»Extremer Reichtum verursacht extreme Schäden«. Wie die Welt gerechter werden kann
"Superreiche können ihre Interessen schamlos durchsetzen, indem sie Lobbygruppen finanzieren. Sie können Debatten prägen, weil sie an Medienunternehmen beteiligt sind, und sie beeinflussen die Politik mit ihren Spenden."
Ein sehr lesenswertes Interview mit der Wirtschaftsforscherin Ingrid Robeyns
von Michael Brächer
„SPIEGEL: Frau Robeyns, ein Gedankenexperiment: Was würden Sie machen, wenn Sie 100 Millionen Euro im Lotto gewinnen?
Robeyns: Ich würde höchstens eine Million behalten.
SPIEGEL: Was wird aus dem Rest?
Robeyns: Der fließt an ein Institut, das der neoliberalen Ideologie eine neue Wirtschaftsordnung entgegensetzt. Wir brauchen eine Wirtschaft, die den Menschen besser gerecht wird.
SPIEGEL: Mit Ihrem neuen Buch haben Sie eine Debatte über die ethischen Grenzen des Reichtums ausgelöst. Sie plädieren darin für den sogenannten Limitarismus. Kein Mensch sollte mehr als zehn Millionen Euro besitzen. Was haben Sie gegen Reiche?
Robeyns: Ich habe nichts gegen reiche Leute, sondern gegen die Konzentration von Reichtum. Für größere Vermögen gibt es keine moralische, politische oder ökonomische Rechtfertigung. Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass extremer Reichtum auch extreme Schäden verursacht.
SPIEGEL: Welche Schäden meinen Sie?
Robeyns: Extremer Reichtum unterminiert die Demokratie. Superreiche können ihre Interessen schamlos durchsetzen, indem sie Lobbygruppen finanzieren. Sie können Debatten prägen, weil sie an Medienunternehmen beteiligt sind, und sie beeinflussen die Politik mit ihren Spenden.
SPIEGEL: Sind das nicht auch Klischees?
Robeyns: Schauen Sie doch, wie Rupert Murdoch seine Medienmacht genutzt hat, um Politik zu machen. Und wäre es nicht naiv zu glauben, dass Großspender von Politikern keine Sonderbehandlung erhalten? Superreiche schaden aber nicht nur der Demokratie, sondern auch dem Planeten. Dank ihres exzessiven Lebensstils verursachen sie im Durchschnitt CO₂-Emissionen von jährlich mehr als 100 Tonnen pro Kopf. Beim Durchschnittsdeutschen sind es rund 10 Tonnen.
SPIEGEL: Wie wäre es mit einer höheren CO₂-Abgabe?
Robeyns: Die würde arme Menschen hart treffen, wäre aber für Superreiche leicht zu verschmerzen. Das Problem ist der absurd große Reichtum selbst. Wir reden über Zahlen, die sich der menschliche Geist kaum vorstellen kann. Nehmen Sie Elon Musk: Um so reich zu werden wie er, müsste man zwei Millionen Dollar pro Stunde verdienen.
SPIEGEL: Man könnte einwenden, dass Musk für sein Geld extrem hart gearbeitet hat. Sind Sie gegen Leistung?
Robeyns: Dass sich Ultrareiche ihr Geld allein erarbeitet haben, ist ein Mythos. Viele reiche Menschen denken, dass sie schlauer oder tüchtiger sind als andere. Tatsächlich werden Sie keinen Selfmade-Milliardär finden, der nicht irgendwie von guten Startbedingungen profitiert hätte.
SPIEGEL: Ob wir reich werden oder arm bleiben, ist nur eine Frage des Zufalls?
Robeyns: Das habe ich nicht gesagt. Natürlich spielen unsere Entscheidungen eine Rolle, aber viele Faktoren für unseren ökonomischen Erfolg liegen nicht in unserer Hand. Fest steht, dass der Reichtum der Milliardäre ohne unsere kollektiven Leistungen als Gesellschaft undenkbar wäre. Nehmen wir an, Sie setzen einen Superreichen auf einer Insel aus, auf der es zwar natürliche Ressourcen gibt, aber keine Menschen: Wie reich könnte er wohl werden?
