Schräge Gedanken, Teil 4
Als ich heute morgen um 0600 vom „Kek-kek-kek...“ einer Mönchsgrasmücke in der nachbarlichen Thujenhecke geweckt wurde, ahnte ich noch nicht, welche merkwürdigen Merkwürdigkeiten heute geschehen würden.
Ich zückte also die Kamera – als Fan der lokalen Fauna und Flora kann man sich ein solches Motiv doch nicht entgehen lassen – und schoss eine Reihe von Fotos des Vogels, der gerade Thujensamen zum Frühstück verputzte und sich dabei mit einem Artgenossen wenige Gärten weiter unterhielt. Auf Anraten eines Lesers habe ich sogar ein Tischstativ oben auf einem Laborwagen, den ich als Nachttisch zweckentfremde, zwischengelagert, da bei den Fotos vor Sonnenaufgang die Belichtungszeiten zu lange werden, um Freihand unverwackelte Bilder zu produzieren. Aber zur Not geht es auch mit Abstützen auf dem Fensterrahmen.
Ich hatte zwar erst knapp zwei Stunden geschlafen, aber irgendwie passierte draußen viel zu viel, um jetzt noch weiter zu pennen. Also habe ich den Vögeln zugeschaut und weiter fotografiert. So gegen 0615 landete dann ein Mönchsgrasmückenweibchen in der Tamariske in der Einfahrt, auf der Straße hüpfte eine Nachtigall aus der Hecke auf der anderen Straßenseite, lief ein wenig auf dem Gehweg herum und verschwand dann wieder in der Hecke. Inzwischen fliegen sie nicht mehr mit ihren Jungen – das machen sie nur etwa zwei Wochen lang – sondern leben wieder alleine und lassen sich so gut wie gar nicht mehr sehen.
Mittlerweile waren die beiden Mönchsgrasmücken abgeflogen, und ein junges Grünfinken Männchen besuchte jetzt die Thujen und vertilgte eine größere Menge ihrer Samen.
Eigentlich sollte jetzt, wie jeden Tag um diese Zeit, die Amsel, die im Haselnussstrauch vor meinem Fenster wohnt, aufwachen und in der nachbarlichen Wiese nach Würmern suchen, aber die schien entweder verschlafen oder auswärts übernachtet zu haben. Zumindest ließ sie sich nicht sehen. Einer der Blackbirds flog mit lauten „Krrakk“ vorbei und landete am Ende der Straße auf einer alten Fernsehantenne. Oder zumindest auf den Teilen, die davon noch übrig waren. Ich hab mir die Antenne – zusammen mit dem Vogel darauf – vor ein paar Jahren mit einem Feldstecher angesehen: Damals hingen nur noch ein paar Elemente am Tragrohr, aber der Blackbird versuchte trotzdem, sich auf die Direktoren – so heißen die kleinen Querstangen von Yagiantennen – zu setzen, was deren Befestigungen aber nicht lange aushalten. So ein Blackbird ist einfach zu schwer...
Als ich an die Yagi dachte, musste ich innerlich grinsen, weil mir die alten Geschichten um diese Antennen wieder einfielen. Ich hatte Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre mit diesen Antennen experimentiert, einen Array für das 70 Zentimeter Amateurband gebastelt und den Antennengewinn auf phantastische 15,7 dB über Dipol hochgetrieben. Damals fand ich in den Elektronikkatalogen simple Fernsehantennen, die mit einem Gewinn von 12 bis 16 dB angepriesen wurden. Und das mit einem Bruchteil des Aufwands, den ich getrieben hatte. Natürlich hab ich sofort nachgerechnet, wie hoch der Gewinn dort tatsächlich sein kann, und kam auf Werte zwischen 3 und 7 dB. Was durchaus realistisch war. Woher kamen dann diese absurd hohen Zahlen? Von den Werbefuzzies. Die stehen auf große Zahlen. Unabhängig davon, wie sinnlos die auch sein mögen. Die gewinnen schon mal 2,7 dB, weil sie den Gewinn nicht über Dipol, sondern über einem isotropen Strahler angeben. Das ist eine – nur theoretisch denkbare – punktförmige Antenne, die kugelförmig strahlt, also im Gegensatz zum Dipol keine Richtwirkung besitzt. Und der Rest? Das ist die „Mehrwertsteuer“.
