Der Traumhändler
Frühmorgens war Rienecker stets der erste. Eine diffuse Unruhe, es könnte irgendetwas in seiner Firma nicht korrekt ablaufen, trieb ihn. Kunden könnten anrufen oder Lieferanten vor verschlossenen Werktoren stehen, weil vielleicht einer seiner zahlreichen Angestellten entweder zu spät oder überhaupt nicht zur Arbeit erschienen sein würde.
Rienecker traute einfach niemandem. Stets versuchte er eine gewisse Kontrolle auf alles auszuüben, was auch nur im Entferntesten in irgendeinem Zusammenhang mit seiner Firma stand. Seine ständigen Befürchtungen, er könnte von einem seiner Angestellten um die bezahlte Zeit betrogen werden, ließen ihn kaum zur Ruhe kommen.
Überhaupt die Zeit - sie war für Rienecker von jeher ein recht kostbarer Faktor! Urlaub gönnte er sich selbst so gut wie überhaupt keinen. Und wenn, dann nur tageweise, obwohl er ähnliche Träume und Ziele hatte wie beinahe jedermann.
Dennoch, seine Erfolge, ja seine Lebensleistung an sich, die er ausschließlich am Erfolg seiner Firma maß, bestätigten ihn in seiner Akribie, mit der er sie führte.
So verließ er stets auch am Abend erst sehr spät und als letzter die Firma. Nicht jedoch, ohne alles nochmals eingehend kontrolliert zu haben. Meist nahm er noch irgendwelche Arbeiten aus dem Büro mit nach Hause, um die an sich unproduktive Zeit der Heimfahrt zu nützen.
Und so saß er dann jeweils in der Straßenbahn, einen aufgeschlagenen Aktenordner auf den Knien, mit dem Taschenrechner kalkulierend und Notizen machend, inmitten der Menschen, die sich ebenfalls auf ihrem Nachhauseweg befanden. Viele von ihnen kannten ihn so seit Jahren - tagaus, tagein.
Rienecker selbst jedoch hatte bisher kaum etwas von seinen Mitreisenden wahrgenommen. Nicht einen von ihnen kannte er auch nur vom Sehen.
Sein Nachhauseweg führte ihn stets über viele Stationen quer durch die Stadt, in einen der Außenbezirke. Rienecker besaß eine sehr schöne Villa im Jugendstil, die von einem großen, verwilderten Garten mit alten Baumbeständen umgeben war.
Hatte er einmal Besorgungen zu machen oder noch irgendwelche Dinge zu erledigen, so stieg er meist zwei oder drei Stationen vorher aus der Straßenbahn. Im Anschluß daran ging er dann jeweils den Rest des Weges zu Fuß nach Hause. Sein Weg führte ihn vorbei an prachtvollen Villen, mit ihren über und über bewachsenen, ja beinahe schon parkähnlichen Vorgärten dieser noblen Gegend.
Von all dem nahm Rienecker allerdings niemals etwas wahr.
Er bemerkte nicht das Licht- und Schattenspiel, welches die untergehende Sonne durch das Laubwerk der Bäume auf den Gehsteig zauberte. Und er bemerkte auch nicht den Duft der Rosen, die seinen Weg säumten oder das Zwitschern der Vögel, die ihn auf seinem Nachhauseweg begleiteten.
Mit gesenktem Kopf, gedankenverloren an irgendeinen innerbetrieblichen Vorgang, strebte er stets seiner Villa am Ende der Straße zu.
So auch an diesem Abend.
Rienecker stieg zwei Haltestellen vorher aus der Straßenbahn. Er wollte sich noch etwas Pfeifentabak, sowie Minen für seinen Drehbleistift besorgen. Beides bekam er in einem kleinen Schreibwarengeschäft in unmittelbarer Nähe der Straßenbahnhaltestelle. Wenige Minuten später verließ er das Geschäft wieder. Es begann leicht zu regnen. Rienecker hielt auf dem Gehsteig vor dem Geschäft inne, sah kurz zum Himmel und knöpfte dabei seinen Mantel zu. Mit eingezogenem Kopf, seine Aktenmappe fester an den Körper gepreßt, machte er sich schnellen Schrittes auf seinen Nachhauseweg.
