Schräge Gedanken, Teil 1

Ich saß wie üblich sehr vertieft am Computer, schrieb an einem Programm, das ich möglichst bald fertig haben will, und dann klingelte das Telefon. Kurz nach 17 Uhr. Deshalb arbeite ich am liebsten in der Nacht. Da ruft keiner mehr an, also gibt es keine Unterbrechungen und ich kann mich ganz entspannt auf meine Arbeit konzentrieren.

B: „Hallo?“
Anrufer: „Guten Tag, hier ist [Name vergessen] vom Readers Digest. Wir verschicken gerade kostenlose Bücher an unsere Stammkunden…”
Meine Schwester hat das Heftchen abonniert, also legte ich nicht auf, lies ihn erst einmal weiter plappern.
A: „...das erste Buch kann man kostenlos (!) behalten, muss es nicht zurückschicken…”
Schon klar. Ein Abo.
A: „...Darf ich ihnen...“
B: „NEIN.“
„Aber es ist ein sehr spannendes Buch, es enthält ZWEI Biografien…”
B: „Klingt nicht sehr interessant.“
Er plapperte trotzdem munter weiter.
A: „Vielleicht will es ihre Schwester lesen, oder...“
B: „Nein, ganz sicher nicht.“
A: „Aber es ist wirklich sehr interessant...“
B: „Wir lesen nicht viel.“

Wobei ich überlegte, ob ich meinen Lieblingskalauer loslassen sollte, mit dem ich vor 20 Jahren eine Verkäuferin beim Hugendubel am Münchner Marienplatz fast zur Verzweiflung getrieben habe. Damals, in der Zeit vor Amazon, bin ich praktisch jede Woche einmal in den Buchladen gegangen, um nach neuem Lesestoff zu suchen. Damals gab es aus den ehemaligen DDR Verlagen wirklich preiswerte Übersetzungen russischer Mathe- und Physikbücher, und die hab ich stapelweise konsumiert. An dem besagten Abend hatte ich bereits einen ganzen Stapel gefunden, balancierte ihn auf einem Arm und suchte munter weiter, ob sich noch andere spannende Titel im Regal versteckten.

In diesem Moment kam eine Verkäuferin dazu. Eine Neue. Zumindest kannte ich sie noch nicht, und sie mich natürlich auch nicht.

Verkäuferin: „Wollen sie ein Buch kaufen?“
Ich hatte etwa 10 Stück in der Hand.
B: „Ja. Ich überlege ernsthaft, ob ich mir ein Zweitbuch kaufen soll.”
V: „Ein Zweitbuch?“
B: „Ja, das erste hab ich schon fast ganz ausgemalt...“

Aber mir war nicht nach telefonieren. Also behielt ich den Kalauer für mich und überlegte, wie ich das Gespräch möglichst schnell abwürgen konnte.

A: „...Sie könnten es ja erst mal anschauen…”

Irgendwie hatte sich seine Stimme leicht verändert. Er klang jetzt fast wie der wohlwollende Onkel, der seinen kleinen Neffen von den Freuden des Lesenlernens überzeugen will.

A: „..Und in dem ersten Buch stehen ganz spannende Geschichten. Da ist beschrieben, was die Leute alles gemacht haben. Lauter interessante Sachen.“

Der Typ ist gut! Er passt sogar seine Sprache an den vermeintlichen Analphabeten an...

B: „Nein. Lassen sie es gut sein, Wir lesen das nicht.“
A: „Schade. Aber vielleicht...“
B: „NEIN. Wirklich nicht. Auf Wiederhören.”
A: “Vielleicht ein anderes mal. Auf Wiederhören.”

Schade um die verlorene Zeit. Nach der kann man lange suchen. Ich hätte sofort auflegen sollen. Das Gespräch gab zwar einen Pluspunkt für Höflichkeit, aber gleichzeitig 99 Miese für Gutmütigkeit. Normalerweise laufen die unerwünschten Anrufe so ab: “Hallo! Hier ist ihre BlaBlaBla Versicher-“ KLACK!

Ich rekapitulierte das Erlebte noch schnell im Gedächtnis, und stellte fest, dass ich mich an den Namen des Anrufers nicht erinnern konnte. Worauf mir sofort Nome Fergusson einfiel. Nome war ein Bulgarischer Jude, der um 1900 herum in die USA auswanderte. Auf dem Schiff hörte er, dass die Behörden auf Ellis Island die Namen der Einwanderer amerikanisierten. Das gefiel ihm nicht, und er überlegte sich einen amerikanisch klingenden Namen, der seinem eigenen zumindest ähnlich war. Als er dann endlich am Einwanderungsschalter stand, konnte er sich an den Namen, den er sich überlegt hatte, vor lauter Aufregung nicht mehr erinnern, und murmelte auf jiddisch “Name vergessen.” Was der Schaltermensch als „Nome Fergusson“ verstand....

Ja, dann war da noch die eifrige Verkäuferin. Nach ein paar Minuten – ihre Gesichtszüge wirkten inzwischen irgendwie eingeschlafen – wurde sie von ihren Kollegen aufgeklärt. Allerdings schafften sie gemeinsam nach einigen Wochen eine wirklich gelungene Retourkutsche.

Meine Mutter bat mich, ihr ein Buch von einer ihrer Bekannten, von der sie noch nicht viel gelesen hatte, mitzubringen. Vorsichtshalber schrieb sie mir einen Zettel.

Als ich wieder beim Hugendubel war, ging ich in die Abteilung für Bavarika, holte meinen Zettel heraus und las: “Nicht Christrosen und Konfetti” von Monika Pauderer. Die Verkäuferin warf einen Blick auf den Zettel, grinste mich breit an, winkte ein paar ihrer Kollegen herbei und gemeinsam suchten sie eine Weile sehr vergnügt im Computer nach dem Buch. Nach einer weiteren Weile meinte sie – immer noch grinsend –
„Tut mir leid, aber das Buch haben wir nicht.“
„Kann ich es vorbestellen?“
„Würde vermutlich nichts bringen, aber fragen sie einfach nach, wenn sie wieder hier sind.”

Das fand ich ok, obwohl mich das Dauergrinsen irgendwie verwundert hat. Aber wer weis schon, was die gerade gefeiert hatten...

Zuhause berichtete ich dann, dass es das Buch leider noch nicht gibt.
„Welches Buch?“
„Na, ‚Nicht Christrosen und Konfetti’.“
„Das sind zwei.“
„Zwei?“
„’Christrosen’ und ‚Konfetti’. Und die beiden hab ich bereits...“

Seitdem warte ich darauf, dass Monika Pauderer endlich ‚Nicht Christrosen und Konfetti’ schreibt.

Bürgerreporter:in:

B Göpfert aus München

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