»Der Reichtum der Milliardäre wäre ohne unsere kollektiven Leistungen als Gesellschaft undenkbar.«
SPIEGEL: Nicht besonders reich.
Robeyns: Eben! Moralisch gesehen gibt es für exzessives Vermögen jedenfalls keinerlei Rechtfertigung. Man kann es drehen und wenden, wie man möchte: Niemand allein hat eine Milliarde Euro verdient. Zumal der Reichtum vieler Milliardäre aus fragwürdigen Quellen stammt.
SPIEGEL: Was ist mit Unternehmern wie den Biontech-Gründern Özlem Türeci und Uğur Şahin, die dank ihrer Forschung reich geworden sind? Ihr Coronaimpfstoff dürfte Millionen von Menschenleben gerettet haben. Haben die sich ihren Reichtum etwa nicht verdient?
Robeyns: Ich kenne die beiden nicht persönlich, aber selbst der genialste Forscher baut auf staatliche Strukturen. Er braucht etwa Patentschutz. Und er baut auf wissenschaftlichen Erkenntnissen auf, die ebenfalls mit Steuergeldern erlangt wurden. Für mich ist der amerikanische Arzt Jonas Salk da ein gutes Vorbild. Er hat den ersten Impfstoff gegen Polio entwickelt, ließ seine Idee aber nicht patentieren.
SPIEGEL: Warum nicht?
Robeyns: Weil er glaubte, dass seine Erfindung der ganzen Menschheit gehört. Als man ihn nach dem Patentschutz gefragt hat, soll er gefragt haben: »Kann man die Sonne patentieren?«
SPIEGEL: Nicht jeder Mensch handelt aus altruistischen Motiven. Welcher Unternehmer würde geschäftliche Risiken eingehen, wenn die Belohnung begrenzt ist?
Robeyns: Auch wenn uns der Neoliberalismus das weismachen möchte: Menschen handeln nicht nur aus Eigennutz. Auch in einer limitaristischen Welt gäbe es weiterhin Einkommensunterschiede, sie wären nur längst nicht mehr so groß wie heute. Es geht mir nicht um Gleichmacherei, sondern um eine Grenze für den Reichtum, die sich übrigens ökonomisch begründen lässt.
SPIEGEL: Wie denn?
Robeyns: Wenn Sie arm sind und schlagartig jeden Monat 1000 Euro mehr bekommen, kann das Ihr Leben verändern: Sie können sich genügend zu essen leisten oder Ihren Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen. Wenn Sie reich sind und 1000 Euro mehr verdienen, macht das keinen spürbaren Unterschied mehr. Warum also sollte man gestatten, dass Leute immer reicher werden, die das nicht mal merken? Wenn wir dem Reichtum einzelner Grenzen setzen, schaffen wir eine gerechtere Welt für alle.
SPIEGEL: Wie viel Geld ist denn zu viel Geld?
Robeyns: Wir haben dazu in den Niederlanden eine repräsentative Studie gemacht. Die Befragten waren mehrheitlich der Ansicht, dass man nicht mehr als ein Vermögen von einer Million Euro pro Person benötigt, um ein sehr gutes Leben zu führen. Das ist für mich in Ländern mit einem funktionierenden Sozialsystem die ethische Grenze, über der sich Reichtum kaum noch rechtfertigen lässt.
SPIEGEL: Eine Million Euro kostet in mancher Stadt schon eine größere Immobilie in guter Lage.
Robeyns: Mir ist bewusst, dass es auf den Kontext ankommt und es Unschärfen gibt. Es gibt aber noch eine zweite Grenze, die höher liegt. Wir sollten eine Gesellschaft anstreben, in der niemand mehr als zehn Millionen Euro besitzt. Ab dieser Grenze schadet Vermögen politisch, weil es sich in übermäßigen Einfluss umsetzen lässt, mit dem sich Politik und Medien lenken lassen.
SPIEGEL: Die Grenzen wirken willkürlich.