Als er die nahe Kreuzung überquerte und in seine Straße einbiegen wollte, wurde der Regen mit einem Male heftiger. Rienecker hielt Ausschau nach einer geeigneten Unterstellmöglichkeit.
Einige Meter weiter die Straße hinauf bemerkte er eine dieser halbrunden, faltbaren Markisen über dem Schaufenster eines kleinen Geschäfts. Mit wenigen Sätzen, den Pfützen ausweichend, welche sich nun recht schnell auf dem Gehsteig zu bilden begannen, war er dort und stellte sich unter. Er preßte sich mit seinem Rücken dicht an das Schaufenster. Der Wind wurde nun heftiger und trug immer wieder einmal einen Regenschwall schräg unter die Markise. Rieneckers Schuhe und Hosenbeine waren bereits vom Regenwasser vollgesogen. So stand er eine ganze Weile mißmutig unter dieser Markise.
Der vom Wind gepeitschte Regen wurde heftiger.
Rienecker wandte sich daher, Wind und Regen den Rücken kehrend, zum Schaufenster um und schlug seinen Mantelkragen hoch. Ihn fröstelte leicht.
Ohne größeres Interesse sah er nun von einem zum anderen der in der Auslage des Schaufensters ausgestellten Gegenstände.
‘Was mag das wohl sein...?’ dachte er.
Angesichts des für ihn kaum zu identifizierenden Warenangebotes wurde sein Interesse doch mehr und mehr geweckt. Auf einer Stellage waren eine Unmenge von Gläsern unterschiedlicher Größe angeordnet. Sie alle waren befüllt. Rienecker konnte nur nicht erkennen, womit. Je länger er diese Gläser betrachtete, desto mehr glaubte er wahrzunehmen, daß sich deren Inhalte zu bewegen schienen.
Seine Neugierde war nun vollends geweckt. Er begann damit, ein Glas nach dem anderen sekundenlang regelrecht zu fixieren.
In der Tat! All die Inhalte dieser Gläser hatten eine Art Bewegungsablauf. Er konnte jedoch noch immer nicht erkennen, um welche Art Inhalte es sich dabei handelte.
Es mochte an den Lichtverhältnissen liegen, daß er so wenig erkennen konnte, oder aber auch an der zwischen ihm und der Auslage befindlichen, schon etwas angeschmutzten Schaufensterscheibe, in der sich die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Fahrzeuge spiegelten und auf der sich zudem unzählige Regentropfen angesammelt hatten, die nun in kleinen Bahnen nach unten strebten.
Dennoch, so sehr konnte er sich doch nicht getäuscht haben.
Um mehr erkennen zu können, nahm er seine freie Hand aus der Manteltasche, hielt sie abschirmend vor seine Stirn und ging nun, den Hals nach vorne gestreckt, mit seinem Gesicht ganz nahe an die Schaufensterscheibe heran.
Im gleichen Augenblick wurde die Ladentür geöffnet.
Ein alter Mann in einem abgeschabten, viel zu weiten Pullover, einen langen, selbstgestrickten Schal um den Hals geschlungen und mit einer Baskenmütze auf dem Kopf erschien auf den Stufen zur Ladentür. Mit zusammengekniffenen Augen, scheinbar nach dem Wetter Ausschau haltend, blickt er nach oben. Rienecker bemerkte den alten Mann, den er für den Ladenbesitzer hielt. Im gleichen Moment wurde er von diesem freundlich gegrüßt. Rienecker erwiderte den Gruß und wandte sich dabei dem alten Mann etwas zu.
„Sagen Sie!“, sprach er diesen neugierig an, „Was sind das für Waren, die Sie hier in ihrer Auslage haben?“. „Sie können gerne hereinkommen und sich umsehen!“, erwiderte dieser und hielt mit einer einladenden Geste seiner Linken die Ladentür auf. Rienecker zögerte kurz, folgte einen Augenblick später dann aber doch der Einladung und trat ein. Sogleich schloß der Alte die Ladentür wieder hinter ihnen.
