenden Schub erfuhr, und so erheblich zu ihrer Professionalisierung und Verwissenschaftlichung beitragen. Er gilt als einer der Klassiker der Sozialen Arbeit.
Vorbildhaft selbst für spätere Generationen ist seine Fähigkeit der Verknüpfung von Theorie und Praxis. Weber hat gewußt und in seinen wissenschaftlichen Arbeiten durchgehalten, dass die Theorie die Praxis nicht ignorieren darf, vielmehr von den tatsächlichen praktischen Verhältnissen ausgehen, sich an ihnen orientieren und vor allem an ihnen erproben lassen muß. Er selbst hat in der Praxis der Wohlfahrt gearbeitet und ist während seiner gesamten wissenschaftlichen Tätigkeit mit der Praxis in Fühlung geblieben. Er hat aber auch hervorgehoben, dass die Praxis sich ohne die richtungsweisende Theorie nicht zurechtfinden kann, wie er immer wieder an verschiedenen Stellen seines umfangreichen Werkes betonte: „Praxis sine theoria est caecus in via.“ (Praxis ohne Theorie ist auf dem Weg blind). Seine wissenschaftliche Methode, die in vielen seiner Bücher und Artikel durchschlägt, könnte heute als Handlungsforschung bezeichnet werden: Forschung aus dem Handlungsfeld über das Handlungsfeld für das Handlungsfeld. Seine Handlungsforschung war Handlungsforschung in theologisch-caritativer Perspektive, die später weithin wieder vergessen wurde und mühselig wieder entdeckt werden muß. Weber beschrieb die caritative Praxis nicht einfach reduplizierend, sondern begleitete sie, wenn erforderlich, mit kritischer Reflexion. Er scheute nicht, Fehlentwicklungen und Mißstände in der caritativen Arbeit zu benennen, dies aus der selbstauferlegten Distanz eines engagierten und durchaus von der Not leidender Menschen betroffenen und einfühlsamen Wissenschaftlers, der einen geschärften Blick für den Kairos der Situation hatte und erkannte, welche Maßnahmen und Reformen in welcher Notlage am zweckmäßigsten zu ergreifen waren. Seine Kritik erwuchs aus der aufmerksamen Beobachtung und der Reflexion caritativer Praxis in theologischer Perspektive. Seine erfahrungs- und handlungsorientierte Theorie vermochte er zudem in verständlicher, in einer für seine Zeit erstaunlich modernen Wissenschaftssprache mit einem ausgeprägten Gespür für Stilsicherheit und Wortgewandtheit darzulegen.
Seine wirtschaftswissenschaftlichen wie auch seine organisationssoziologischen Kenntnisse bewahrten ihn in einer ideologieträchtigen Zeit vor verzerrender Ideologiebildung. Seine sozialpolitischen und sozialpädagogischen Perspektiven, Zielsetzungen und Maßstäbe waren nüchtern und realistisch. Wie sein Vorgänger Franz Hitze an der Universität Münster hatte er ein Gespür für die Notwendigkeit nützlichen Detailwissens zur Bewältigung der konkreten sozialen Probleme seiner Zeit. Weber ist über dieses Detailwissen nicht zu einem begrenzten und einseitigen Experten geworden. Er vermochte es einzuordnen in die grundlegenden und entscheidenden Orientierungslinien seines Denkens, dessen Schwerpunkt in sozialethischer und theologisch-caritativer Perspektive lag, das aber seine wichtige und lebensgestaltende Ergänzung in den Sozial-, Wirtschafts- und Kulturwissenschaften fand.
Die Kombination seiner Themen ist bis heute nicht weiter verfolgt worden. Die Zeit des Nationalsozialismus und sein früher Tod in der unmittelbaren Nachkriegszeit haben die Kontinuität seines Denkens und Forschens im Bereich der Caritas- und Fürsorgewissenschaft verhindert. Die Nachkriegswissenschaftler, auch der Christlichen Sozialwissenschaften, waren mit neuen Sorgen des Wiederaufbaus und des demokratischen Neubeginns so sehr beschäftigt, daß sie nicht mehr aufgriffen, was Heinrich Weber in der Zeit der Weimarer Republik gedacht und angestoßen hatte. Hinzu kam, daß die Sozialethiker der Nachkriegszeit weithin Fragen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik nicht mehr reflektierten und in das Gesamtkonzept ihrer wissenschaftlichen Fragestellung einbezogen.
