Vierte Reise in die Ukraine im August 2007 Teil 2

Fedir Schawritzkji mit Frau und Sohn
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4. Reise in die Ukraine im August 2008 (Teil 2)

Fedir Schawritzki, geb. 15.08.1915, Arbeitseinsatz in der Rüstungsindustrie in München

Am Samstag den 11. August werden Lubov und ich wie vereinbart von Fedir Schawritzkis Sohn und dessen Freund in Kiew abgeholt. Er bringt uns zu seinem Vater nach Jahotyn.

Als wir das Grundstück von Fedir und seiner Frau Sofia betreten, bin ich völlig überrascht, einen solch vitalen 93-jährigen Mann anzutreffen. Der Mann ist körperlich und geistig in wahrer Bestform und bleibt mir keine Frage schuldig. Ich hätte ihn allenfalls auf 70-75 Jahre geschätzt, aber nie und nimmer auf 93 !

Fedir war während des Krieges Mitglied der Kommunistischen Partei und wurde als Mitglied der KP von den Deutschen verfolgt. Zur Armee wurde er – trotz des abgeleisteten Wehrdienstes - nicht eingezogen , denn er sollte den Partisanenwiderstand in der Heimat organisieren. Wegen des Verdachtes auf Hilfeleistung für die Partisanen ist er bereits einen Monat von den Deutschen eingesperrt, er fürchtet die Erschießung durch die deutsche Polizei. In der Haft erkrankt er schwer. Ukrainische Polizisten belästigen und bedrohen seine Mutter und fordern eines Tages Alkohol von ihr. Sie versprechen der Mutter dafür, den Sohn freizusetzen und so kommt es dann auch.

Hätte Fedir die Mitgliedschaft bei der KPdSU bzw. bei den Partisanen bewiesen werden können, hätte dies den sicheren Tod für Fedir bedeutet. So ließ er sich bewusst nach Deutschland deportieren. Eigentlich war der jüngere Bruder für die Deportation vorgesehen gewesen, aber der hatte zudem einen Herzfehler.

Nach einer medizinischen Untersuchung an der deutsch-polnischen Grenze und der konventionellen Entlausung kommt Fedir am 3. Juni 1942 in ein Verteilungslager, von wo er mit 30 weiteren männlichen Ukrainern nach Neuaubing transportiert wird. Dort arbeitet er in einer Fabrik an der Produktion von Flugzeug-Ersatzteilen. Das Sammellager befindet sich auf dem Fabriksgelände selbst, außer den Ostarbeitern sind auch Zwangsarbeiter aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden dort untergebracht, aber nur 5 weibliche Personen. Einmal wird er brutal im Lager zusammengeschlagen. Mit welcher Sprache sich die deutschen Machthaber mit ihnen verständigt hätten? Mit der Peitschensprache, die habe jeder verstanden.

Das Lager wird in den ersten 1 ½ Jahren streng bewacht und sie dürfen es nicht verlassen, bald aber werden die Bestimmungen für die Franzosen liberaler. Sie speisen auch in separaten Räumen. Erst Ende 1944 wird auch für die Ostarbeiter Ausgang möglich, nicht aber für die Kriegsgefangenen. Mit dem Lagergeld, das sie erhalten, kaufen sich die Arbeiter etwas Brot, Zigaretten und anderen Proviant.

Nach Kriegsende kommt Fedir in ein großes Sammellager. Er wird von den Amerikanern gut verpflegt, nach zwei Monaten bringen die Amerikaner ihn und seine ukrainischen Landsleute in die sowjetisch besetzte Zone. Dort muss er sich beim Kommandanten melden. In den Unterlagen wird er als Kriegsgefangener geführt. Er bleibt aber bei der Wahrheit und fordert von zuhause die Bestätigung an, dass er als Zivilist aus der Heimat deportiert worden ist. Als die Bestätigung eintrifft, wird er entlassen und kann in die Heimat zurückkehren. Allerdings nicht so schnell wie er sich das erhofft hat. In Polen wird er von August 1945 bis Mai 1946 als Verwalter eines Getreidelagers eingesetzt.

In der Heimat ist er wiederholten Verhören ausgesetzt, eine Chance auf eine Karriere in der Partei oder im Beruf hat er wegen seiner deutschen Vergangenheit keine mehr. Stalin hat am Ende des Krieges einen entsprechenden Befehl erlassen. Als die Deutschen 1941 einmarschierten, verbrannte Fedir aus verständlichen Gründen seinen Parteiausweis.