„Sehen Sie sich nur in Ruhe um mein Herr!“, meinte er freundlich auffordernd, während er sich daran machte, die Jalousie vor dem Schaufenster herunter zu lassen. Augenblicklich wurde es im gesamten Raum wesentlich dunkler und dies, bevor Rienecker überhaupt Gelegenheit gehabt hätte, sich im Verkaufsraum richtig umzusehen. Beim Hereinkommen bemerkte er lediglich, daß überall Regale standen, welche über und über voll gestellt waren mit verschieden großen Gläsern, ähnlich denen, die er schon in der Auslage des Schaufensters betrachtet hatte.
„Was ist das?“, wandte er sich erneut fragend an den alten Mann, der im gleichen Moment vom verdunkelten Fenster her auf ihn zu trat. „Was verkaufen Sie hier..., was sind das für Sachen in all den Gläsern?“
Soweit Rienecker dies in der Dunkelheit des Zimmers ausmachen konnte, stand der alte Mann da und sah ihn nur einen Moment lang schweigend an. „Sehen Sie nur ganz genau hin!“ durchbrach dieser plötzlich die Stille.
Rienecker wandte sich wieder den Gegenständen in den Regalen zu. In gleichem Maße, in dem sich seine Augen nun an die Dunkelheit des Raumes gewöhnt hatten, wurden die Inhalte der Gläser immer deutlicher erkennbar. Ja, er glaubte sogar, so etwas wie ein Leuchten in all den Gläsern wahrzunehmen. Er tat einen weiteren Schritt auf eines der Regale zu. Und nun sah er es deutlicher. In jedem der Gläser lief eine Art Handlung ab, gleich der eines Filmes, eines Ereignisses, einer bestimmten Begebenheit an einer ganz bestimmten Örtlichkeit. Es wurden plötzlich Gegenstände, Landschaften und sogar Personen sichtbar. Je länger er staunend von einem der Gläser zum andern blickte, desto mehr begann er nun, die jeweilige Handlung auch zu verstehen. Ja, er schien sogar in der Lage zu sein, diese Handlungsabläufe auch emotional zu erfassen.
Sein Blick kehrte zu einem der Gläser im Regal zurück, welches er schon vorher betrachtet hatte. Im Bewegungsablauf innerhalb dieses Glases glaubte er schon beim ersten Mal eine Situation erkannt zu haben, die ihm irgendwie erinnerlich zu sein schien. Eine Situation aus seinem Leben, seiner Vergangenheit, seiner frühen Jugend vielleicht.
Wieder wandte er sich dem alten Mann zu.
„Bitte sagen Sie mir, was das ist, was verkaufen Sie hier? Was sind das denn nur für Sachen, was für ein Geschäft betreiben Sie?“.
Einen Moment lang blickte ihn der Alte eindringlich an. „Das sind alles Träume, die ich hier verkaufe mein Herr! Gelebte und ungelebte , erfüllte und unerfüllte Träume - wenn Sie wissen, was ich meine“.
Schon beinahe fasziniert glitt Rieneckers Blick wieder und wieder von einem der Gläser zum anderen. Zum wiederholten Male blieb sein Blick an diesem einen, bestimmten Glas hängen und zog seine gesamte Aufmerksamkeit auf sich.
Auch der Alte bemerkte dies offensichtlich und meinte nur kurz: „Sehen Sie nur genau hin! Erkennen Sie die Situation wieder?“
Mit offenem Mund stand Rienecker staunend vor dem Glas und konnte das Geschehen kaum fassen. Er bemerkte eine schöne junge Frau mit langen blonden Haaren. Sie hatte ein Sommerkleid an, das leicht im Wind wehte. Mit ausgebreiteten Armen tanzte sie auf dieser mit Gras bewachsenen und von Sonnenlicht überfluteten Waldlichtung. Ihre Lebensfreude, die sich sofort auf den Betrachter übertrug war so, als wollte sie den Tag umarmen. Sie schien unwahrscheinlich glücklich zu sein. Plötzlich blieb sie stehen. Gerade so, als hätte sie Rienecker bemerkt. Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf ihn zu gelaufen. Und dennoch....., sie schien sich kaum von der Stelle zu bewegen.
