Gleidingens Ortsbürgermeister Peter Jeßberger: "Für die Kommunalpolitik finden wir kaum Kandidaten"

Peter Jeßberger | Foto: P. Jeßberger
3Bilder

Peter Jeßberger ist Gleidingens Ortsbürgermeister und Mitorganisator bei einer Veranstaltungsreihe gegen das Vergessen, der Reihe 70plus. Im myheimat-Interview stellt er die Reihe 70plus vor und er verrät, was Gleidingen lebenswert macht.

Herr Jeßberger, Sie sind Gleidingens Ortsbürgermeister und Mitorganisator bei der Veranstaltungsreihe gegen das Vergessen, Reihe 70plus. Warum ist das Erinnern immer noch so wichtig – auch in Gleidingen?

Gleidingen hat eine über 1000-jährige Geschichte. Lange Zeit gehörten hierzu auch Bürger jüdischen Glaubens bis zur Machtergreifung und Verfolgung durch die Nazis.
Im Ersten Weltkrieg standen auch Gleidinger jüdischen Glaubens an der Front und mussten ihr Leben für Kaiser und Vaterland lassen. Diese Mitbürger waren fester Bestandteil der dörflichen Gemeinschaft. Gleidingen war eine eigene Synagogengemeinde.
Das Erinnern ist schon deshalb sehr wichtig, um in Zukunft solch schreckliche Dinge zu verhindern. Wer seine Vergangenheit verdrängt, der hat auch keine Zukunft.

Wenn Sie eine Jahresbilanz ziehen: Welches waren die Höhepunkte der Reihe 70plus?

Vor zwei Jahren, als wir das erste Mal die Reihe 70 starteten, bestand diese Reihe fast nur aus Höhepunkten, wie der Welturaufführung von Gedichten aus Lyrik gegen das Vergessen mit Noa Lachman und Will Hancox oder des Konzerts für das Erinnern mit Matthias Horndasch und der Lesung aus der Zeitzeugenbiographie des Auschwitz-Überlebenden Nachum Rotenberg. Außerdem hatten wir verschiedene Musik- und Informationsabende. Diese gewaltige organisatorische Aufgabe war allerdings durch das Organisationsteam nicht auf Dauer durchzuhalten, sodass wir 2009 weniger Veranstaltungen durchgeführt haben, aber auch hier auf Qualität geachtet haben. Hier war der Höhepunkt der Besuch des Synagogenchores aus Toronto.
2010 hatten wir wieder fünf Termine auf dem Programm, wie die Erinnerung an den Tag der Bücherverbrennungen im Mai 1933, die Veranstaltung „200 Jahre synagogale Orgelmusik“ unter der Leitung von Prof. Andor Izsák und den Bericht über das Schicksal einer jüdischen Familie mit Heinz Samuel.

Nach der Kranzniederlegung zum Gedenken der Opfer der Reichpogromnacht im vergangenen Jahr ist der Gleidinger Gedenkstein beschmiert worden. Wie verlief die Gedenkveranstaltung am 9. November 2010?

Die Veranstaltung verlief friedlich unter Anteilnahme der Bevölkerung. Ich bin froh, dass in diesem Jahr auch keinerlei Vandalismus stattgefunden hat. Die Schändung des Gedenksteins und der Kränze durch „geistig Fehlgeleitete“ hat mich seinerzeit doch sehr geschockt. Diese Vorkommnisse bestärken uns, weiter gegen das Vergessen anzukämpfen.

Ihre Reihe-70plus-Kollegin Corinna Luedtke hat in diesem Jahr durch Ihr Schreibprojekt an der Albert-Einstein-Schule „Schreiben gegen das Vergessen“ viel Aufmerksamkeit erregt. Wie beurteilen Sie dieses Projekt?

Dieses Projekt habe ich mit großem Interesse verfolgt. Ich kann die Albert-Einstein-Schule zu diesen engagierten Schülern und Lehrern nur beglückwünschen. Corinna Luedtke hat bisher durch ihre Arbeit und ihr Engagement für die Reihe 70 immer für hochkarätige Veranstaltungen und Projekte in Laatzen gesorgt. Die Hetzkampagnen der NPD sollten auch hier Grund genug sein, Aufklärung gegen solche Dummheit zu betreiben. Ich wünsche mir, dass es noch mehrere Projekte dieser Art geben wird.
Zum Schluss möchte ich allen Mitstreitern dieses Projektes ganz herzlich danken, denn ohne das ehrenamtliche Engagement von Corinna Luedtke, Heinz Maraun, Andreas Neumann und mir würde es diese Reihe trotz Unterstützung durch die Stadt Laatzen, nicht geben.