Ich frage ihn, ob dieser Sachverhalt sein Verhältnis zur KPdSU getrübt habe. Welch schwierige Fragen ich ihm stelle, die seien doch kaum zu beantworten! Für ihn sei die gewissenhafte Erfüllung der Arbeit stets das Wichtigste gewesen, nicht die Zugehörigkeit zur Partei, erwidert Fedir. Heute erhält er 500 Griwna Pension, also 70 Euro, auf Urlaub sei er sein Leben lang nicht gewesen.
Ob er gerne Deutschland nochmals sehen möchte? - Ja, er würde gerne nach Deutschland kommen, um die deutschen Frauen wieder zu sehen, worauf seine Frau Sonja scherzhaft einwirft, dass endlich die Wahrheit an den Tag komme. – Die beiden sind seid über 60 Jahren glücklich und harmonisch verheiratet.

Dann will ich noch wissen, worauf er sein hohes Alter zurückführe und er meint: „ein dünner Hase lebt länger als ein fettes Kaninchen“. Nein, im Ernst, er habe nie geraucht, selten Alkohol getrunken, fast immer in der frischen Luft gearbeitet, nach dem Krieg in der Forstwirtschaft, und dann, so seine Frau, habe sie ihm ja schließlich immer gut versorgt, Borscht und Speck.

Ich verlasse dieses wundervolle und harmonische Paar in der Gewissheit, es in den nächsten Jahren nochmals zu besuchen, denn so robust und geistig rege habe ich wohl selten ein so hochbetagtes Paar erlebt. Wichtig für Fedir und seine Frau, die ebenfalls Zwangsarbeiterin in Deutschland gewesen ist war nicht die symbolische Entschädigung, sondern die Aufmerksamkeit für ihr Schicksal, und hierfür sind die beiden mir und Lubov besonders dankbar.

Nadtotschij Olexndr, geb. am 22.08.1920; Arbeitseinsatz in Bobingen, KZ Dachau; Natzweiler, Buchenwald, Allach

Es ist bereits Nachmittag, als wir Alexander besuchen, die Sonne steht hoch am Horizont, es ist glühend heiß, Alexander sitzt auf seiner winzigen Terrasse vor seinem Häuschen mitten an der Hauptstrasse in Jahotyn. Er hat uns schon erwartet, aber eine Konversation mit ihm kommt nicht zustande, er ist extrem schwerhörig. Alle Fragen, die wir stellen, missversteht er, ein Hörgerät hat er nicht, er wurde nicht als Invalide der Stufe I eintaxiert, daher bekommt er von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ auch kein Hörgerät finanziert. Welche Logik! Ich dachte, die Stiftung sei dazu da, den Opfern zu helfen.
Alexander war in drei Konzentrationslagern, nachdem er von Bobingen gemeinsam mit seinem Kollegen Alexander Bojko geflohen war: in Dachau, im KZ-Außenlager in Allach, in Natzweiler und in Buchenwald . Das einzige was wir von ihm erfahren ist seine Häftlingsnummer in Dachau: 48078. Es ist bezeichnend, dass alle Opfer ihre Häftlingsnummer so genau wissen, denn das war der Verlust an Identität und Würde, eine Demütigung für die Gefangenen schlechthin.

Wir fragen, ob nicht die Ehefrau Valentina die Fragen beantworten kann, schließlich sind die beiden ja seit Jahrzehnten miteinander verheiratet. Die Babuschka kommt, sie nur einige wenige Zähne im Mund, wie Alexander übrigens auch. Die ärztliche Versorgung der Rentner in der Ukraine ist wirklich katastrophal.

wir stellen Fragen, aber die Ehefrau hört noch schlechter als Alexander. Das führt zu grotesken Situationen, denn die beiden alten Leute verstehen unsere Fragen nicht und antworten gänzlich unerwartet auf nicht gestellte Fragen. Der Schwiegersohn vertröstet uns und meint, wir sollten Alexander Bojko fragen, der unweit von hier wohne, mit dem 87-jährigen Alexander deportiert worden sei, gemeinsam mit ihm aus Bobingen floh und über ein hervorragendes Gedächtnis verfüge.