Rienecker kannte diese Situation! Und er glaubte auch dieses Mädchen zu erkennen! War dies nicht Angela? Jenes Mädchen, in das er seinerzeit so sehr verliebt war. Wie lange mag das zurückliegen?
Er fing an zu rechnen. Mehr als dreißig Jahre mußte das schon her sein. Und doch war die gesamte Situation in ihm plötzlich so sehr lebendig, berührte ihn innerhalb seiner Gefühle so sehr, als sei dies alles erst kürzlich gewesen, als sei er noch immer in sie verliebt. Und war er es denn nicht noch immer? War er denn danach überhaupt noch einmal so sehr verliebt gewesen? Weshalb ging diese Beziehung eigentlich damals so plötzlich auseinander? Was mag denn damals dieser alles so plötzlich auflösende Grund gewesen sein?
Rienecker glaubte sich zu erinnern, daß dies zu jener Zeit mit der Gründung seiner Firma in irgendeinem Zusammenhang gestanden haben mußte. Er hatte einfach nicht genügend Zeit für diese noch so junge Beziehung aufbringen können.
Oder wollen?
Der Aufbau seiner Firma, all die Sorgen, die seinerzeit damit verbunden waren, hatten ihn zu sehr in Anspruch genommen. Sie ging damals einfach weg. Und er hatte es nicht verstehen können. Hatte er ihr doch alles geboten!
Alles?
Noch oft dachte er in den Jahren danach an sie und die gemeinsame Zeit mit ihr. Schmerzlich oft!
„Hören Sie!“, wandte sich Rienecker plötzlich dem alten Mann zu, „Diesen Traum will ich haben.“ Vielleicht ließe er sich noch zu Ende träumen, dachte er insgeheim.
„Aber gerne, der Herr!“, meinte der Alte nur und verbeugte sich dabei höflich.
„Was soll er denn kosten, dieser Traum?“, will Rienecker von ihm wissen.
Der alte Mann machte ein paar Schritte in Richtung einer Art Verkaufstheke, auf der alles mögliche herum lag, während er so etwas wie „einen kleinen Augenblick bitte“ murmelte.
Er kramte nach einem Papierfetzen, den er unter einem Stapel, alter Zeitungen, Schriftstücken und zwei Büchern, auf denen ein alter Wollschal lag, hervorzog. Sogleich fing er an, mit einem Bleistiftstummel auf dem Papier herum zu rechnen. Mit zwei energischen, fetten Strichen unter das Errechnete beendete der Alte seine unleserlichen Kritzeleien und warf den Bleistiftstummel energisch aufs Papier, während er in bestimmendem Ton bekanntgab: „Einen Monat! Der Traum kostet genau einen Monat, nicht mehr und nicht weniger!“. Und im gleichen Augenblick sah er Rienecker wieder fragend an: „Wollen Sie ihn gleich mitnehmen?“
Rienecker war von dieser Antwort verwirrt und verwundert gleichermaßen, so daß er spontan nichts darauf zu erwidern wußte. Jede mögliche Antwort, die Nennung jedes möglichen, auch noch so utopischen Betrages hätte er sich denken können. Mit dieser Antwort hatte er allerdings nicht gerechnet.
„Wie soll ich das verstehen?“, stammelte er nur, als er sich wieder etwas gefangen hatte. „Hören Sie! Ich habe genug Geld. Jeden Betrag, den Sie mir nennen, würde ich Ihnen bezahlen können! Aber woher, bitte schön, soll ich denn um Himmels Willen einen ganzen Monat nehmen? Ich bin in meinem Betrieb so stark gebunden, daß ich manchmal kaum für mich selbst genug Zeit finde, die Dinge zu erledigen, die wirklich wichtig wären!“ Rienecker erhob seine Stimme dabei dermaßen, daß er den Alten schon beinahe anschrie. „Wissen Sie eigentlich, was ein Monat Zeit für mich bedeutet? Ein ganzer Monat! Dreißig oder vielleicht sogar einunddreißig Tage! Beinahe 750 Stunden! Ja sind Sie sich denn eigentlich im Klaren darüber, was mich auch nur eine einzige Stunde kostet! Haben Sie denn davon überhaupt eine Vorstellung?“ Rienecker war beinahe außer sich.
