Anhaltende Kritik an Bildungs- und Hochschulpolitk. Heißer Herbst in Mittelhessen
„Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut!“ Seit Mitte November demonstrieren zehntausende Schüler und Studenten in vielen deutschen Städten für bessere Bildung demonstriert. Und hessische LehrerInnen demonstrierten in Wiesbaden; dort zogen am Dienstag den 17.11. nach Gewerkschaftsangaben 8.000 Schüler und Studenten gemeinsam mit Lehrern durch die Innenstadt. Protestmärsche und Aktionen gab es unter anderem in Berlin, München, Frankfurt und Düsseldorf. In ganz Deutschland rechneten die Veranstalter mit mehreren zehntausend Teilnehmern. Der Aktionstag war der Auftakt zu einem „heißen Herbst des bundesweiten Bildungsstreiks“:
Bundesweit achtzigtausend Schüler und Studenten demonstrierten für bessere Bildung: Donnerstag-Nachmittag marschierten auch in Gießen schätzungsweise 800 Demonstranten durch Gießen, um sich ihrem Frust über schlechte Bedingungen Luft zu machen: Man schrieb und malte Parolen und Bilder auf Plakate, ging auf die Straße (Verkehr musste umgeleitet werden) und genoss das Wir-Gefühl eines Zorn-Kollektivs. Das Medienecho in dieser Woche war ja seither sehr groß und protestfreundlich. In den Redaktionen scheint endlich angekommen, dass die Schule und Universität, wie sie früher einmal war, mit der Einführung neuer Anforderungen einfach geschädigt wurde. Studierende bemängeln, dass für ein nachhaltiges, auch persönlich bereicherndes Fachstudium keine Zeit mehr da ist.
Streikende auch an den Universitäten Mittelhessens suchen das Gespräch. Auf die bildungs- und hochschulpolitischen Forderungen der Studierenden und SchülerInnen reagieren politisch Verantwortliche zurückhaltend. In Gießen räumte der Noch-Uni-Vizepräsident Joybrato MUKHERJEE ein: „Wir sind bei der Umstellung auf das Bachelor-/Master-System an manchen Stellen über das Ziel hinausgeschossen“. Er signalisierte Verständnis für den Unistreik und kündigte Nachbesserungen an: die Weiterentwicklung des Bolonga-Prozesses sei „dringlich“. Freiheiten in Studium und Lehre wollen wir „zurückerobern“, sagte der zukünftige Unipräsident Gießens.
Wer momentan streikt, dem sollen in Gießen keine Nachteile daraus erwachsen, versicherte der Univize in einem Rundschreiben an die Studierenden. Das direkte Gespräch mit den Lehrenden solle man im Zweifelsfalle suchen.
Ob der jetzige Bildungsstreik so folgenlos verpufft wie derjenige im Sommer, hängt auch davon ab, wie schlagkräftig die Studenten (Lehrer, Schülereltern etc.) ihre Ziele formulieren und wie sie sich nach außen darstellen. Es kommt auf das richtige Protest-Design an. Wie das Giessener Design am 26.11.09 aussah, spiegeln die Bilder meiner Bildergalerie wider.
Die unhierarchische Organisationsform der protestierenden Studierenden und SchülerInnen beim Marsch durch die Giessener Innenstadt mit Stop in Theaternähe (Kreuzung) zeigte, dass sich hier eine Gruppendynamik ähnlich wie bei Klassenfahrten einstellte: Leit-Sprecher mit Lautsprecheranlage auf Lastkrfatwagen sagten dem Publikum, um was es gehe. Sie konnten die zahlreichen Gruppen lenken und die Mitläufer bei Laune halten.
Seriöse Printmedien, Funk und Fernsehen berichteten zum „Heißen Herbst“ bundesweit, dass die Demonstranten Grund zur Empörung mehr als genug haben! Und was sagen die beklagten, für die Missstände und Zumutungen Verantwortlichen?: Die Bildungspolitiker, Universitätsrektoren und Professoren schoben sich in dieser Woche die Schuld am Bologna-Chaos und am insgesamt deprimierenden Zustand der universitären Lehre gegenseitig zu, wie sich das im deutschen Bildungs-Föderalismus unverbindlich tun lässt.
Streikende Lehrer in Hessen bekommen Lohn-Abzug und Eintrag in die Personalakte
Mehrere tausend Demonstranten protestieren in Wiesbaden gegen die Bildungspolitik des Landes Hessen. Die Polizei sprach von rund 4500 Teilnehmern. Vor dem Kultusministerium gab es eine Abschlusskundgebung. Mit der Beteiligung am landesweiten Lehrer-Protest wollen sich die Schüler und Studenten auch auf die Seite der Lehrer stellen. Zuvor hatten sie vor dem Frankfurter Hauptbahnhof für mehr Mitspracherechte an Schulen und Unis demonstriert. Auch SPD-Landeschef Thorsten Schäfer-Gümbel, der Grünen-Vorsitzende Tarek Al-Wazir und die Fraktionschefin der Linkspartei, Janine Wissler, beteiligten sich wie andere Abgeordnete ihrer Fraktionen an der Demonstration.
Die zentralen Forderungen: mehr Lehrer, mehr Geld für Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen und mehr Freiheit für Forschung und Lehre. Nach der Kundgebung zogen 200 bis 300 Demonstranten unter Verletzung der Bannmeile bis vor den Landtag. Sie skandierten in Hörweite der Abgeordneten unter anderem "Bildung für alle, und zwar umsonst". Hessens Kultusministerin Dorothea Henzler (FDP) hat den Lehrerstreik, bei dem es auch um kürzere Arbeitszeiten gegangen ist, umgehend kritisiert. „Wir arbeiten an einer stetigen Verbesserung der Rahmenbedingungen. Vor diesem Hintergrund habe ich kein Verständnis für den Lehrerstreik“, sagte Henzler. Für das Schuljahr 2009/2010 seien 1000 Lehrerstellen zusätzlich geschaffen, die Eingangsklassen deutlich verkleinert und Ganztagsangebote ausgebaut worden.