So geben wir denn auf, Alexander weiterhin zu befragen. Aber eines sagt Alexander dann doch zum Abschluss, als ich ihm das Geld überreiche: „Danke dass ihr euch an mich erinnert. Danke dass ihr uns nicht vergessen habt, in Deutschland war ich in mindestens 10 verschiedenen Lagern, aber jetzt ist meine Zeit abgelaufen.“

Bojko Alexander, geb. am 8.3.1924; Arbeitseinsatz in Bobingen, KZ Dachau, Buchenwald, Natzweiler, Allach

Herr Bojko wohnt bei seiner Tochter Nadja gemeinsam mit deren Ehemann und den zwei Töchtern in einer schlichten Wohnung im 5. Stock ohne Aufzug. Typische Plattenbauweise, aber immerhin mit Balkon und schöner Sicht auf einen See.
Es wird sofort sichtbar, dass Herr Bojko trotz seines fortgeschrittenen Alters der Chef der Familie ist. Er dirigiert seine Tochter, den Schwiegersohn samt den Enkelkindern herum. Dann fragt er mich spasseshalber, weshalb ich nicht mit deutschen Zeitungen sprechen,dann würde ich mir den weiten Weg in die Ukraine sparen.

Aber dann legt er gleich los. Wenn ich wolle, könne er stundenlang über seinen Zwangsaufenthalt in Deutschland sprechen, er erinnere sich an alles noch sehr genau. Zuerst zeigt er mir seine Dokumente, die ihn als Verfolgten des Naziregimes ausweisen. Seine Häftlingsnummer in Dachau: 48080, in Buchenwald 49374 ( vom 3.4.1944 bis 7.3.1945), dann als Häftling Nummer 29374 im KZ Natzweiler, ehe er am 13.April 1945 wieder ins KZ Dachau ins Außenlager Allach als Häftlng Nr. 158117 kommt und von dort aus von der US-Armee am 29. April befreit wird.

Seine Deportation fand im November 1942 statt. Am 18. November kommt er in das Verteilungslager, von dort kommt er nach Augsburg. Fast alle Männer kommen in der Rüstungsindustrie zum Einsatz. Er arbeitet bei MAN, das Lager war ca. 1 km entfernt, zur Arbeit wurden sie gefahren. Er kann sich daran erinnern, dass auch Kriegsgefangene bei MAN arbeiteten, die aber schärfer bewacht wurden.

Weil Alexander – er war gerade mal 18 Jahre – über keine Fachausbildung verfügte, wird er für die niederen Arbeiten eingeteilt. Er soll den Arbeitsplatz sauber machen, später bohrt er irgendwelche Teile, wofür keine besonderen Kenntnisse erforderlich waren.

Von MAN kommt er im März 1943 mit 10-12 weiteren Personen, darunter Alexander Nadtotschij, den er erst hier kennen lernt, nach Bobingen zu einem Dynamitwerk. Alexander arbeitet wiederum rund um die Fabrik, er muss Gräben ausheben, während sein Kollege aus Jahotyn als Schlosser eingeteilt ist und über Fachkenntnisse verfügt.
Natotschij bringt ihn, wie er heute sagt, auf die dumme Idee zu „türmen“. Mit einem Sonderausweis gehen die beiden in die Stadt , Natotschij will auf dem Arbeitsamt, wie er sagt eine einfachere und leichtere Arbeit zugewiesen bekommen. Natotschij ist immerhin vier Jahre älter als er, also macht er mit und sie gehen zu Fuß nach Augsburg, besuchen zuerst ihre Landsleute im Lager, das sie bereits von ihrem ersten Arbeitseinsatz kennen, dann marschieren sie durch die Felder nach Norden, ein Feldarbeiter wird stutzig, als er sie mit dem Ostarbeiterzeichen sieht. Er bringt sie ins Dorf, ruft die Polizei an, die sie aufs Präsidium bringt.

Dort geben sie brav an, dass sie aus Bobingen kommen. Die Fabrikleitung wird infomiert, aber der Fabrikleiter will sie nicht mehr in Bobingen, daher werden sie zuerst einmal für einige Tage eingesperrt. Dann werden sie nach Nürnberg verlegt und es gibt einen Gerichtsprozess.

Nach einem Quarantäneaufenthalt landen sie schließlich im KZ-Außenlager Allach und sollen dort in der Rüstungsindustrie arbeiten. Ab jetzt müssen sie Häftlingsuniform tragen. Wiederum wird Herr Bojko einer anderen Arbeitsstelle zugewiesen wie sein Landsmann, er muß im Freien arbeiten. Es soll ein weiteres Fabrikgebäude erstellt werden. Er hebt Gräben aus. Da die Wächter ziemlich desinteressiert sind, ist ihre Arbeit nicht allzu schwer. Aber es ist Winter, und die Kleidung sehr dünn, sie frieren bei 12 Stunden im Freien.

