Ein Urwald inmitten Hannovers – Das ehemalige Wassergewinnungsgelände am Maschsee
Wohl nur sehr wenigen Hannoveranern ist bekannt, dass es keine zwei Kilometer südlich des Stadtzentrums eine für städtische Verhältnisse außergewöhnliche Naturlandschaft gibt. Das ist das ehemalige Wassergewinnungsgelände westlich des Maschsees, beginnend hinter dem Deich der Leine, das etwa einen Quadratkilometer Fläche einnimmt. Begrenzt wird das Gebiet im Westen durch die kleine, aus dem Deistervorland kommende Ihme und den Stadtteil Ricklingen. Im Osten durch die Leine, die sich direkt an der Rückseite des Maschsees entlangwindet. Im Norden durch den künstlich angelegten Schnellen Graben, der nahe der Bootshäuser des Maschsees beginnend, den großen Teil des Leinwassers der Ihme zuführend um die Innenstadt herumleitet, um sie vor Hochwassern zu schützen. Alle paar Jahre treten diese auf und setzen dann große Bereiche der Leineauen unter Wasser. In allen diesen drei Flüssen ist der Biber sesshaft geworden. Die großen Nager haben aber ihren Lebensraum außerhalb des Wassers nur in den nahen Uferbereichen. Dort gibt es genug Weichholz für sie. Weiter wagen sie sich nicht vor.
Und im Süden durch die Ricklinger Kiesteiche eine weitere, eindrucksvolle Natur, die sich mit der angrenzenden Auenlandschaft von Leine und Alter Leine bis zu den noch großflächigeren Teichlandschaften der Koldinger Seen hinzieht, neben dem Steinhuder Meer das bedeutendste Vogelzugsgebiet der Region Hannover, in der manchmal Zehntausende Wildgänse Station machen. Natürlich auch viele andere Zugvögel, die dort aber zum Teil auf Dauer leben. Z. B. Störche, Grau- und Silberreiher (einmal konnte ich rund 70 Silberreiher zählen), Fisch- und Seeadler. Und natürlich auch der kleine, buntschillernde Eisvogel.
Einst war dieses Gebiet am Maschsee ein Wassergewinnungsgelände. Es bestand aus weiten, feuchtem Wiesengelände, ähnlich dem Wassergewinnungsgelände bei Grasdorf. Historische Luftbilder dokumentieren es. Irgendwann, vielleicht nach dem 2. Weltkrieg – ich konnte es nicht herausfinden – wurde der Betrieb eingestellt, und die Landschaft wurde sich selbst überlassen. So hat sich dort in relativ kurzer Zeit eine urwüchsige Natur, auch mit großen und dicken Bäumen, Weiden und Eichen, entwickelt. Man mag es kaum glauben, wie sich das Landschaftsbild, unberührt von menschlichen Eingriffen, so schnell verändern kann.
Seit den Siebzigerjahren besuche ich dieses Gebiet immer mal wieder und konnte auch in diesem Zeitraum große Veränderungen feststellen. Die Schrebergärten, die einmal direkt am Deich der Leine lagen, sind kaum mehr zu erkennen. Nur anhand einiger übrig gebliebener Obstbäume, die heute nicht mehr in diese Landschaft passen wollen. Aber sonst breitet sich ein mehr oder weniger typischer Auwald aus. Am einzigen Bachlauf, der das Gebiet durchzieht und einen Bereich vollkommen abgrenzt, so dass er vom Menschen nicht betreten werden kann, stehen Erlen und Eschen. Ansonsten sieht man Eichen, Ulmen, Kanadische Pappeln und natürlich die schnellwüchsigen Weiden, aus Weichholz bestehend, von denen etliche von Stürmen dahin gerafft wurden und die die Natur urwaldartig erscheinen lassen. Und in Teilgebieten sind es am mehr oder weniger lichten Waldboden Dickichte, die ihn an vielen Stellen undurchdringlich machen und auch den einen oder anderen ehemaligen Trampelpfad völlig überwuchert haben. Aber es gibt noch Pfade, so beginnend auf dem Deich der Leine oder abzweigend vom Wasserfehdeweg, der vom Ohedamm zu den Kiesteichen führt und der das Gebiet in der Mitte geradlinig durchschneidet, die in die wilde Natur hineinführen. Auf ihnen erreicht man etliche der vielen Gewässer, oft rechteckige Teiche, die einmal durch ihren künstlich aufgeschütteten Sandboden über einer dem Wasser undurchdringlichen Lehmschicht zur Filterung des Wassers dienten. Dieses wurde dann, wenn es versickert war und sich im Untergrund verteilt hatte, in Brunnen gesammelt und zum Wasserbehälter auf den Lindener Berg geleitet. Doch das war einmal. Heute vermitteln die Teiche, von denen ich insgesamt 16 zählen konnte, durch die Eroberung der Natur trotz ihrer geradlinigen, rechteckigen Flächen, was der Besucher kaum noch bemerkt, da sie so zugewachsen sind und deren Ufer deswegen nur an wenigen Stellen noch eingesehen werden kann, einen natürlich, zum Teil verwunschen Eindruck. Die besten Einblicke auf einige der Teichlandschaften hat man vom Wasserfehdeweg aus.