Schüler- und Studentensprecher wie Landesschülersprecherin Fiona Merfert kritisierten bei der Kundgebung unter anderem Leistungsverdichtungen beim "Turbo-Abi", also der auf acht Jahre verkürzten Gymnasialzeit und den Zwang für Hochschulen, Geld bei der Wirtschaft einzuwerben. Sie bemängelten zudem einen Einfluss der Wirtschaft auf Bildungsinhalte und einen Mangel an öffentlichem Geld für die Bildung.
Alle Lehrkräfte, die ihrer Arbeitszeitverpflichtung durch die Teilnahme am Bildungsstreik nicht nachgekommen sind, haben Gehalts-Einbußen hinzunehmen. „Arbeit, die nicht erbracht wird, wird vom Staat auch nicht bezahlt", sagte die Kultusministerin im Landtag.
Nach ihren Angaben beteiligten sich am vergangenen Dienstag 2,5 Prozent der 55.000 hessischen Pädagogen am Lehrerstreik. Demnach müssen 1.375 Lehrer mit Konsequenzen rechnen. Auch mit Einträgen in Personalakten müssen die Lehrer rechnen. Die Regierungsparteien CDU und FDP hatten den Lehrerstreik scharf kritisiert - mit dem Verweis darauf, dass Beamte nicht streiken dürften.
„Hessen besitzt nicht viel“,
denn auf einem Schuldenberg von 57,9 Milliarden Euro sitzt das Land Hessen, so titeln Zeitungsberichte: „Hessen rechnet sich pleite“.
Die von Lehrern erbrachte Leistung – der Unterricht für Schüler und Studenten – konnte dabei nicht in der kaufmännischen Bilanz verbucht werden, sagten Finanzminister Karlheinz Weimar (CDU) und der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU), die die negative Bilanz mit tiefroten Zahlen vorlegten: Eröffnungsbilanz 2010 – Kulturgüter 5,1 Mrd. Euro des hessischen Gesamtvermögens von 30,2 Mrd. Euro.
Groll gegen ein System, in dem Banken Milliarden vernichten
Trotz voller Stundenpläne und möglicherweise Mangel an politischem Eifer oder einfach aus ästhetischen Gründen sollte man sich dazu „überwinden, seinen inneren Groll gegen ein System, in dem Banken Milliarden vernichten und rebellierende Studenten mit scheinheiliger Rhetorik abgespeist werden, in ein handfestes bildungs- oder gar gesellschaftspolitisches Engagement umzumünzen“, schrieb die FAZ.
Die „meisten Studenten wollen doch das Gute auf der ganzen Linie“, liest man: „da geht es ihnen wie den geschundenen SPD-Mitgliedern“. Aber wo könne man sich für das Gute immatrikulieren, ohne dabei allzu sehr aus der eigenen Bequemlichkeit zu fallen? Dort, „wo es brodelt, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt“, hat Sigmar Gabriel seine SPD-Genossen vergangenes Wochenende hingeschickt. Wer wirklich ein phantasievolles und zivilisiertes Studium haben wolle, der müsse auch „zu den Feldküchen der müden Kombattanten“, empfiehlt die FAZ.
Die von Bildungsministerin Schavan eilig angekündigte Bafög-Erhöhung wird niemand ablehnen, zu den Kern-Forderungen gehört sie aber nicht. Schon vor Tagen hatten Studenten an zahlreichen Hochschulen in Deutschland damit begonnen, Hörsäle zu besetzen. Wie wird es weitergehen!? Im Zentrum der Kritik stehen die Bachelor- und Masterstudiengänge. Die Studenten klagen über eine zu starke Verschulung und eine zu große Stofffülle und fordern Korrekturen. Die Initiatoren verlangen außerdem mehr Bildungsgerechtigkeit, mehr Geld für das Bildungssystem, eine Abschaffung der Studiengebühren, kleinere Klassen und mehr Mitsprache an Schulen und Hochschulen. Das Motto lautet „Education is not for sale“ (“Bildung ist unverkäuflich“).
Angesichts der anhaltenden Proteste sieht die Kultusministerkonferenz (KMK) die Hochschulen am Zug: Man habe Verständnis für die Forderung nach einer Reform des Bachelor- und Mastersystems, sagte KMK-Vorsitzende, der Mecklenburg-Vorpommers Kultusminister Henry Tesch. Der Bachelor müsse „studierbar und berufsqualifizierend“ sein.
Anmerkung
Am Mittwoch (26-11-09) verabschiedeten die Studierenden bei einer Vollversammlung eine „Gießener Erklärung“.
Der umfangreiche „Forderungskatalog der streikenden Studierenden“ wird eingeleitet mit dem Satz: „Wir, die streikenden Studierenden der JustusLiebigUniversität Gießen, haben uns ohne Anstoß von außen dazu entschlossen, uns an unserer Universität Freiräume zu eröffnen, um in disziplinierter Arbeit die Missstände unserer Zeit zu benennen und gegen diese vorzugehen. (…)“
Mehr zum GZ-Link (von „aus stadt und land“) unter
http://www.giessener-zeitung.de/giessen/beitrag/23...
Bürgerreporter:in:W. H. aus Gladenbach |
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