Robeyns: Am Ende kommt es nicht auf die exakte Zahl an, sondern auf die Erkenntnis, dass Geld ab einer gewissen Schwelle überwiegend schädliche Auswirkungen hat. In den USA wären die Grenzen wohl etwas höher, weil man dort mehr privat vorsorgen muss als in den Niederlanden oder in Deutschland. Und es geht nicht nur um gesellschaftlichen Schaden. Von übermäßigem Reichtum profitieren nicht einmal den Superreichen selbst.
SPIEGEL: Das dürften die anders sehen.
Robeyns: Auch viele reiche Menschen ahnen, dass die Gesellschaft die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich nicht lange aushalten wird. Der Multimillionär Nick Hanauer hat vor einer »Ökonomie der Mistgabel« gewarnt, weil es seiner Meinung nach nur eine Frage der Zeit sei, bis es zu einem Aufstand komme. Dass rechtspopulistische Parteien so viel Zulauf haben, ist angesichts der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich kaum überraschend. Es gibt aber auch persönliche Argumente für eine Obergrenze. Ich habe bei meinen Recherchen mit vermögenden Menschen gesprochen. Viele sind einsam oder von falschen Freunden umgeben. Nehmen Sie etwa Abigail Disney, die Großnichte von Walt Disney. Sie beschreibt ihr Vermögen als eine zermürbende Last.
SPIEGEL: Es gibt schlimmere Schicksale.
Robeyns: Ich sage nur, dass es auch aus der Sicht von Superreichen gute Argumente für eine Obergrenze gibt.
SPIEGEL: An wen sollen die Superreichen das Geld abgeben? An den Fiskus?
Robeyns: Die Arbeiten von Thomas Piketty und anderen Ökonomen zeigen, dass der Staat in den vergangenen Jahrzehnten systematisch geschwächt wurde. Im Limitarismus könnten wir ihn wieder stärken.
SPIEGEL: Viele Ökonomen halten den Staat für ineffizient und träge.
Robeyns: Kein Wunder, schließlich wurden viele westliche Staaten angesichts neoliberaler Dogmen kaputtgespart. Welche Behörde kann heutzutage noch ein wettbewerbsfähiges Gehalt für Spitzenleute zahlen? Ich glaube, dass es keine Alternative zum Staat gibt.
SPIEGEL: Kann es sein, dass Sie eigentlich den Sozialismus fordern?
Robeyns: (lacht) Nein, auch wenn mich manche Menschen als Sozialistin oder sogar als Kommunistin beschimpfen, würde ich mich eher als grüne Sozialdemokratin bezeichnen. Ich halte Privatbesitz für eine gute Sache und glaube, dass Märkte eine wichtige Rolle spielen können – ihr Stellenwert ist nur zu groß geworden. Ich glaube, man möchte die Argumente für den Limitarismus mit solchen Stempeln pauschal diskreditieren, statt sich mit meinen Argumenten auseinanderzusetzen.
SPIEGEL: Dann überzeugen Sie uns: Wie würde eine limitaristische Welt aussehen?
Robeyns: In einer limitaristischen Welt gäbe es nicht nur eine Armutsgrenze, sondern auch eine Grenze für übermäßigen Reichtum. Der Staat wäre dank höherer Steuereinnahmen wieder handlungsfähig, die Gehälter für Manager wären gedeckelt, Erbschaften würden begrenzt. Die Welt wäre dadurch ein gerechterer Ort.
SPIEGEL: Das ist noch ein wenig abstrakt.
Robeyns: Das sind nur Denkanstöße, kein fertiger Fahrplan. Als ich mit der Arbeit für mein Buch begonnen habe, hatte ich ein Bündel konkreter Maßnahmen im Sinn. Aber bei meinen Recherchen wurde mir schnell klar, dass wir zuerst eine neue Ideologie für das Zeitalter des Post-Neoliberalismus brauchen. Wir müssen uns wieder als Bürger verstehen, nicht nur als Investoren.
»Wir müssen uns wieder als Bürger verstehen, nicht nur als Investoren.«
SPIEGEL: Was soll das heißen?
