Gut leben in Deutschland?

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Die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland sind durch tiefe soziale Spaltungen gekennzeichnet. Die Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung nimmt zu. Nach den Angaben der Bundesregierung besitzen die obersten 10 Prozent der Bevölkerung über die Hälfte des gesamten Nettovermögens.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schätzt den Anteil sogar auf etwa zwei Drittel des Gesamtvermögens. Trotz zuletzt positiver Lohnzuwächse steigt die Einkommensungleichheit im längerfristigen Trend weiter an. Sowohl Armut als auch Reichtum breiten sich aus. Die gesellschaftliche Mitte zerbröselt.

Eine Gesellschaft, in der sich eine Minderheit zu Lasten der Mehrheit bereichert, ist ungerecht. Wachsende Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit sind unvereinbar. Freiheit und Gleichheit sollten in unserer Gesellschaft gleichermaßen verwirklicht werden. Denn: Gleichheit ohne Freiheit endet in Unterdrückung und Freiheit ohne Gleichheit führt zu Ausbeutung (Rosa Luxemburg).

Da auch die Bundesregierung spürt, dass in der Bevölkerung der Unmut wächst, gab sie einen „Bericht zur Lebensqualität in Deutschland in Auftrag. Ende Oktober wurde der Bericht von der Bundesregierung beschlossen. Er beschreibt in zwölf Dimensionen und mit 46 Indikatoren die Lebensqualität in Deutschland. Für die Auswahl der Dimensionen und Indikatoren waren die Ergebnisse eines halbjährigen konsultativen Bürgerdialogs maßgeblich. Zudem hat die Bundesregierung Erkenntnisse der Forschung zur Lebensqualität sowie nationale und internationale Referenzprojekte wie die Enquete Kommission des Deutschen Bundestages zu „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ berücksichtigt.

Joachim Jahnke, der das - sehr zu empfehlende - globalisierungskritische Informationsportal „Deutschland & Globalisierung“ betreibt, schreibt dazu diesen Kommentar (Hier im Original lesen):

Regierungsbericht zur Lebensqualität:
Ein Land von glücklichen Menschen

Schon die Überschrift des Regierungsberichts zur Lebensqualität in Deutschland zeigt die Richtung: "Gut leben in Deutschland" und das ohne jedes Fragezeichen. Es ist eines der größten jemals von einer Bundesregierung gestarteten PR-Unternehmen. Aufgeschreckt von wachsendem Bürgerprotest und dem Aufstieg der AfD wurde von April bis Oktober 2015 ein Bürgerdialog durchgeführt, in dem mehr als 15.000 Bürgerinnen und Bürger ihr persönliches Verständnis von Lebensqualität formulieren sollten. Wie es heißt, "rückt die Bundesregierung damit die Lebensqualität in den Fokus ihres Regierungshandelns". Das allein ist schon ein verräterischer Satz, weil er indiziert, dass die Lebensqualität bisher eben nicht im Fokus gestanden hat.

Was soll eigentlich eine solche Studie, die nach eigener Erklärung nicht repräsentativ ist, obwohl bereits zu allen Einzelbereichen aktuelle und durchaus repräsentative Befragungen und Untersuchungen vorliegen? Geht es nur darum, dass Gabriel in seiner Auswertung vollmundig gleich am Anfang die nach seiner Ansicht positive wirtschaftliche Entwicklung feststellen kann und damit statt der Bürger antwortet?

"Im Bürgerdialog wurde von vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern betont, wie wichtig eine dynamische Wirtschaft als Basis für eine hohe Lebensqualität ist. Die solide wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre geht einher mit einem substanziellen Kaufkraftzuwachs in breiten Teilen der Gesellschaft. Mehr Kaufkraft und Arbeitsplätze erhöhen die Lebensqualität vieler Menschen in Deutschland.

Auch wenn sich das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht als alleiniger Indikator für den Wohlstand der Gesellschaft eignet, ist es dennoch ein zentraler und notwendiger Indikator, um die Wirtschaftsleistung eines Landes abzubilden. Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf bestätigt: Deutschland ist trotz Wiedervereinigung und Wirtschafts- und Finanzkrise wirtschaftlich starkes Land. Zwischen den Jahren 1991 und 2015 stieg das BIP pro Kopf um etwa ein Drittel an."