Den Vogel abgeschossen hat damals aber eine Firma, die für ihre Fernsehantenne einen Gewinn von 21 (!!!) dB angab. Eine solche Antenne hätte einen Öffnungswinkel von unter 10° und wäre so sperrig, dass man sie auf einem Einfamilienhaus nicht mehr montieren könnte. Ich hab ausgerechnet, dass deren Antenne einen Gewinn von etwa 6 dB hatte. Woher kam dann diese Wahnsinnsangabe von 21 dB? Vermutlich waren das 21 dB über Dummyload. Eine Dummyload ist ein ohmscher Widerstand, der nicht strahlt und zum Testen von Sendern verwendet wird...
Dann wurde mein Gedankengang abrupt von einem rot-braunem Wusch unterbrochen, der von der Dachgaube meines Fensters sprang und ein paar Meter tiefer auf dem Vordach landete. Ein Eichhorn! Zum Glück war es bereits hinreichend hell für ein paar brauchbare Fotos aus der freien Hand. Das Eichhorn hektisierte etwa 2 Minuten lang auf dem Vordach und sprang dann in einem weiten Satz über die Einfahrt auf die Tamariske. In dieser Zeit gelangen mir knapp 20 Fotos.
Damit war an weiterschlafen endgültig nicht mehr zu denken, also ging ich in die Küche, presste schnell mein Frühstück ein, lief runter ins Labor und startete den Computer, um die Bilder ansehen zu können. Viele waren es nicht – insgesamt etwa 130 Stück – weshalb ich sie schnell sichten konnte. Da mich die Eichhornfotos tierisch begeisterten, zeigte ich sie gleich meinen Hintergründen.
Und die entdeckten auf einem der Bilder, dass der Abfluss der Dachrinne am Vordach verstopft war, weshalb ich mir eine Leiter schnappte, hochkletterte und den Schmodder aus der Dachrinne entfernte. Dabei fielen mir zwei Dinge auf: Auf den Dachplatten unter meinem Fenster lagen weiße Haare. Gleich mehrere Büschel. Und in der Dachrinne, ganz vorne über dem Windfang, lag völlig unmotiviert ein Stein!
Also stellte ich die Leiter nach vorne, kletterte wieder hoch und fischte den Stein aus der Dachrinne. 98 Millimeter lang, 445 Gramm schwer, Feldspat. Das Material findet man in der oberbayrischen Schotterebene in rauen Mengen, ein „Isarkiesel“. Aber wie kommt der Stein in die Dachrinne? Hier in Waldperlach pflegen sich diese Steine normalerweise in 50 Zentimeter Tiefe unter der Erde aufzuhalten. Sie kommen eigentlich nur ans Tageslicht, wenn irgendwo gebaut wird. Hm. Gebaut wird hier eigentlich dauernd. Es gibt kaum eine Straße ohne Baustelle. Also dürfte wohl eher die Antithese meiner ersten Überlegung richtig sein: Diese Steine liegen so gut wie immer an der Oberfläche…
Das erklärt aber immer noch nicht, wie der Stein aufs Dach kommt. Aber da erinnerten wir uns an eine Beobachtung, die meine beiden Hintergründe vor zwei Jahren in der nächsten Querstraße gemacht hatten. Sie waren unterwegs um Bücher umzutauschen, als sie einen der Blackbirds auf einer Straßenlaterne landen sahen. Der Vogel ließ etwas fallen, das hart auf dem Gehweg einschlug. Dann landete der Rabe neben der Einschlagstelle und fraß etwas.
Als meine beiden Hintergründe sich das Ganze näher ansahen, entdeckten sie einen Stein und eine zerbrochene Wallnuss. Der Blackbird hatte also eine Nuss unter die Laterne gelegt, und sie mit einem Stein geknackt! Werkzeuggebrauch!
War der Stein aus der Dachrinne etwa ein Vogelwerkzeug? Der Vorläufer eines Faustkeils einer anderen Spezies? Kaum zu glauben, dass ein Blackbird fast ein halbes Kilogramm heben konnte?