Ruhig dastehend sah ihn der alte Mann sekundenlang stumm an. Dann erwiderte er in ruhigem Ton:
„Ich denke, das Leben sollte Sie doch in der Zwischenzeit gelehrt haben, daß alles und jedes seinen bestimmten Preis hat. Und es muß ebenso alles einer bestimmten Zeitqualität entsprechen. Träume, werter Herr, Träume können Sie nicht mit Geld bezahlen. Träume kosten Zeit! Und ich darf Ihnen versichern; Ihr Traum ist bei weitem noch nicht der teuerste. Ja, es ist nicht einmal einer der gehobeneren Preiskategorie! Ich habe zum Beispiel einen Traum hier, wenn ich Ihnen diesen mal zeigen darf, für den nehme ich ein ganzes Leben!“. Er schickte sich an, auf eines der Regale in der hintersten Ecke zuzugehen, blieb aber sogleich wieder stehen und drehte sich zu Rienecker um, als dieser hastig erwiderte: „Nein, nein danke, ich will nur diesen einen Traum! Verstehen Sie doch, er hat für mich eine ganz bestimmte Bedeutung.“
„Ich weiß!“, bemerkte der Alte nur knapp.
Sekundenlang dachte Rienecker darüber nach, welche Möglichkeit es gäbe, den alten Mann um den geforderten Preis zu bringen. Aber beinahe so, als erriete der Alte seine Gedanken, bemerkte dieser nur kurz: „Versuchen Sie erst gar nicht, woran Sie gerade denken. Sie wissen was ich meine. Verwerfen Sie diesen Gedanken sofort wieder!“ Rienecker wurde plötzlich unheimlich zumute.
„Natürlich habe ich ebenso auch wesentlich billigere Träume hier“, ließ sich der alte Mann wieder vernehmen, „aber Sie scheinen sich ja entschieden zu haben. Na, und den Preis kennen Sie ja nun.“
„Ja, ja sicher“ stotterte Rienecker etwas verlegen. Gleichzeitig ging ihm die Idee durch den Kopf, daß sich der Alte ja vielleicht auch auf Ratenzahlungen einließe. Wenn er im Monat etwa ein, zwei Tage erübrigen könnte, so würde er den geforderten Preis auch in ein bis zwei Jahren aufgebracht haben.
Und als ob der Alte auch diesen Gedanken erriet, bemerkte er kategorisch: „Und wohlgemerkt, mein Herr, der geforderte Preis ist auf einmal zu entrichten, sobald ich Ihnen den Traum überlasse. Ein Prinzip meines Geschäfts. Ich hoffe, Sie verstehen das. Und ich lasse auch nicht mit mir handeln! Aber Sie können es sich ja gerne nochmals in Ruhe überlegen. Es hat eh keine Eile mit diesem Traum, er steht schon annähernd dreißig Jahre im Regal. Nicht anzunehmen, daß er in den nächsten Tagen weggehen würde!“
Rienecker sah erneut sekundenlang zu seinem Traum im Glas. Dieses Geschehen dort im Regal ließ ihn nicht mehr los. Wie sich doch sein Leben verändern würde, wenn er diesen Traum erwerben und zu Ende leben könnte.