Im April 1943 wird Alexander Bojko ins KZ Buchenwald verlegt., während Alexander Nadtotschij als Facharbeiter in Allach bleibt. Alexander, noch heute ein Witzbold, setzt im KZ Buchenwald einem Meister die Essensschüssel auf den Kopf. Hierfür erhält er 25 Schläge mit der Peitsche, unmittelbar darauf muss er gleich wieder weiter arbeiten. Die Hand schwillt an, er kommt ins Lazarett und erhält Spritzen. Alexander erinnert sich, dass Vergehen immer sehr streng bestraft wurden, jeden Tag waren Strafen an der Tagesordnung.

Alexanders Aufgabe in Buchenwald bestand u.a. darin, nach zwei Bombardierungen des Lagers die Bomben zu entschärfen. Wegen der Bombardierungen verlegen die Nazis ihre Waffenproduktion in Stollen.

Er kommt nach Eisenach und arbeitet dort in einer unterirdischen Abteilung, wo sie auch untergebracht waren (vielleicht Nordhausen-Dora?). Die Meister tragen ein Abzeichen, Alexander meint, es sei BMW IV gewesen. Nur einmal pro Woche kommen sie an die frische Luft, alle Arbeitsstellen waren unter der Erde. Er erinnert sich, dass es fast jede Nacht Luftangriffe gab und sie kaum schlafen konnten.

Alexander arbeitet als Helfer im Magazin, händigt Werkzeuge an die Arbeiter aus. Gleichzeitig packt er Teile in Kisten, die wie Schildkröten aussahen, aber er kann nicht sagen, welche Funktion diese Teile hatten. Mit der Behandlung beim Kommando Eisenach war er recht zufrieden, der Meister behandelte ihn fair.

Am 7.3.1945 wird er in ein Außenlager des KZ Natzweiler versetzt , am 13. April 1945 wieder nach Dachau. Als die Amerikaner immer näher rücken, werden die Zwangsarbeiter von Dachau, den Außenlagern Kaufering und Allach in Richtung Süden getrieben. Alexander ist auf dem Todesmarsch ins Würmtal unterwegs. Sie schlafen wieder im Freien, die Kälte ist auch heute noch Alexanders größter Feind, er verträgt sie nicht.

Niemand bietet ihnen Essen an, sie fangen Frösche und sammeln Kräuter und ernähren sich davon. Alle Gefangenen sind sehr ausgehungert. Als ein Wachmann seinem Kollegen Brot bringt, wollen einige Italiener am Brot teilhaben. Der Wachmann erschießt den angreifenden Italiener , die bei den Deutschen wegen des Waffenstillstandes von Badoglio mit den Alliierten besonders verhasst waren.

Alexander schätzt, dass mit ihm noch 200-300 Gefangene mit ihm unterwegs waren. Er war so schwach, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Aber sein Überlebensinstinkt befiehlt ihm, sich nicht am Ende des Zuges aufzuhalten, wo die Schwächsten einfach erschossen wurden. Unterwegs erhält er einmal von einem Bauern eine gekochte Kartoffel und eine Handvoll Weizenkörner. Die schlingt er hinunter, aber danach wird es ihm erst recht übel und er kann sich kaum noch aufrecht halten. Alexander wiegt weniger als 40 kg. Am 29. April ist auch für ihn der Krieg zu Ende, seine Haut ist ganz schwarz und löst sich in Schichten vom Körper ab. Er erinnert sich, dass ihm Tschechen Brot und 5 Schüsseln Suppe zu essen gaben, aber das hätte er fast nicht überlebt. Sein Darm beginnt zu bluten, er kommt für 14 Tage ins Lazarett.
Nach einigen Wochen wird er gemeinsam mit seinen Landsleuten nach Leipzig an die Sowjets überstellt. Es ist davon die Rede, dass sie im russisch- Japanischen Krieg zum Einsatz kommen sollen. Glücklicherweise kommt es nicht mehr zu diesem Krieg, er bleibt bis Anfang 1946 in Leipzig, dann wird er zurückgeführt bis in die Nähe von Kiew, aber er darf nicht nach Hause, sondern wird verlegt nach Charkow an die Militärschule. Seinen Leidensweg in Deutschland verschweigt er. Auch seine Mutter wird vom KGB befragt.
Mittlerweile gab es von Stalin einen Befehl, der es untersagte, dass ehemalige Kriegsgefangene eine Militärausbildung machen durften. Also wird er aus der Militärschule entlassen und Alexander erhält einen Jahresausweis, der ihn berechtigt, in Kiew zu arbeiten. Dort wird er bei der Produktion von Musikinstrumenten eingesetzt.
1949 heiratet Alexander Valentina, aber die Ehe hat nicht lange Bestand. Valentina mag es nicht, dass er oft nächtelang mit dem Akkordeon sein Geld verdient. 1961 geht er eine zweite Ehe mit Hanna ein, mit der er zwei Töchter , Olga und Nadja .