Es ist heutzutage ein Trend, dass sich viele Menschen ehrenamtlich nur noch in überschaubarem Rahmen engagieren. Welche Erfahrungen machen Sie in Gleidingen?

Ohne Ehrenamt gäbe es zum Beispiel kein Vereinsleben, welches für unser Gemeinwohl äußerst wichtig ist. Beispielsweise könnte der BSV Gleidingen nicht die Vielfalt seines Angebotes aufrecht erhalten, wenn nicht mehr als 100 Ehrenamtliche für den Betrieb sorgen würden. Leider geht der Trend immer mehr dazu über, dass viel erwartet wird, man aber möglichst wenig dazu betragen möchte. Dies führt bei einigen Vereinen zu einer Überalterung der Mitglieder und schließlich zur Auflösung. Auch wäre es erfreulich, wenn junge Menschen sich in der Kommunalpolitik engagieren würden. Auch hier haben wir das Problem, dass wir kaum noch Kandidaten finden können.

Wenn jemand überlegt, ob er mit seiner Familie nach Gleidingen ziehen soll: Mit welchen Argumenten würden Sie für Gleidingen werben? Was macht Gleidingen lebenswert?

Gleidingen hat eine gute Infrastruktur, wenn auch die direkte Nahversorgung noch verbesserungswürdig ist. Die Nähe zur Leinemasch als Naturschutzgebiet lädt zu Spaziergängen oder Fahrradausflügen ein. Wir haben eine Grundschule mit eigenem Lehrschwimmbecken. Unsere Kindertagesstätte ist vorbildlich und schön gelegen.
Die ärztliche Versorgung ist gewährleistet. Die Anbindung an das Stadtbahnnetz ist ein großer Standortvorteil. Wir haben eine ganze Reihe von Vereinen, die Neubürger gern willkommen heißen und dabei helfen, sich in Gleidingen einzuleben und Anschluss zu finden.

Was könnte in Gleidingen noch besser werden, damit die Wohnqualität steigt?

Wir müssen dafür sorgen, das der LKW-Verkehr im Ort eingeschränkt wird und entsprechende Lärmschutzmaßnahmen an der Bahnlinie und am Messeschnellweg sind dringend geboten. Auch fehlen noch immer Hochbahnsteige, um behinderten Mitbürgern die Nutzung der Stadtbahn zu erleichtern.

Welche schönen Ecken von Gleidingen würden Sie Touristen zeigen?

Die Leinemasch, den Golfplatz mit seiner Hügellandschaft, die Obstplantagen und einige schöne alte Gebäude sowie den Tordenskiold-Gedenkstein.

Seit mehr als zwei Jahren schreiben Bürgerreporter aus Laatzen auf myheimat.de, dem Mitmachportal der Leine-Nachrichten. Was halten Sie von dem Projekt?

Für die Darstellung des Vereinslebens und seine Vielseitigkeit ist dieses Projekt wichtig, wenn auch manchmal aus einem Ortsvorsteher in Süddeutschland ein Oberbürgermeister wird. Dennoch sollte myheimat.de weiter ausgebaut werden.

Corinna Luedtke, Gleidinger Autorin, Kollegin Jeßbergers bei der Reihe 70plus und Leiterin des Projekts „Schreiben gegen das Vergessen“, hat den Stromkasten an der Hildesheimer Straße/Ecke Thorstraße gestaltet. Schaltkästen zu bemalen, um das Stadtbild Laatzens zu verschönern, geht auf eine Idee Jürgen Vollmers von der Künstlergruppe Akzente zurück. Der Stromkasten neben dem Gleidinger Gedenkstein soll an das jüdische Leben in Laatzen erinnern und ein Zeichen gegen Rechtsextremismus setzen.
Luedtke arbeitete das hebräische Wort „Schalom“ in ihr Werk ein. „Schalom ist ein positiv besetztes Wort, es impliziert auch Freude, Sicherheit, Wohleregehen und Ruhe“, sagte Luedtke bei der offiziellen Übergabe des Schaltkastens am 9. November.

myheimat-Team:

Annika Kamissek aus Bad Münder am Deister

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Folgen Sie diesem Profil als Erste/r

2 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.