Aber dieses Rätsel konnte ich vorerst nicht lösen. Blieben noch die unbekannten weißen Haare. Waren das vielleicht ausgefallene Barthaare von mir, die sich auf Grund eines aerodynamischen Phänomens, dessen Natur sich mir nicht unmittelbar erschloss, unter meinem Fenster angesammelt hatten? Genügend weiße Haare hätte ich ja im Bart, was schon einmal einen meiner Arbeitskollegen dazu verleitet hat, mir zu empfehlen, ich sollte das Foto auf meinen Visitenkarten und im Briefkopf meiner Rechnungen gegen ein neueres austauschen. Das würde beim Ausdrucken jede Menge Toner sparen. Hm. Und dem ehemals schwarzen, inzwischen weißen Flokati – und das, obwohl ich gar keinen Teppich besitze - in meinem Labor nach zu urteilen, fallen davon auch genügend aus.
Nun, so etwas kann man ja leicht untersuchen: Also schnappte ich mir einen Greifer, ging nach oben und angelte vom Fenster aus ein Büschel Haare vom Dach. In eine Petrischale damit (Tüten sind aus – merken: neue kaufen) und runter ins Labor. Dort legte ich ein Haar zwischen zwei Objektträger und sah es mir unter einem Mikroskop an. Und wie man auf Bild sofort erkennt: Es ist weder menschlich, noch von einer Katze oder einem Eichhorn oder gar einem Marder.
Also warf ich einen Blick in die Haar-Datenbank. Die ist von der International Association for Microanalysis und enthält Mikroskopfotos von Haaren der häufigsten Arten. Und brachte im Ausschlussverfahren ein eindeutiges Ergebnis: Es ist ein Racoon, ein Waschbär!
Ungewöhnlich? Nein, keineswegs. Es gab hier vor 15 Jahren schon einmal einen Waschbär. Damals sollten in Ebersberg, rund 20 Kilometer östlich von hier, Waschbären angesiedelt werden. Einige davon sind abgewandert, und einer hat es bis Waldperlach geschafft. Ich hab ihn damals in der Nacht oft gehört, aber nie gesehen. Wenn ich im Garten war, um Sterne zu beobachten, konnte ich ihn manchmal auf dem Garagendach laufen hören, und ich fand seine Fußabdrücke im weichen Boden des Gemüsebeetes und einmal nach einem Regen in der Wiese hinten im Garten. Er ist damals vermutlich vom Garagendach gesprungen und hat die Abdrücke hinterlassen. Leider hatte ich damals noch nicht gelernt, auf die Gerüche von Tieren zu achten – Antons Katzenrudel bildete sich erst fast fünf Jahre danach – so dass ich bisher nicht wusste, wie eine Waschbärmarkierung riecht. Aber ich denke, die Markierungen, die ich in den letzten Tagen im Garten gerochen habe, sind von ihm. Wäre auch ein Riesenzufall, wenn gleich zwei neue Tiere hier in der Gegend auftauchen würden…
Der Waschbär hat damals nur wenige Monate in Waldperlach überlebt, dann wurde er von einem Auto auf der Putzbrunner Straße überfahren. Hoffentlich hat der neue Waschbär mehr Glück.
Das andere Rätsel klärte sich am Abend, als meine Schwester von der Arbeit zurück kam: Als ich ihr von dem Stein in der Dachrinne erzählte, meinte sie, der sei von ihr. ?!? Das kam so: Als wir letztes Jahr Probleme mit Mardern hatten, die sich im Fehlboden zwischen Erdgeschoss und erstem Stock einquartiert hatten, wollten wir alle möglichen Öffnungen am Haus abdichten. Eine dieser Stellen war am Abschluss des Daches über dem Windfang. Meine Schwester stopfte dort ein Drahtgitter hinein und versuchte es zusätzlich mit einem Stein zu sichern. Wovon ich aber nichts wusste. Und vermutlich bei der letzten Schneeschmelze wurde der Stein dort weggeschoben und landete in der Dachrinne...
Bürgerreporter:in:B Göpfert aus München |
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