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Ich will mit meinen Krücken Brücken bauen

Klingt gut und ist gut, denn diese Absicht wird von einem Mann geäußert, der weiß von was er spricht. Dergin Tokmak ist das Leben mit Krücken seit seiner Kindheit vertraut. Die grausame Krankheit Kinderlähmung ereilte ihn bereits im 1. Lebensjahr und lähmte sein linkes Bein komplett, teilweise auch das rechte Bein. Mehr darüber später.

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der Stadtbibliothek Gersthofen stellte Tokmak im Rondell des Ballonmuseums sein Buch „Stix, mein Weg zum Tänzer“ vor – die Biographie eines Lebenskünstlers, der sich vom Schicksal nicht unterkriegen lässt. Sein Outfit entsprach "locker vom Hocker" und enttäuschte nicht. Temperamentvoll und mit viel Witz las er aus seinem Buch vor. Die etwa 50 Besucher lauschten fasziniert der Schilderung wichtiger Lebensstationen. So als er zum ersten mal Breakdance vor Publikum vorführte oder den Beginn seiner Artistenlaufbahn beim Zirkus „Cirque du Soleil“. Seinen Vortrag untermalte er mit Ausschnitten aus dem Dokumentarfilm „Rising Sun“, der 2007 gedreht wurde. Tokmak und seine Freunde „tingelten“ 6 Monate als Streetdancer durch Italien und lebten „von der Hand in den Mund“. Eine Erfahrung die er nicht mehr missen möchte. Andere Filmaufnahmen zeigten Ausschnitte seiner Zirkusnummer als krückenschwingenden „hinkenden Engel“ im Zirkus „Cirque du Soleil“. Sechs Jahre lang zog er mit den Artisten durch Amerika, Australien und Europa und absolvierte dabei 2.000 Auftritte, allen Befürchtungen und Prognosen zum Trotz. Schließlich stürzte er 2006 während einer Vorstellung doch schwer und verletzte sich an den Ellenbogen. Mit der ihm eignen Willensstärke arbeitete er an sich und brachte es fertig, 2007 wieder in der Manege zu stehen. Auch dieses Ereignis ließ Autor Tokmak vor seinen Zuhörern Revue passieren. Anschließend beantwortete er bereitwillig die Fragen seiner Zuhörer; man merkte, dass es ihm Spaß machte einem interessierten Publikum Rede und Antwort zu stehen. Der Künstler ließ sich gerne mit Besuchern fotografieren - worüber sich besonders seine türkischen Fans freuten. Und er zeigte natürlich wie er mit Krücken umgehen kann. Er hüpfte, sprang und tanzte auf der kleinen Bühne, so dass sich fast die Krücken bogen. Das Publikum war begeistert. Noch dazu, als ein türkischer Landsmann aus dem Publikum selbst einen Breakdance gekonnt vorführte. Die Begeisterung zeigte sich auch beim anschließenden Buchverkauf. Keines blieb übrig.

Bibliotheksleiterin Ingrid Gölitz vermittelte dem myheimat-Mann die Gelegenheit, „Stix“ -so lautet Tokmak's Künstlername- kurz zu interviewen. Dem 39-jährigen sind keine Strapazen anzusehen; er ist „gut drauf“. Deshalb gleich die Frage: wo nimmt er die Kraft her sein Leben zu meistern? „Ich hole sie mir aus Musik und Tanz.“ Musik – da fällt der Name Ennjo Morricone, eine Musik, die auch dem Pressemann gut gefällt, aber nicht unbedingt für heitere Stunden geeignet ist, eher für stille, melancholische Momente. Stille Stunden, kommen da nicht zuweilen deprimierende Gedanken? Stimmungstief?„Ich ziehe mich am eignen Schopf wieder heraus. Ich zeige ungern Schwächen“, kommt es selbstbewusst zur Antwort. Jammern gibt's nicht. Warum auch? „Ich habe zum Essen, habe Kleidung und eine Wohnung.“ Trotzdem, es gab Tage an denen er feststellte „Ich kann nicht mehr“. Deshalb aufgeben? Auf keinen Fall. Es kamen wieder Tage, wo es aufwärts ging. Eine Art Rückzugsgebiet sind seine Eltern: „sie sind mein Fels.“ Und noch eine Quelle gibt es für ihn: er glaubt an eine höhere Macht, „Gott“ genannt. Kraft kann auch aus Bemühen kommen, eine Vision zu verwirklichen. Es war körperlich und mental fixiert, mit Krücken einen eigenen Tanzstil zu kreieren, einen Stil der seine Hingabe zu Breakdance und Hipp Hopp zum Ausdruck brachte. Mit Erfolg – wo andere das „Tanzbein“ schwingen, schwingt er seine „Tanzkrücken“. Und dann kommt eine für ihn typische Äußerung: „Man muss lernen, in seinen fremden Körper hineinzuwachsen. Wie kann ich aus dem physischen Handicap einen Vorteil machen?“ Ganz wichtig: sich selbst mögen, so wie man ist. Treffender könnte es kein Psychotherapeut formulieren. Ein schwieriger Lernprozess – aber er zeigt, dass es möglich ist. Insofern also auch ein Beispiel für unsere behinderten Mitbürger. Was nicht bedeuten soll, dass man die Hoffnung auf medizinischen Fortschritt aufgibt. „Wenn von seriösen Ärzten über Erfolge in der Reaktivierung gelähmter Gliedmaßen berichtet wird, würde ich sofort mich darüber informieren.“ Wunder erwartet er allerdings keine. Er fasst am Ende zusammen: „Jeder ist sein eigener Architekt für sein Leben.“ Bei Fragen über sein Privatleben hält er sich bedeckt.

Es ist spät geworden. Im Hintergrund warten noch einige Freunde, mit denen er sich unterhalten will. Zum Beispiel über gute alte Zeiten im Augsburger Stadtteil Oberhausen, in dem er seine Jugend verbrachte. Auch in Gersthofen ließ er sich bei Auftritten in der früheren Disco „Morning Star“ sehen. Noch eine letzte Frage. Für wen will er mit Krücken Brücken bauen? „Ich will zwischen „normalen“ und behinderten Menschen Brücken bauen. Die „Normalen“ sollen uns respektieren und mit uns so umgehen, als wären wir normal. Wir wollen kein Mitleid“, erklärt Tokmak. Keine Berührungsängste zwischen „Normalen“ und Behinderten. Brückenbauer Tokmak versucht diese Botschaft unter die „Leute“ zu bringen. Sein Auftreten im Ballonmuseum hat an diesem Abend einen wesentlichen Teil dazu beigetragen.

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