Das Ur an seinem Ursprung
Attraktion und Nutztier zugleich: Auerochsen in Thierhaupten
Zu germanischer Zeit war „Thier-haupten“ ein Kultplatz, wie der Name verrät: Auf dem Kreuzberg sollen Tierköpfe aus Stein gestanden sein, die dem Gott Wotan geheiligt waren. Nun sind Tiere in ihrer urwüchsigen Form zurückgekehrt. Thierhaupten macht seinem Namen wieder alle Ehre. Imposant heben sich die langen nach oben geschwungenen Hörner der Auerochsen vor dem Himmel über dem Lechtal ab.
„Vorsicht! Wildtiere!“ weist ein Zettel auf die fremd anmutenden Geschöpfe hinter dem Zaun hin. Gemächlich, etwas scheu blicken sie den Besucher an. Sie wollen ihre Ruhe haben, die drei ausgewachsenen Auerochsen und das Kalb. Deshalb ziehen sie sich gerne in die Senke beim Wasser zurück.
„Das ist ihr Lieblingsplatz, vor allem vormittags“, weiß Josef Mertl. Seit Mai 2005, in denen der Nebenerwerbslandwirt die Tiere nun betreut, hat er ihr Verhalten beobachtet. „Sie haben ihren Rhythmus: Zeiten zum Ausruhen, Fressen und Wandern.“
Jetzt am Abend sind sie auf Wanderschaft und gehen das ein Kilometer lange Gelände im Gänsemarsch auf und ab. Ein richtiger Trampelpfad hat sich gebildet, sie gehen immer denselben Weg.
Ungewöhnlicher Naturschutz
Ein ungewöhnliches, wenn auch nicht neues Verfahren wenden die Thierhauptener an, um rund 5,5 Hektar renaturiertes Gebiet in Schuss zu halten. „Wir haben nach einer Lösung gesucht, wie wir nicht einen irren Pflegeaufwand haben“, beleuchtet Thierhauptens Bürgermei-ster Franz Neher den Hintergrund der Aktion. Beweidung durch Schafe wird vielerorts praktiziert – aber durch Auerochsen?
Eine Fernsehsendung habe ihn auf die Idee mit den Auerochsen gebracht, sagt Walter Herb. Der Thierhauptener Landschaftsarchitekt verfolgte sie gemeinsam mit Josef Mertl und Martin Gastl. Alle drei engagieren sich bei der Dorferneuerung, auf die das Projekt zurückgeht.
Erfahrungen gesammelt
Eine andere Rinderrasse, die Gallowayrinder, hatte der Landschaftspflegeverband Landkreis Augsburg – der Träger des Projektes - im Gennachmoos im südlichen Landkreis bereits eingesetzt. „Wir haben gute Erfahrungen gesammelt“, sagt Geschäftsführer Werner Burkhart. Der Schritt zum Ur lag dann nicht mehr fern.
„Anfangs waren wir halt die Spinner“, lacht Gastl. Doch jetzt scheinen die 3650 Bewohner des Marktes im nördlichen Landkreis Augsburg alle stolz auf „ihre“ Ochsen zu sein. „Wann kommen sie denn nun?“, sei die häufigste Frage am Stammtisch gewesen, so Gastl.
Ausgestorben 1627
Genau genommen sind die heutigen Auerochsen gar keine Auerochsen. Das letzte Exemplar dieser Rasse soll 1627 in Polen gewildert worden sein. Was heute als Auerochse gilt, ist eine Rückzüchtung der deutschen Brüder Heinz und Dr. Lutz Heck in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Aus verschiedenen europäischen Rinderrassen ließen sie das Ur zu neuem Leben auferstehen. Bis auf die Größe – das Heckrind ist etwa 20 Zentimeter kleiner – vereinigt die Züchtung alle wesentlichen Merkmale des Ur-Rindes, wie etwa die weiten, nach vorne oben ausladenden weißen Hörner mit dunkler Spitze oder das weißbehaarte Maul. Im Gegensatz zu den Hausrindern, deren aller Stammvater das Ur ist, sind die Geschlechter des Auerochsen sehr unterschiedlich ausgeprägt.