Die Verknüpfung der von Weber überschauten und integrierten Wissenschaftsdisziplinen ist nicht mehr gepflegt worden, sie ist Webers bisher einmalige Leistung geblieben. Der Verbindung von Wirtschaftswissenschaften und Sozialethik wenden sich auch in der Gegenwart häufiger Forscher zu; aber der gleichzeitige Einbezug der Wohlfahrtskunde und Fürsorgewissenschaft, der heutigen Sozialarbeitswissenschaft, und der Caritaswissenschaft als theologischer Disziplin ist über Jahrzehnte vernachlässigt worden. Dabei hat der soziale und der wirtschaftliche Beitrag der Sozialarbeit im Rahmen des gesamten sozialökonomischen Handelns und der Sozialpolitik eher zugenommen.
Obwohl sich die Berufsfelder der Sozialarbeit in den letzten Jahrzehnten stark vermehrt und erweitert haben, wurden die sozial- und wirtschaftsethischen Grundlagen der Theorie und Praxis der Sozialarbeit kaum mehr bedacht, zum Nachteil der Ausbildung und Klientel Sozialer Arbeit. So erfährt die Gesellschaft zwar einen beachtlichen und nicht zu unterschätzenden Ausbau der sozialen Organisationen und Institutionen; aber der organisatorische und institutionelle Ausbau garantiert nicht, daß die caritative und solidarische Gesinnung damit Schritt hält.
Organisationen können, wie Weber bereits erkannte, Selbstzweck werden. Es droht in einer rational organisierten Welt vergessen zu werden, was Weber in seinen Vorträgen, Vorlesungen und Publikationen bei aller nüchternen Betrachtung der Organisationsprobleme und der Wirtschaftlichkeit von Wohlfahrtspflege und Caritas in der Sprache seiner Zeit hervorgehoben hat: „Der caritative Geist ist die Grundlage jeder Caritasarbeit. Die schönsten Statuten und Instruktionen sind wirkungslos, wenn nicht alle Gemeindeangehörigen, namentlich die Mitglieder der caritativen Vereine, von echter Caritasgesinnung durchdrungen sind. Nur aus dem Caritasgeist kann die Caritastat hervorwachsen, und die Caritastat wird umso freudiger und reicher sein, je tiefer und wahrer der Caritasgeist ist.“ Bei Weber lassen sich spirituelle Grundgedanken für ein modernes Leitbild von Caritas finden.
Quellen:
Manfred Hermanns: Heinrich Weber. Sozial- und Caritaswissenschaftler in einer Zeit des Umbruchs. Würzburg: Echter 1998.
Manfred Hermanns: Sozialethik im Wandel der Zeit. Paderborn: Schöningh 2006.
Manfred Hermanns: Weber, Heinrich Wilhelm. Sozial- und Caritaswissen-schaftler. In: Neue deutsche Biographie. Bd. 27, Berlin: Duncker & Humblot 2020, S. 492-494.
Heinrich Weber: Sozial-caritative Frauenberufe. 2. Aufl. Freiburg i.Br.: Caritas-Verlag 1919.
Heinrich Weber: Das Lebensrecht der Wohlfahrtspflege (= Staatswissen-schaftliche Beiträge, Bd. 6). Essen: Baedeker 1920.
Heinrich Weber: Jugendfürsorge im Deutschen Reich. Einführung in Wesen und Aufgaben der Jugendfürsorge und das neue Reichsjugendwohlfahrtsgesetz. Freiburg i.Br.: Herder 1923.
Heinrich Weber: Die Organisation der katholischen Unterstützungsfürsorge. In: Caritas, Jg. 33 (1928), S. 207-220.
Heinrich Weber: Caritas und Wirtschaft. In: Franz Keller (Hrsg.), Jahrbuch für Caritaswissenschaft. Freiburg i.Br. 1930, S. 9-36.
Heinrich Weber: Wesen der Caritas (= Caritaswissenschaft, Bd. 1). Freiburg i. Br.: Caritasverlag 1938.
Bürgerreporter:in:Manfred Hermanns aus Hamburg |
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