Dass solche Feststellungen durchaus einseitig sind und diesen angeblichen Bürgerdialog für die eigene Selbstbelobigung der Regierung ausnützen, liegt schon nach diesem Zitat aus der Presseerklärung des Bundeswirtschaftsministers auf der Hand. Für ihn und für diese Bundesregierung ist die Lage klar: Man lebt gut in Deutschland.

Was soll man sich vor diesem Hintergrund noch Gedanken beispielsweise um die Warnungen der Bundesregierung vor Altersarmut machen oder um die nachlassende Qualität der Arbeit in Deutschland? Allein zu diesen zwei besonders wichtigen Themen liegen ausreichend Untersuchungen vor, die Deutschland nicht als ein Land ausweisen, in dem man "gut leben" kann.

1. Die Sorge vor Altersarmut

Die Bundesregierung warnt in ihrem "Alterssicherungsbericht 2016" selbst, viele Bürger würden im Ruhestand nicht ausreichend finanziell abgesichert sein, wenn sie nicht selbst mehr für ihre Altersvorsorge tun. Das Versorgungsniveau der zukünftigen Rentner werde "ohne zusätzliche Altersvorsorge in den kommenden Jahren deutlich zurückgehen". Dabei bestehe vor allem für Geringverdiener "ein erhebliches Risiko. Wird in diesem Einkommensbereich nicht zusätzlich für das Alter vorgesorgt, steigt das Risiko der Bedürftigkeit im Alter stark an".

Doch wie sollen gerade Geringverdiener noch zusätzlich vorsorgen? Und ist es nicht gerade die Aufgabe einer Regierung in einem Land, in dem man angeblich gut leben kann, Altersarmut zu verhindern statt ihre Bürger davor zu warnen? Die Bundesregierung selbst schafft die Altersarmut, indem sie per Gesetz das Rentenniveau gemessen am durchschnittlichen Jahresarbeitsentgelt immer weiter in den Keller treibt, von 57,6 % 1980 auf 47,9 % 2015 und nur noch 41,6 %, die für 2045 erwartet werden (Abb. 17862).

Dagegen lag 2015 das Rentenniveau für die meisten Vergleichsländer wesentlich höher, z.B. 95,7 % Niederlande, 79,7 % Italien oder 67,6 % Frankreich (Abb. 12490). Bei letztem Arbeitseinkommen von der Hälfte des Durchschnitts fahren deutsche Rentner schon jetzt mit nur 53,4 % besonders schlecht und liegen zusammen mit den japanischen am Ende der internationalen Reihenfolge (Abb. 12477).

Hinzu kommt noch, dass in Deutschland Wohneigentum weit weniger verbreitet ist als in den meisten Vergleichsländern (Abb. 18261). Wohneigentum aber lässt sich im Alter gut verwerten und der Ertrag für die Altersversorgung einsetzen.

Dabei geht aus dem 258 Seiten starken Dokument hervor, dass die gesetzliche Rente immer noch die größte Bedeutung für die Versorgung der alten Menschen hat. Anfang 2015 waren etwa 17 Millionen Personen in Deutschland 65 Jahre oder älter. Fast drei Viertel aller an diese Generation gezahlten Altersleistungen stammen aus der Rentenkasse. Das Zahlenwerk beruht auf der Erhebung "Alterssicherung in Deutschland", die laut Bundesregierung "umfangreichste repräsentative Datenquelle zur Einkommenssituation der deutschen Bevölkerung im Alter". Dafür hat TNS Infratest Sozialforschung 2015 mehr als 30 000 Bürger befragt und deren Angaben auf die Bevölkerung hochgerechnet.

2. Nachlassende Qualität der Arbeit

Der aktuelle Arbeitsreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zeigt bedrückende Ergebnisse. Befragt wurden für die repräsentative Studie 20.000 Arbeitnehmer. Im Durchschnitt arbeiten die Befragten demnach fünf Stunden pro Woche mehr als vertraglich geregelt und kommen dabei auf 43,5 Stunden. 17 Prozent arbeiten sogar 48 Stunden pro Woche in ihrem Vollzeitjob - und mehr als die Hälfte von ihnen ist damit unzufrieden. Hinzu kommt, dass jeder Fünfte angab, auch in der Freizeit für die Arbeitgeber erreichbar sein zu müssen. Auch Wochenendschichten kennt fast jeder Zweite von ihnen.