„Hören Sie!“ wandte er sich daher wieder dem alten Mann zu „Können Sie mir diesen Traum nicht wenigstens eine gewisse Zeit zurücklegen? Ich werde ihn ganz bestimmt irgendwann in den nächsten Tagen abholen. Ich muß aber erst in meinem Terminkalender nachsehen, wie und wann ich in der Lage sein werde, den geforderten Preis dafür aufzubringen.“
„Aber selbstverständlich, werter Herr,“ erwiderte der Alte sofort „gerne lege ich Ihnen den Traum zurück. Prüfen Sie nur in Ruhe! Es soll ja was fürs Leben sein, nicht wahr?“
Draußen hatte es mittlerweile aufgehört zu regnen, wie Rienecker durch die Scheibe der Ladentür, die als einzige nicht verdunkelt war, sehen konnte. Er schickte sich an, zu gehen.
„Also dann, auf wiedersehen!“ verabschiedete sich Rienecker. „Ich werde in den nächsten Tagen bestimmt wieder vorbeikommen!“
„Aber gerne, der Herr!“, erwiderte der Alte. „Sehen Sie...!“, mit ein paar Schritten war er beim Regal und nahm das Behältnis mit Rieneckers Traum heraus. „Ich werde Ihren Traum hier in die Ecke des Fensters stellen. So können Sie ihn jederzeit sehen, wenn Sie hier vorüber kommen!“
„Oh ja, das ist gut so!“, antwortete Rienecker.
Jetzt als der Alte das Glas in Händen hielt, bemerkte Rienecker, daß der Deckel des Glases angeschlagen war. Es fehlte eine kleine Ecke am Rand und ein Sprung im Glas zog sich hin bis zur Mitte des Deckels. Er wollte den Deckel gerne ausgetauscht haben, dachte sich aber, daß man dies bestimmt noch tun könne, wenn er den Traum abholen würde.
Der Alte stellte das Glas vorsichtig im Fenster ab und kam direkt zur Tür.
„Auf wiedersehen!“, verabschiedete sich Rienecker erneut.
„Auf wiedersehen der Herr!“, erwiderte der alte Mann und hielt mit einer leichten Verbeugung die Ladentür auf. Rienecker trat hinaus. Wie benommen blieb er einige Augenblicke auf dem Gehsteig vor dem Geschäft stehen. Er sah noch einmal in die Ecke des Schaufensters, wo nun sein Traum stand. Er konnte ihn gut sehen, wenngleich er auch nicht mehr so viel erkennen konnte. Nachdenklich wandte er sich ab und machte sich auf den Heimweg.
In den folgenden Tagen und Wochen hatte Rienecker eine anstrengende Zeit. Die Steuerprüfung war in seiner Firma und zudem mußte er auch noch ein paar dringende Auslandsreisen unternehmen, um neue Aufträge hereinzuholen. Unendliche Verhandlungen und Geschäftsessen mit Kunden bestimmten seine Tage und Wochen, ließen ihm keinerlei Raum für auch nur einen privaten Gedanken. Schon bei Antritt seiner letzten Auslandsreise fühlte er sich nicht gut. Völlig ausgelaugt blieb er dort im Anschluß an seine Geschäftsverhandlungen noch einen Tag länger in seinem Hotelzimmer. Er fühlte sich für die Rückreise einfach zu schwach.
Wieder zuhause angekommen, ließ er sofort seinen Hausarzt zu sich kommen. Sein Allgemeinzustand hatte sich dermaßen verschlimmert, daß er sich außerstande sah, in die Firma zu gehen. So delegierte er telefonisch noch alles wichtige an einigermaßen zuverlässige Mitarbeiter und hütete auf anraten seines Arztes bis zur abschließenden Beurteilung der umfangreichen Laboruntersuchungen weiterhin das Bett. Die Diagnose, die ihm sein Arzt Tage darauf eröffnete, war niederschmetternd. Rienecker litt an einer diffusen interstitiellen Lungenfibrose. Immer wieder wurde er von Fieberschüben heimgesucht. Selbst sein Arzt konnte ihm bezüglich einer baldigen Ausheilung und vor allem einer vollständigen Genesung nicht gerade viel Hoffnung machen.
