Nicht mehr wegschauen...
Erinnerung an ein Verbrechen
Vielen Gersthofern ist noch die schreckliche Mordtat im Fasching 2002 an der 12-jährigen Vanessa in Erinnerung. Dieser Mord erschütterte damals ganz Deutschland. Das Mitgefühl der ganzen Nation galt ihren Eltern und dem Bruder. Wie sind sie mit diesem Schicksalsschlag fertig geworden? In unserer Reihe „Menschen in Gersthofen“ wollen wir über sie berichten. Unser Mitarbeiter Gerhard Fritsch hat ihnen einen Besuch abgestattet.
Der Mann vom gersthofer hat sich intensiv auf dieses Interview vorbereitet.
Trotzdem geht er mit etwas mulmigen Gefühl in die Winterstraße, wo in einem Zweifamilienhaus das Ehepaar Gilg mit Sohn Christoph wohnt. Er hofft, dass seine Fragen nicht zu sehr alte Wunden aufreißen. Freundlich wird er von dem Elternpaar empfangen. Keine Spur von Verhärmtheit oder Verbitterung, wie man vielleicht erwarten könnte. Bereitwillig werden die Fragen beantwortet. Der Mann vom gersthofer möchte einige Bilder in der Wohnung machen. Besonders Vanessas Zimmer interessiert ihn. Sein Wunsch wird abgelehnt. „Wir wollen unsere Wohnung schützen. Sie ist unser persönlicher Bereich und zu viele Leute haben vor vier Jahren diese Intimsphäre verletzt“, erklärt Romana Gilg bestimmt. Verständlich. Vanessas Zimmer wurde inzwischen umgebaut und dient als Gäste- und Arbeitszimmer. Wenn auch das Zimmer nicht mehr an Vanessa erinnert - sie ist ständig präsent, so der Vater Erich Gilg. „Sie war zwölf Jahre bei uns und wir denken immer an sie. Jede Stunde, jeden Tag.“ Etwa beim Einkaufen kommt oft der Gedanke „Oh, das hätte Vanessa auch gut gefallen.“ An Familienfeiertagen und hier besonders an ihrem Geburtstag kommt immer die quälende Frage hoch „Was wäre, wenn Vanessa noch leben würde?“ Ein bisschen gemildert wird diese Überlegung durch den festen Glauben, dass es ein Wiedersehen mit ihrer Tochter in einer anderen Sphäre geben wird. Das ist für beide Elternteile selbstverständlich. Wie haben die Eltern und besonders der Bruder diese entsetzliche Tat verkraftet?
Beide betonen, dass die große Anteilnahme aus dem Bundesgebiet - über 1.000 Beileidskundgebungen - mitgetröstet haben. Als etwas schwierig erwies sich die Situation mit Bekannten und Freunden. Da waren Unsicherheiten zu spüren. Wie „behandelt“ man die Eltern? Geht man auf sie zu oder lässt man eine Zeit verstreichen? Die Gilgs lösten das Problem auf ihre Weise: sie sind auf „ihre Leute“ zugegangen und haben mit ihnen Gespräche geführt, um das Ganze zuverarbeiten. Das war für beide Teile wichtig. Ein dickes Lob für die Polizei. Die Beamten haben Tag und Nacht hart gearbeitet, um den Täter zu fassen. „Sie waren dabei sehr zielstrebig, aber auch einfühlsam“, erinnert sich Erich Gilg. Immerhin dauerte es nur zehn Tage, bis der Täter ermittelt wurde. Und wie erging es Vanessas Bruder Christoph? Er musste sich mit einem besonders hässlichen Umstand zurechtfinden: eine Münchner Boulevardzeitung rückte ihn in den verdächtigen Täterkreis. Für ihn war wichtig, dass sich Freunde und Mitschüler ihm gegenüber ganz normal verhielten. Und das taten sie auch - sie hatten keine Berührungsängste. Sichtbares Beispiel war das demonstrative Zusammenstehen bei Vanessas Beerdigung: Sie nahmen Christoph buchstäblich mit Körperkontakt in ihre Mitte und stützten (schützten) ihn. Das Leben geht weiter - aber nicht mehr so, wie vor der Tat. „Wir leben jetzt bewusster, freuen uns über Kleinigkeiten“, bekennt die Mutter. Die Pflege freundschaftlicher Beziehungen ist wichtig geworden. Und beide setzen sich intensiv für den Schutz von Kindern und Jugendlichen ein. Sie sind Mitglieder in dem Verein „Sicheres Leben - Bürgerinitiative Vanessa“. Der Verein unterhält ein Notruftelefon rund um die Uhr und bietet ein offenes Ohr für Sorgen und Nöte von Jugendlichenan. Erich Gilg ist 2. Vorsitzender des Vereins und organisiert das Kinder- und Jugendnotruftelefon. Mit Info-Ständen und Flohmärkten tritt der Verein in der Öffentlichkeit auf. „Wir wollen, dass die Leute nicht mehr wegschauen, wenn sich Gefahren für Jugendliche abzeichnen, die dann u.U. in eine Fehlentwicklung wie bei dem Täter einmünden können“, informiert Erich Gilg. „Täter“ ist das Stichwort, sich behutsam nach den Gefühlen gegenüber Täter Michael W. zu erkundigen. Hegen die Gilgs Wut, Hass oder Zorn gegen ihn? „Nein, auf keinen Fall“, lautet die entschiedene Antwort. Empfindungen dieser Art mindern die Lebensqualität und man will auch keine Gefühle - seien sie auch negativ - inden Täter investieren. Aber das „Warum“ hat sie doch interessiert. Wie kommt ein junger Mensch dazu, das Lebensglück einer ganzen Familie zu zerstören?
Heimerziehung, hilflose Pflegeeltern, übermäßiger Videokonsum - der Film „Scream“ wurde vom Täter 50-mal angeschaut - sind einige Ursachen. Dieser Versuch zu verstehen, warum es so weit mit dem jungen Täter gekommen ist, hat die Eltern auch dazu bewogen, dem Verein „Sicheres Leben e.V. - mit Bürgerinitiative Vanessa“ beizutreten. Das Interview ist schon längst kein Fragen und Antworten mehr; es hat sich zu einem interessanten Gespräch verselbständigt.
Es werden noch einige Bilder gemacht und dann verabschiedet sich der Mann vom gersthofer mit einem etwas zwiespältigem Gefühl: er ist froh, das Interview hinter sich zu haben und beeindruckt, wie die Gilgs ihr Leben wieder in den Griff bekommen haben.
Er kommt gerne dem Wunsch nach, die kostenfreie Kinder- und Jugendnotrufnummer 0800-6522265 des Vereins „Sicheres Leben e.V. mit Bürgerinitiative Vanessa“ bekannt zu geben.
Internet: www.sicheres-leben-gersthofen.de.
Text und Bilder: Gerhard Fritsch
Bürgerreporter:in:Gerhard Fritsch aus Gersthofen |
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