Opferschutz geht alle an: Täglich kommen neue Namen hinzu
Die Botschaft war klar und unmissverständlich. „Wir müssen genauer hinsehen, wenn Unrecht geschieht, wir müssen Zivilcourage zeigen, uns einmischen und handeln, wenn Kinder oder andere Menschen in Gefahr sind.“ Gabriele Schmidthals-Plutas Worte waren emotional und fordernd zugleich. Ein Appell, den die Vorsitzende des Gersthofer Opferschutzvereins Sicheres Leben an der Gedenkstätte für getötete, missbrauchte, misshandelte und vermisste Kinder im Oberstdorfer Kurpark an jeden Einzelnen in der Gesellschaft richtete.
Viele Menschen waren zum zehnjährigen Bestehen des Mahnmals gekommen. Es habe sich in den letzten Jahren manches in eine positive Richtung geändert, aber es gibt noch viel zu tun, verdeutlichte die Rednerin. Die Sicherheit der Kinder in Deutschland sei noch lange nicht gut genug. „Wir fordern die Verantwortlichen in der Politik erneut auf, die vorgeschlagenen Möglichkeiten zur Minimierung von Missbrauch, Vernachlässigung und Misshandlung aufzugreifen.“ Endlich müsse auch Kinderschutz vor Datenschutz gestellt werden. „Dafür werden wir einstehen, unbequem sein und kämpfen“, versprach Schmidthals-Pluta.
Wie groß die Gewalt gerade im häuslichen Bereich ist, machte die Opferschützerin an Zahlen deutlich. So wurden in Deutschland im letzten Jahr
133 Kinder getötet. Der Großteil von ihnen war jünger als sechs Jahre. In 78 Fällen blieb es bei der versuchten Tötung. Von körperlicher Gewalt waren 4237 Kinder, von sexuellen Übergriffen 14296 Opfer betroffen. Tendenz steigend. „Die Dunkelziffern sind wesentlich größer“, resümierte Schmidthals-Pluta. Deshalb sei eine Kultur der Verantwortung und des Hinsehens notwendig. „Wenn Nachbarn, Erzieher oder Kinderärzte etwas Auffälliges bei Kindern bemerken, braucht die Polizei oder das Jugendamt auch einen Hinweis.“
„Tod, Missbrauch und Gewalt darf uns nicht kalt lassen“
Bedauernd stellte sie fest, dass dieses Thema in der Bevölkerung nach wie vor tabuisiert werde, getreu dem Motto „Was nicht sein darf, das ist es auch nicht“. „Doch Tod, Missbrauch und Gewalt darf uns nicht kalt lassen.“
Unterstützt und begleitet wurde die Gedenkfeier von Eltern, die Kinder durch Gewalt verloren haben, vom Weißen Ring Augsburg, Kriminalbeamten und auch Prominenten. Zu Letzteren zählte auch der Schauspieler Christofer von Beau. „Ich hatte mich mit diesem Thema in der Vergangenheit nicht auseinandergesetzt“, meinte der aus der ZDF-Fernsehserie „SOKO München“ bekannte Mime. Dann sei aber eine Person in sein Leben getreten, die persönlich von häuslicher Gewalt und Vergewaltigung in der Kindheit betroffen war und als erwachsene Person immer noch ist. „Es ist höchste Zeit, dass etwas geschieht, sowohl in den Köpfen der Menschen und vor allem in der Politik“, betonte er.
"Unsere Wut ist unermesslich“
Auch Angehörige von Gewaltopfern äußerten sich. „Das Leben hat uns das Liebste genommen, das wir besitzen - unser Kind“, so eine Mutter. „Unsere Trauer kennt keine Grenzen, unsere Wut ist unermesslich und doch müssen wir weiterleben, obwohl uns das Leben nicht mehr lebenswert erscheint.“
Stellvertretend für viele Eltern und ihre verstorbenen Kindern besuchten auch Anette und Detlef Lehmann sowie Romana Gilg die Jubiläumsfeier. Erstere verloren ihre Tochter Denise im April 2008, getötet mit 30 Steinschlägen auf den Kopf. Romana Gilgs zwölfjährige Tochter Vanessa wurde in Gersthofen am Rosenmontag 2002 in ihrem Bett mit mehreren Messerstichen ermordet. Unsiono sagten sie: „Abschied nehmen von einem geliebten Menschen ist das Schwerste, was wir erfahren mussten.“
Die Namensliste der jungen Gewaltopfer sei lang, machte Schmidthals-Pluta aufmerksam. „Bettina, Natalie, Markus, Stefan, Vanessa, Kim, Katharina, Mark, Denise und und und. Täglich kommen neue hinzu.“
Die Opferschützerin erinnerte daran, dass Christofer von Beau und seine Kollegen im Fernsehen einen Fall in knapp 45 Minuten lösen. „Doch das wahre Leben läuft nicht wie in einem Drehbuch ab und es gibt nur selten ein Happy End“, registrierte sie. „Viele Fälle können nur schwer oder gar nicht gelöst werden.“ Doch diese Kinder seien geboren worden, um zu leben.
Hier kam die Band von Tina Fischer in Spiel. Stimmungsvoll wurde der Song „Geboren um zu leben“ live vorgetragen. Die Gruppe Unheilig lieferte dazu Zeilen wie „Es fällt mir schwer / ohne dich zu leben“. Eine Gewalttat gegen ein Kind werfe viele Fragen auf, schloss Schmidthals-Pluta. „Die Antworten darauf kennen wir nicht. Ob wir jemals welche erhalten, wissen wir nicht.“
DIE ENTSTEHUNG DER GEDENKSTÄTTE
• Im Oktober 2007 wurde die Gedenkstätte für getötete, missbrauchte, misshandelte und vermisste Kinder in Oberstdorf zusammen mit „Schaut hin!“ und „Natalie e.V.“ eingeweiht. Die Errichtung fand unter Mithilfe und finanzieller Unterstützung der Tabaluga-Kinderstiftung, des Bundes der Deutschen Kriminalbeamten und der Stadt Oberstdorf statt.
• Intuition war eine Stätte, an der Betroffene und Hinterbliebene Schmerz und Trauer, aber auch die Wut über die bleibenden Wunden ablegen können. „Das Mahnmal soll wachrütteln und auffordern, sich der Problematik zu stellen“, erklärt Gabriele Schmidthals-Pluta. Die Erstellung wäre auch in Gersthofen möglich gewesen. Die Verantwortlichen haben sich schließlich für den Standort Oberstdorf wegen der großen Breitenwirkung der Stadt entschieden. In Oberstdorf erreiche man nicht nur die Bevölkerung, sondern Menschen aus vielen Ländern und auch die Jugend der Welt, so der Opferschutzverein.
• Der Gedenkstein wurde von Steinmetz Thilo Probst aus Kempten geschaffen.
Die Inschrift lautet: „Wir wollten leben - keine Gewalt gegen Kinder!“
Es gibt auch erwachsene Opfer...