mein zweites Ich...

Das zweite Ich

Um ganz sicher zu gehen, dass ich nicht träumte, zwickte ich mich ins Ohrläppchen. Und in der Tat, es tat weh. Es war also kein Zweifel mehr vorhanden. Der Mann, der mir beim Frühschoppen gegenüber saß, war kein anderer als ich selbst.
Ich nahm mein Glas zur Hand und prostete ihm freundlich zu.
Ich hatte mich sofort erkannt. Zunächst nur an meinem graugrünen Sakko, dann aber, als ich mir länger zuschaute auch an den vertrauten Gesten, der Mimik und den zerzausten Haaren. Ich wurde von meinem zweiten Ich eindringlich gemustert und es schien nicht sonderlich überrascht zu sein, mich um diese Zeit schon in der Kneipe anzutreffen.
Nach einer Weile glaubte ich einen tückischen Blick meiner Augen erhascht zu haben. So als wollten sie sagen: "Ist mal wieder typisch für dich! Sitzt hier faul beim Bier herum, anstatt zuhause mal aufzuräumen, den Teppich zu saugen oder endlich mal den Müll runter zu tragen."
Aber ich ließ mich von mir nicht provozieren. Ich wollte einfach nur meine Ruhe vor mir haben.
Mein zweites Ich war aber offenbar auf Krawall aus, denn es grinste mich ständig an und sagte dann schließlich: "Es ist jetzt erst halb elf und du sitzt hier schon faul beim Saufen herum. Andere mit so wenig Bewegung wie du sind jetzt in der Schwimmhalle, im Fitnesscenter oder in der Sauna, hocken auf ihrem Rad oder bewegen sich sonst wie an der frischen Luft. Aber nein, du rauchst eine nach der anderen und wartest jetzt nur, bis der Schweinebraten fertig ist und die Küche auf macht, anstatt dass du dir zuhause mal selber was Gesundes kochst, ein Fischfilet beispielsweise, ein mageres Steak oder einen Salat.. Was soll also ständig das Gelabere beim Arzt?"
Schlagartig wollte ich aufstehen, hatte mein Glas schon in der Hand, nur, um mich woanders hinzusetzen. Aber die anderen Plätze waren alle besetzt. Also blieb ich sitzen.
"Nun mach schon", stichelte mein zweites Ich, "zahl endlich und schau dass du verschwindest hier!"
Dieser Ton gefiel mir aber überhaupt nicht. So lasse ich mit mir nicht reden. Da ich mich aber nicht provozieren lassen wollte, tat ich so, als sei ich Luft für mich. Das hatte mir aber auch gerade noch gefehlt, mich hier um diese Zeit anzutreffen.
Und was ich mir alles anhören musste: "Du solltest dich was schämen, sagte ich zu mir, ein Mann in den allerbesten Jahren so stinkfaul und drückt sich, wo er nur kann."
Da reichte es mir. Das brauchte ich mir von niemandem bieten zu lassen. Und von mir selbst schon gar nicht!
"Lass mich endlich in Ruhe, fauchte ich mich an, immerhin habe ich mich heute schon rasiert, die Schuhe geputzt und mein Bett gemacht."
Mein zweites Ich lachte: "Diese durchgelatschten Treter, die du schon seit einem halben Jahr zum Sohlen bringen willst? Und wann kriegen denn deine Kissen endlich mal frische Bezüge? Das ist wieder diese Tour, die ich gerade leiden kann. Komm steh endlich auf, du faules Stück, und tu was!"
Um den Ärger herunterzuspülen bestellte ich erst mal einen doppelten Schnaps. Innerlich sagte ich zu mir: "nur ruhig bleiben und ja nicht aufregen!"
Dann schwiegen wir uns eine ganze Weile an und würdigten uns keines Blickes. Bis sich mein zweites Ich wieder leise meldete, diesmal aber in einem viel freundlicherem Ton: "Schau mal auf die Uhr, jetzt ist es schon fast Mittag, geh doch bitte heim jetzt und tu was. Tu’s einfach nur mir zuliebe!"
Dieser Ton gefiel mir schon viel besser. Ich überleg’s mir, lenkte ich ein, worauf mein zweites Ich für uns beide sofort eine Runde Schnaps bestellte.
Allmählich wurde ich mir immer sympathischer.
Im nächsten Augenblick fiel mir allerdings wieder ein, warum ich eigentlich hierher gekommen war.
Im Grunde wartete ich doch schon die ganze Zeit darauf, dass diese blonde junge Frau hier wieder auftauchen würde, die sonst immer um diese Uhrzeit hier war und die mir das letzte Mal so schöne Augen gemacht hatte. Ich dachte mir, vorher ein Bierchen und einen Schnaps, dann kommt sie, wir reden ein bisschen, flirten, sie kriegt ein paar Schnäpse von mir spendiert, später dann vielleicht zu mir und ab in die Heia oder so...
So oder so ähnlich hatte ich mir jedenfalls den Tag vorgestellt. Aber wie sollte ich das jetzt meinem zweiten Ich beibringen?
Na ja, dachte ich, da hat mein zweites Ich schon Recht, wenigstens die Betten hätte ich noch frisch überziehen können. Aber jetzt war’s eh schon egal.
Ich bestellte meinerseits auch noch mal zwei doppelte Schnäpse und zwei Bier für uns beide und mein zweites Ich wurde immer lustiger.
Wenig später sah mein zweites Ich auf die Uhr und räumte ein, dass es sich jetzt nicht mehr lohnen würde, heute noch etwas im Haushalt zu tun. Diese Einsicht war mir ebenso eine neue Lage wert. Mein zweites Ich lehnte aber mit dem Hinweis darauf, dass wir beide noch nichts Richtiges im Magen hätten, dankend ab.
Aber ich bestand darauf.
Da gab mein zweites Ich nach und wir tranken in aller Ruhe noch einen miteinander. Jedenfalls fanden wir uns nun mehr und mehr sympathisch.
Die Blonde kam auch nicht mehr und wir beschlossen deshalb beide, zu gehen.
Als es jedoch ans Bezahlen ging, war mein zweites Ich plötzlich verschwunden. Aber ich ließ mich nicht lumpen und bezahlte für uns beide.
Vielleicht ist mein zweites Ich ein armer Schlucker, dachte ich, und wie oft hat mir auch schon einer mal einen ausgegeben.
Auf dem Nachhauseweg beschlich mich allerdings ein Gefühl, als hätte ich für zwei gesoffen.

Bürgerreporter:in:

Wolfgang Kreiner aus München

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