Er gehört zu meinem Leben - Keine Zeit zum Grübeln
Begegnet man ihr auf der Straße, so scheint die rüstige Sechzigern eine ganz normale Rentnerin zu sein, die sich mit den Erfordernissen des täglichen Lebens auseinandersetzt. „Auseinandersetzt“ heißt bei ihr aber auch, ist dass sie Mutter eines schwer behinderten Sohnes ist, dessen Pflege und Erziehung ihr Leben sowie das ihres Ehemannes Friedrich geprägt hat. Bei Sohn Stefan wurde mit sieben Monaten festgestellt, dass eine spastische Lähmung vorliegt. Diese Krankheit kennt keine Besserung; sie verschlimmert sich im Lauf der Jahre. Er sitzt von Kindheit an im Rollstuhl und seine Motorik ist stark eingeschränkt. Er kann weder Lesen noch Schreiben. Stefan war bis zu seinem 30. Lebensjahr zuhause bei den Eltern. Der 39-Jährige ist nun in einem Wohnpflegeheim des Dominikus-Ringeisen Werkes Ursberg in Augsburg untergebracht. Stefan wird mindestens einmal wöchentlich von seiner Mutter besucht oder nach Hause gebracht. Er liebt auch Ausflüge mit dem Auto oder der Bahn. Trotz seiner Behinderung ist er ein selbstbewusster Mann, der „nicht auf den Mund gefallen ist“, obwohl er sich nur schwer artikulieren kann. Ab und zu wird er aber doch nachdenklich und fragt „warum gerade ich“? Sie versucht dann zu trösten mit dem Hinweis, dass es noch andere bedauernswerte Mitmenschen gibt, denen es schlechter geht. Wie geht man als Mutter mit so einem Schicksal um? Sie stutzt. „Darüber habe ich mir eigentlich keine Gedanken gemacht“, gibt sie freimütig zu. „Stefan ist nun mal so und er gehört zu meinem Leben. Ich habe versucht, ihn zu möglichst viel Selbstständigkeit zu erziehen, damit er sich durchsetzen kann, wenn ich einmal nicht mehr bin.“ Sie hält nicht viel von Grübeln und Hadern, von pseudo-religiösen Erklärungsversuchen. Es ist nun mal so wie es ist. Oder doch nicht ganz so? Kann man auf ein so schweres Los noch freiwillig „eins draufsatteln“? Man kann - und hier zeigt sich ihr ganz besonderes Engagement. Stefan wurde schon früh im Spastikerzentrum bei Hessing in Augsburg-Göggingen behandelt. Dabei lernten die Eltern Kampichler Angelika kennen. Die damals 4- Jährige hatte ein schwieriges soziales Umfeld. Sie war behindert, ihr Vater war ein farbiger US-Soldat, der sich in die Staaten abgesetzt hatte. Das Mädchen hatte eine schlechte medizinische Prognose. Es wäre gut wenn sie in eine Familie käme, hörten die Kampichlers bei ihren Besuchen in der Klinik. Angelika lebte zu dieser Zeit im Afra-Heim in Augsburg. Nach kurzer Überlegung entschlossen sie sich, Angelika als Pflegekind zu sich zu nehmen. Stefan war damals zwei Jahre alt. Es war anfangs eine schwere Zeit. Die Frage, ob sie wieder so handeln würde, wird mit einem klaren „Ja" beantwortet. „Wir haben allerdings die gesundheitlichen Probleme von Angelika unterschätzt“, resümiert Kampichler. Aber nach und nach wurde es besser und die beiden Kinder kamen gut miteinander aus. Wie hat denn die Familie darauf reagiert? „Wir haben viel Rückhalt bekommen“, bestätigt dankbar die engagierte Pflegemutter. Die Eltern und ihre Geschwister haben Angelika sofort angenommen. Das Mädchen hat Stefan spazieren gefahren und ihm vorgelesen. Auch der Hund war ein beliebter Spielkamerad. Angelika blieb 16 Jahre bei den Kampichlers. Sie ist inzwischen verheiratet, hat eine eigene Wohnung in Augsburg und kann ihr Leben alleine meistern – mit ein Verdienst der Pflegeeltern. Tagsüber arbeitet sie in der Telefonzentrale des Heimes wo Stefan wohnt. Der Pressemann durfte Kampichler bei einem Besuch des Wohnheims begleiten und sich selbst -im wahrsten Sinn des Wortes- ein Bild über Stefan und Angelika verschaffen. Er war überrascht angesichts der lockeren und heiteren Heim-Atmosphäre und hatte den Eindruck dass sich die Beiden dort gut „aufgehoben“ fühlen. Doch nun zurück zum Menschen „Sofie Kampichler“, die inzwischen Witwe ist. Dem Pressemann sitzt in der gemütlich eingerichteten Küche eine aufgeschlossene und lebensfrohe Frau gegenüber. Umschnurrt von Kater „Sascha“ erzählt sie von sich und ihren Hobbies. Sie war früher aktive Spielerin in der Handballabteilung des TSV und hält sich heute mit Radfahren und Gymnastik in einem Lady-Fitness- Studio fit. Sie liest sehr gerne Krimis („es kostet mich Überwindung nicht mit der letzten Seite zu beginnen“), aber auch sonstige Unterhaltungsliteratur. Gerne unterhält sie sich mit Menschen. Kampichler ist auch politisch interessiert; sie war jahrelang im Wahlkreisbüro eines Bundestagsabgeordneten in Augsburg tätig. Kino und Theater werden oft besucht. Autofahren bedeutet ihr viel; sie schätzt die dadurch gewonnene Mobilität. Eine Frau also mit vielen Interessen und positiver Lebenseinstellung. Diese Einstellung war auch vielleicht der Grund dafür, dass sie sich letztes Jahr nach mehreren, im Urlaub am gleichen Tag aufgetretenen Gehirnschlägen, wieder gut erholte. Eine Frau also, die ihr Leben gut im Griff hat. Noch Wünsche? Ja natürlich, ein Wunsch der nur allzu verständlich ist. „Ich möchte, dass mein Sohn gesund wird.“ Und hier fällt es schwer, eine zuversichtlich stimmende Antwort zu geben.