Alexander Bojko ist noch heute ein dem Leben zugewandter Mann, er sprüht von Energie, manchmal ist er auch sarkastisch. Ich kann sehr gut verstehen, dass er seine Erniedrigung durch die nationalsozialistischen Schergen nicht vergessen hat. So sieht er meinen Besuch als späten, wenn nicht zu späten Versuch der Wiedergutmachung an.

Die Familie Bojko zeigen Größe, sie tischen ihren Gästen (Lubov, den beiden Fahrern, einer davon ist der Sohn von Fedir Schawritzkij und mir) wahrhaftig ein Festmahl auf und bei Wodka werden Trinksprüche auf die Freundschaft ausgesprochen und der Wunsch, dass sich ein solcher Rückfall in die Barbarei nie mehr ereignen möge.

Iwan Dwirko, geb. am 24. Januar 1924; Arbeitseinsatz bei Möbelfabrik Hery, Gersthofen

Es ist bereits das dritte Mal, dass ich mit Herrn Dwirko zusammentreffe. Letztes Jahr besuchte ich ihn hier in Jahotyn, 2002 sah ich ihn zum ersten Mal in der Stiftung in Kiew.
Iwan erwartet uns bereits auf der Straße, er trägt einen Strohhut und ist braungebrannt, sieht gesund aus, kein Vergleich zu seinem Zustand von vor einem Jahr, als er sich kaum noch an etwas erinnern konnte. Aber vielleicht war es auch der Winter, der ihn seinerzeit so depressiv erscheinen ließ.
Iwan Dwirko war Zwangsarbeiter bei Hery in Gersthofen, deshalb empfinde ich eine besondere Verantwortung ihm gegen über. Im Gegensatz zu ihm aber wirkt seine Frau noch zerbrechlicher.
Wir sitzen im Garten und plaudern wie alte Freunde, er zeigt mir stolz seinen Garten. Da wächst Blumenkohl, Tomaten, Gurken, Zucchini, Paprika, Melonen, Äpfel, Birnen, Johannisbeeren, Aprikosen und Kirschen, sein Garten ist 5000 qm groß.
Er und seine Frau können natürlich den Garten nicht mehr versorgen, es ist ihre Tochter, die in Kiew wohnt und jedes Wochenende, seit über 30 Jahren die Eltern besuchen kommt. Sie macht das Gemüse ein, stellt den hervorragenden Wodka her und schlachtet die Hühner und Schweine. Ohne ihren Garten könnten die Dwirkos nicht überleben. Ihre Rente ist viel zu klein als dass sie davon leben könnten. Das Haus hat kein fließend Wasser, der Brunnen ist im Garten, wo sich auch die Toilette befindet.
Iwan kann kaum noch beißen, er hat keine Zähne, sondern nur noch Stümpfe in seinem Mundraum. Lubov fragt ihn, weshalb er sich nicht die Zähne richten lasse, aber da winkt Iwan nur ab. Jeder Biss schmerzt ihn, aber zum Zahnarzt kann er nicht, das ukrainische Gesundheitswesen garantiert den Rentnern lediglich eine Grundversorgung. Wenn er neue Zähne will, dann muss er die schon selber bezahlen, aber dazu fehlt ihm natürlich das Geld.
Obwohl wir bereits ein Festessen bei den Bojkos hinter uns haben, werden wir dazu genötigt, nochmals eine wahrlich herrliche Brotzeit einzunehmen. Gemüse aus dem Garten, hierzu Speck vom selbstgeschlachteten Schwein, dazu Wodka aus der Eigenproduktion.
Mittlerweile ist es spät geworden, die ukrainischen Fahrer drängen zum Aufbruch, ich wäre zu gerne noch geblieben, in diesem Hause fühle ich mich so wohl. Liebevoll verabschiedet sich Iwan Dwirkos Enkelin von den Großeltern, sie fährt mit uns nach Kiew zurück.
Ich verspreche der Familie , wieder zu kommen. Vielleicht gelingt es mir ja noch, Iwan zu dritten Zähnen zu verhelfen, damit er wieder Freude am Essen hat. Wie verabschieden uns wie alte Freunde. Der Besuch bei Familie Dwirko hat für mich auch dieses Mal wieder die nachhaltigsten Eindrücke hinterlassen.

Bürgerreporter:in:

Dr. Bernhard Lehmann aus Gersthofen

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