In Deutschland 600 Exemplare
In Deutschland setzte wohl 1981 ein Landwirt in Oberbayern die Tiere zur extensiven Grünlandbewirtschaftung zum ersten Mal ein. Seitdem nutzen Naturschutzverbände und Landwirte die Auerochsen vermehrt zur Landschaftspflege, vor allem im Osten Deutschlands. Zuvor wurden die Heckrinder nur in Tierparks und Wildgehegen gehalten. Um die 600 Tiere gibt es inzwischen in der Bundesrepublik, in ganz Europa sollen es 2000 sein. Vier davon weiden unterhalb des Klosters Thierhaupten.
Schüchterne Ochsen
„Estrada! Nehle! Elisa! Abilo!“ Liebvoll ruft Landwirt Mertl die Auerochsen beim Namen. Er kennt sich aus mit Rindern, hatte er doch früher einen Stall voller Kühe und bis 1998 noch Bullen. Angst ist ihm daher fremd. „Wenn ich alleine bin, dann kommen sie bis auf einen halben Meter heran“, verrät er. Jeden Tag kommt er zur Weide, manchmal auch zweimal täglich, und sieht nach dem Rechten. Er kennt die Rinder, bemerkt sogleich Veränderungen. „Mit dem Kälbchen stimmt heute etwas nicht, es schwitzt so“, stellt er etwas beunruhigt fest.
An diesem Abend bleiben die Tiere auf Distanz. Außer Mertl sind noch fünf Personen anwesend, das hält sie zurück. Selbst der frische Ast, den der Landwirt ihnen in die Umzäunung wirft, lockt nur Stier Abilo. Dabei fressen sie noch feuchte Rinde besonders gern. „Sie trauen sich nicht“, sagt Mertl.
Quellen frei gelegt
Brunnenwasser nennt sich das gesamte Projekt der Renaturierung und Beweidung, dessen Trägerschaft und laufende Kosten der Landschaftspflegeverband Landkreis Augsburg übernimmt. Er führte 2003 auch schon die Ackerflächen in ihren ursprünglichen Zustand – vorwiegend Feuchtwiesen – zurück: Im Rah-men der Dorferneuerung kaufte die Kommune mit Eigen- und Fördermitteln die fünfeinhalb Hektar große Fläche auf, zwei verschüttete Quellen wurden geöffnet, ein Bachgerinne von einem Kilometer Länge angelegt, Gehölz gepflanzt und Magerrasen angesät. Fehlte nur noch die Pflege des Feuchtbiotops: Diese übernehmen nun die Auerochsen.
Sie werden das ganze Jahr draußen auf der Weide sein. Es sind widerstandsfähige Tiere, denen weder Hitze noch Kälte etwas anhaben kann. 30 Grad Celsius plus und minus ertragen sie. Wichtig sei, so Burkhart, dass sie Anzahl der Tiere auf die Fläche abgestimmt sei. Lediglich im Winter, wenn viel Schnee liegt, muss Mertl Heu zufüttern.
Von Steinzeitmenschen gemalt
Vor 250.000 Jahren zogen schon Auerochsen durch die Moore und Auenlandschaften Deutschlands. Die kleine Herde in Thierhaupten zieht durch ihr Brunnenwasser, jeden Abend auf und ab. Das Ur ist wieder an seinen Ursprung zurückgekehrt. Damals malten Steinzeitmenschen die Tiere auf Höhlenwände. Heute schießen Schaulustige von der Aussichtsplattform mit der Digitalkamera Fotos vom Urrind. Der Auerochse als Attraktion.
Tiere spielten übrigens nicht nur in der germanischen Geschichte Thierhauptens eine Rolle. Im Wappen des Marktes ist eine Hirschkuh abgebildet. Sie soll, so die Sage, dem Bayernherzog Tassilo den Weg zu seinem Gefolge gewiesen haben, woraufhin er ein Kloster errichtete. Das war um 750. So wurde aus dem germanischen Kultplatz eine der frühesten christlichen Kulturstätten in Deutschland, eines der Urklöster Bayerns, zu dessen Füßen nun das Ur weidet.
Bürgerreporter:in:Andrea Gärtner aus Meitingen |
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