Das bleibt nicht ohne Folgen. Die Dauerpräsenz führt nicht nur zu Frust und Motivationsstau, sondern auch zu gesundheitlichen Beschwerden (Abb. 19425). Die Befragten klagen dem Bericht zufolge über Müdigkeit und Erschöpfung (53 Prozent) oder Rücken- und Kreuzschmerzen (51 Prozent). Gleich danach folgen die körperliche Erschöpfung (40 Prozent), Schlafstörungen (34 Prozent) oder Niedergeschlagenheit (24 Prozent).

Mit zunehmender Länge der Arbeitszeit sinkt der Anteil der Beschäftigten, die mit ihrer Work-Life-Balance zufrieden sind, und es steigt der Anteil der Beschäftigten, die gesundheitliche Beschwerden berichten. Bereits ab 2 Überstunden werden deutlich häufiger gesundheitliche Beschwerden genannt und mit steigender Überstundenzahl nehmen insbesondere körperliche Erschöpfung und Schlafstörungen zu.

43 % der Beschäftigten arbeiten mindestens einmal im Monat am Wochenende. Mehr als die Hälfte dieser Beschäftigten arbeitet nicht nur an Samstagen, sondern auch an Sonn- und Feiertagen. Wochenendarbeit ist, da sie sozial wertvolle Zeiten besetzt, mit hoher Beanspruchung hinsichtlich Gesundheit und Zufriedenheit assoziiert.

Dies gilt für Frauen in besonderem Maße. Etwa 4 von 10 Beschäftigten haben selber großen Einfluss darauf, wann sie mit ihrer Arbeit beginnen und sie beenden (38 %) oder wann sie ein paar Stunden freinehmen (44 %). Diese Flexibilitätsmöglichkeiten gehen mit einer besseren Gesundheit und Work-Life-Balance von Beschäftigten einher, wobei hier Tätigkeitseffekte nicht auszuschließen sind. Doch 60 % haben diese Freiheit eben nicht.

"Gut leben" sieht wahrlich anders aus. Allein diese zwei Bereiche desavouieren das von Gabriel gepriesene, angeblich "gut leben" in Deutschland und stempeln es als reine Gabriel-typische PR-Masche. Und man könnte andere Bereiche hinzufügen, vor allem die Lebenssituation der vielen Menschen, die gar nicht erst einen richtigen Arbeitsplatz haben oder mangels Chancengleichheit keinen Aufstieg finden oder die gewaltige Zunahme des Bewusstseins von Ungleichheit bei der Einkommensverteilung,

was sich überall in der westlichen Welt schon an der immer häufigeren Google-Suche zeigt (Abb. 19426). Auch lässt die hohe Feinstaubbelastung der Luft in vielen deutschen Großstädten ein "gutes Leben" eigentlich kaum zu. So wurde 2015 die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation an 77 % aller Messstationen nicht eingehalten und ebenso im Jahresdurchschnitt der PM-Grenzwert für die Luftgüte bei 35 % aller Messstationen.

Gerade hat eine Infratest-dimap-Umfrage für den Saarländischen Rundfunk gezeigt, dass sich 41 % der Befragten im Job unterbezahlt fühlen und sogar mehr als die Hälfte (51 %) der Arbeiter. 44 % meinten, ein sozialer Aufstieg durch Leistung sei heute schwerer als vor 20 oder 30 Jahren. Insgesamt ist die weitaus überwiegende Mehrheit der Deutschen überzeugt, dass Einkommen in Deutschland ungerecht verteilt sind. 85 % der Befragten sagten, die Unterschiede zwischen Gering- und Spitzenverdienern seien zu groß. "Gut leben in Deutschland"?

Den Bericht "Gut Leben in Deutschland" hier nachlesen
Dokumentation des Berichtes hier nachlesen
Bürgerdialog "Deutschland im Dialog" hier anschauen

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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