In den darauffolgeden Tagen, an denen Rienecker in seinem Bett lag und sehr viel Zeit zur Besinnung hatte, kam ihm ein paarmal der Gedanke, sich aus seiner Firma ganz zurückzuziehen, ja sie eventuell sogar zu verkaufen. Im Prinzip hatte er doch alles erreicht. Er hatte sich eine schöne Villa in einer bevorzugten Gegend gekauft und durch seine Arbeit die ganze Welt gesehen. Und was würde er sich noch alles leisten können, wenn er tatsächlich verkaufte. Die Firma würde sicherlich so viel einbringen, daß er den Rest seines Lebens zumindest sorgenfrei gestalten könnte.
Je mehr er darüber nachdachte, die Argumente, die dafür oder dagegen sprachen gegeneinander abwog, desto mehr kam er zu dem Entschluß, sich nun doch endgültig auf sein Altenteil zurückzuziehen. Zudem war er ja auch nicht mehr der Jüngste!
Diesem Gedanken, der ihn früher eher in Panik versetzt hätte, konnte er mittlerweile sogar etwas Lustvolles abgewinnen. Er malte sich schon im Geiste aus, was er dann alles tun könnte und wofür er dann Zeit finden würde. Und soweit ihm sein Arzt dies prophezeite, würde er seine ursprüngliche Vitalität und Arbeitskraft ohnehin nicht mehr zurückgewinnen können. Also was blieb ihm? Im übrigen riet ihm auch sein Arzt eindringlich zur völligen Aufgabe seiner Firma.
Woche um Woche verging, ohne daß sich Rieneckers Gesundheitszustand wesentlich verbessern wollte. Die diagnostizierte Lungenfibrose schien bei ihm einen problematischen Verlauf zu nehmen, da sie nun auch noch mit frühzeitiger Herz- und Kreislaufschwäche einherging.
Da er bislang innerhalb seiner Firma beinahe die absolute Kontrolle über alles ausübte, wobei er seinen Mitarbeitern kaum Einblicke in wesentliche Einkaufs- und Geschäftsstrategien gewährt hatte, blieb es nicht aus, daß es dort drunter und drüber ging. Es kannte sich einfach niemand in dem Umfange aus, der notwendig gewesen wäre, die Firma in gewohnter Weise weiterzuführen. Völlig untätig und frustriert mußte Rienecker zusehen, wie sein Lebenswerk einen Verlauf nahm, den er niemals für möglich gehalten hätte. Allerdings machten diese Umstände auch seine Entscheidung leichter, die Firma letztendlich doch aufzugeben.
Er ließ seinen Rechtsanwalt kommen, der alles nötige in die Wege leitete. Interessenten an seiner Firma gab es genug. Zwei Wochen später waren die Verträge unter Dach und Fach. Rienecker erholte sich tatsächlich nicht mehr vollständig von seiner Krankheit. In den folgenden Monaten der Leere und Einsamkeit, die sein Leben nun überwiegend ausmachten, wurde er sich erstmals so richtig bewußt, wie alleine er doch im Grunde war. Immer wieder ging er in Gedanken die Stationen seines bisherigen Lebens durch, soweit er sich ihrer erinnern konnte oder erinnern wollte.
Plötzlich fiel ihm der Traumhändler wieder ein! Er war nicht mehr dort gewesen seither. Was mag aus dem doch seinerzeit extra für ihn zurückgelegten Traum geworden sein?
„Mein Gott!“ Es durchfuhr ihn ein Schauer und er erschrak regelrecht. Jetzt hätte er doch die Zeit, den geforderten Preis für seinen Traum zu entrichten. Den doppelten oder vielfachen Preis sogar! Weshalb nur war er denn nicht mehr dort gewesen?
Rienecker nahm sich fest vor, sobald es ihm wieder etwas besser gehen würde, auf einem seiner nächsten Spaziergänge dort vorbei zu sehen.
Getrieben von Unruhe einerseits und freudiger Erwartung andererseits machte sich Rienecker trotz einiger Beschwerden schon Tags darauf auf den Weg zum Traumhändler. Auf seinen Stock gestützt bewegte er sich mühsam die Straße hinunter bis zur Kreuzung. Er sah sich um, konnte aber im Moment das Geschäft nicht sehen. Zu vieles auf diesem Platz hatte sich in den letzten Monaten verändert. Ein paar der alten Häuser waren in der Zwischenzeit saniert worden und in einige wurden gerade Schaufensterfronten eingesetzt. Vermutlich würden dort in Kürze neue Ladengeschäfte entstehen.