Aber am eindrucksvollsten erlebt man die Natur, wenn man den kleinen Trampelpfaden folgt oder sie sogar einmal verlässt. An mehreren Stellen sind Hinweisschilder aufgestellt, auf denen steht, dass das Verlassen der Wege auf eigene Gefahr geschieht. Festes Schuhwerk sollte man dazu schon tragen. Doch den feuchten, zum Teil sumpfigen und wilden Untergrund nimmt ein wirklich Naturinteressierter auch mal in Kauf, natürlich darauf achtend, keine Pflanzen zu zertreten. Mit einer Pflanze sollte man aber kein Erbarmen haben. Das ist das Indische Springkraut, das nicht in die Landschaft gehört und das sich, zwei Meter hoch und im Sommer mit roten Blüten, auch hier an einigen Stellen ausbreitet und alles überwuchert. Es wurde vor fast 200 Jahren als Zierpflanze für Gärten eingeführt.
In den trockeneren Teilbereichen breitet sich die Brombeere aus. Sie macht das Fortkommen ebenso schwer, wie die stachligen Schlehen, die umgestürzten Bäume oder der schlammige Untergrund. Aber dafür gibt es eine Menge Natur zu entdecken, besonders auch im Detail, und das macht den besonderen Reiz dieser Landschaft aus, gerade im Herbst zur Pilzzeit. Das Totholz ist der richtige Untergrund für sie, auf denen man aber nur ihre Fruchtkörper sieht. Den Großteil ihrer Masse, die Mykorrhiza, verbreiten sie großflächig im Erdboden. So ist auch das größte Lebewesen unserer Erde nicht ein Mammutbaum oder ein Blauwal, sondern ein Pilz, ein Hallimasch, was anhand von Genanalysen nachgewiesen werden kann. Er bedeckt eine Fläche von 150.000 Quadratmetern und ist rund 100 Tonnen schwer.
Das Totholz ist aber auch ein besonders wichtiger Lebensraum für die Tierwelt. Über 1000 Käferarten leben im oder von den vermodernden Stämmen. Viele, und auch deren Äste, sind vollkommen mit Moos überzogen, das die Feuchtigkeit dieses Waldes mag. In den Stammhöhlen der Baumruinen haben andere Tiere ihr Zuhause. Ob Mäuse, Siebenschläfer, Amphibien, Maden oder Vögel, die darin nisten. Es sind die unterschiedlichsten Arten. Und besonders eindrucksvoll sind eben die Pilze, die man auf diesem Untergrund bestaunen kann. Sie zeigen oft nur kurz ihre Schönheit, bevor sie schleimig werden und anschließend in sich zusammenfallen. Und wenn man den Pfad mal verlässt, muss man aufpassen, dass man nicht auf die Frösche tritt, die im modrigen Laub gut getarnt herumhüpfen.
Und dann die Teiche. Sie liegen oft verwunschen da, wie aus einer anderen Welt. Vereinzelt zeigen sich Wasservögel: Schwäne, Teichhühner, Haubentaucher und andere. Aber die meisten ziehen lieber die großen Teichlandschaften im Süden vor, oder eben den Maschsee.
Wenn man diese urwüchsige Landschaft besucht, sollt man sich Zeit mitbringen. Da es einen Überblick nur an wenigen Stellen gibt, kommt es darin eher auf das an, was nahe liegt. Und dabei gibt so viel zu entdecken. Man muss nur die Augen offen halten und sich auch über Kleines freuen können. Und wenn man in die Weite schauen möchte, dann macht man eben eine Tour zum Maschee, den Leineauen oder den vielen Kiesteichen, die sich bis hinter die Marienburg hinziehen, wo teilweise noch Kies abgebaut wird. Doch natürlich freut man sich darüber, auch wenn das ehemalige Wassergewinnungsgelände nur ein relativ kleines Gebiet ist, dass es eine solch außergewöhnliche Natur inmitten der Großstadt überhaupt gibt. Sie trägt zur Biodiversität bei, ist sie doch ein kleiner Beitrag zur Erhaltung der Arten. Und gerade davon sollte es viel mehr geben.
Siehe auch: Parkanlagen und Grüngebiete in und um Hannover
Bürgerreporter:in:Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode |
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