Robeyns: Der Neoliberalismus hat uns gelehrt, die ganze Welt durch die ökonomische Brille zu sehen: Wer an die Uni geht, strebt nicht nach Bildung, so wie Alexander von Humboldt das getan hat, sondern danach, in sich selbst zu investieren. Kaum jemand von uns käme auf die Idee, die Beziehung zu seiner Familie oder seinen Freunden als Investition in die Zukunft zu betrachten, aber im Rest unseres gesellschaftlichen Lebens nimmt diese Denkweise immer größeren Raum ein. Es geht nur noch um den eigenen Nutzen.
SPIEGEL: Selbst Superreiche handeln nicht immer eigennützig. Viele betätigen sich als Philanthropen. Bill Gates und Warren Buffett haben angekündigt, dass sie den Großteil ihres Vermögens spenden wollen. Ist das nicht ein Anfang?
Robeyns: Die entscheidenden Fragen lauten doch: Wie wollen sie ihr Vermögen spenden und an wen? Diese Art von Großphilanthropie ist äußerst fragwürdig. Die Ziele mögen noch so ehrenwert sein, letztlich bestimmen die Milliardäre, wofür das Geld eingesetzt wird, und machen damit Politik. Außerdem geht es hier nur um einen Bruchteil der Superreichen. Die meisten wollen ihr Geld vererben – und möglichst keine Steuer darauf zahlen.
SPIEGEL: Man muss nicht superreich sein, um gegen hohe Erbschaftsteuern zu sein.
Robeyns: Das stimmt, gegen höhere Erbschaftsteuern haben viele Menschen große Vorbehalte. Dabei gibt es für das Erben keine moralische Rechtfertigung. Manche Philosophen plädieren dafür, das Erbrecht komplett abzuschaffen. Ich bin nur für eine Obergrenze: Jeder Mensch sollte nur einen bestimmten Höchstbetrag erben dürfen, den Rest könnte der Staat an jüngere Bürger ausschütten. So bekäme jeder einen Teil vom Vermögen früherer Generationen.
SPIEGEL: Trotzdem lehnt die Mehrheit der Menschen in Deutschland höhere Erbschaftsteuern ab.
Robeyns: Ich glaube, viele Menschen sind gegen höhere Steuern, weil sie selbst hoffen, eines Tages reich werden zu können. Das ist der amerikanische Traum. Die Statistik zeigt jedoch, dass das für die allermeisten Menschen eine Illusion bleibt. In Deutschland besitzen die reichsten zehn Prozent der Menschen rund 60 Prozent des Vermögens. Wie kann das gerecht sein? Ohne höhere Steuern für Reiche können wir dieses Ungleichgewicht unmöglich beheben.
SPIEGEL: Glauben Sie, dass der Limitarismus eine Chance hat?
Robeyns: Ich bezweifle, dass es zu unseren Lebzeiten dazu kommen wird. Aber die Argumente dafür werden dadurch nicht falsch. Für mich ist er eine Idealvorstellung, wie ein ferner Punkt am Horizont. Wenn ich Millionär wäre, würde ich mich schon heute daran orientieren.
SPIEGEL: Was sagen die Superreichen zu Ihren Vorschlägen?
Robeyns: Ich werde oft von reichen Menschen eingeladen, die sich mit meinen Ideen auseinandersetzen. Vor Kurzem war ich auf einer Veranstaltung in London, wo mich ein Geschäftsmann angesprochen hat. Anfangs hielt er meine Vorschläge für zu radikal, inzwischen hinterfragt er selbst das System und empfiehlt mein Buch weiter.
SPIEGEL: Hat Elon Musk sich schon bei Ihnen gemeldet?
Robeyns: Nein. Ich würde natürlich gern wissen, was er von meinen Ideen hält. Aber ich kann mir schon denken, was er sagen würde: dass ich damit nur seine kostbare Zeit verschwende.
Zur Person
Robeyns, Jahrgang 1972, ist Wirtschaftsforscherin und Philosophin. Nach dem Studium hat sie an der University of Cambridge bei Amartya Sen promoviert, der für seine Arbeiten mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde. Robeyns lebt mit ihrer Familie in Utrecht in den Niederlanden.“
Zitat in der Beitragsüberschrift: Ingrid Robeyns
Quelle: DER SPIEGEL 23/2024
Bürgerreporter:in:Bea S. aus Gießen |
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