Rienecker machte den Weg nochmals bis hinüber zu dem kleinen Schreibwarengeschäft, in dem er früher immer seine Besorgungen gemacht hatte. Von dort war er doch an jenem Abend im Regen quer über die Straße gelaufen und direkt auf das Geschäft des Traumhändlers gestoßen? Aber dort, wo er nun glaubte, daß sich das Geschäft befunden haben mußte, stand nur ein Gerüst vor dem Haus. Arbeiter waren gerade dabei, das Haus neu zu verputzen. Von einem Geschäft war allerdings nichts zu sehen!
Langsam ging Rienecker über die Straße auf das Haus zu. Einer der Arbeiter war gerade damit beschäftigt, einen großen Haufen Bauschutt in einen auf dem Gehsteig bereitgestellten Container zu schaufeln. Rienecker trat auf ihn zu.
„Entschuldigen Sie bitte!“, sprach er ihn an, „Wissen Sie, wo das Geschäft geblieben ist, das früher hier war?“
„Welches Geschäft?“, meinte dieser nur mürrisch, ohne von seiner Tätigkeit aufzusehen. „Na, das Geschäft, das hier einmal war! Ich bin mir ganz sicher. So ein kleines Geschäft, mit einem ganz schmalen Schaufenster und ein paar Stufen vor dem Eingang!“, drang Rienecker verzweifelt in ihn.
Der Arbeiter unterbrach seine Arbeit, stützte sich auf seine Schaufel und sah Rienecker eindringlich an. „Also ich weiß nichts von einem Geschäft, das hier einmal gewesen sein soll. Ich müßte es nämlich wissen, denn ich war von Anfang an beim Umbau dabei. Und ich habe auch nie etwas von einem Geschäft gehört. Und jetzt lassen Sie mich gefälligst weiter arbeiten!“
Alles Mögliche ging Rienecker durch den Kopf. Sollte er sich tatsächlich so sehr geirrt haben und das Geschäft sich doch wo anders befinden? Aber nein, es war genau hier, dessen war er sich sicher.
„Was soll das denn für ein Geschäft gewesen sein?“, rief der Arbeiter nochmals über seine Schulter, während der weiter schaufelte und bemerkt hatte, daß Rienecker nicht von der Stelle gewichen war.
Nach dem Traumhändler traute sich Rienecker jedoch nicht zu fragen. Er befürchtete, sich vor dem Arbeiter lächerlich zu machen oder von diesem für verrückt erklärt zu werden. Und so meinte er nur: „Ach wissen Sie, so ein Geschäft mit verschiedenen Gläsern in der Auslage...!“
Stumm und ohne sich noch einmal umzusehen, schüttelte der Arbeiter nur den Kopf. „Nie davon gehört!“
Gedankenverloren sah Rienecker nochmals auf die Reste des alten Hauses, die nun hier so auf dem Gehsteig gehäuft herum lagen. Er bemerkte ein paar Glasscherben im Schutt. Wehmütig stocherte er mit seiner Schuhspitze darin herum. Ein Mauerbrocken löste sich und kullerte den Haufen herab. Dort, wo er sich gelöst hatte, kam der Deckel eines Glases zum Vorschein. Einige Augenblicke lang betrachtete Rienecker diesen aufmerksam. Es fehlte eine kleine Ecke am Rand und ein Sprung im Glas zog sich bis hin zur Mitte des Deckels.
Im gleichen Augenblick schob der Arbeiter seine Schaufel erneut in den Haufen. Und mitsamt Geröll und Mauerbrocken landete der Glasdeckel in hohem Bogen im Container.
Buchausgabe "Traumhändler" 220 Seiten € 9,50
Wolfgang Kreiner © Neuauflage 2013 - zu beziehen über den Autor
Bürgerreporter:in:Wolfgang Kreiner aus München |
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