Flug 4U9525: Vom Schmuddel-Boulevard und dem rasanten Sturzflug der journalistischen Kultur
Flug 4U9525, der so jäh an den Felsen der südfranzösischen Alpen endete und 150 Menschen in den Tod riss, hat die Welt verändert. Oder zumindest die Sicht der Menschen auf gewisse Dinge. Der bewusst herbeigeführte Crash an diesem 24. März 2015 hat Vertrauen zerstört, in Technik, Abläufe, Systeme – und vor allem in Menschen. Auch wenn es nicht das System war, das versagte, sondern wahrscheinlich letztlich ein einzelne Person. Dieses Trauma wird noch Jahre nachwirken – und die Zivilluft fahrt nachhaltig verändern. Es hat am Nimbus der Herren mit den goldenen Streifen an den dunkelblauen Uniformjacken gekratzt, und sie wissen das. Aber viel mehr noch hat die Reputation der Medien gelitten. Deren Ansehen ist nach einem Sturzflug auf einem Jahrtausend-Tiefstand angelangt.
Nein, es waren natürlich nicht alle Postillen, Magazine, TV-und Rundfunksender, die in dieser makabren Schmierentragödie alle moralischen und berufs-ethischen Skrupel über Bord geworfen haben – so sie überhaupt jemals welche besessen haben. Aber es waren doch etliche. Und darunter solche, die zu den „Leitmedien“ gerechnet werden – oder sich ihnen zugehörig wähnen. Was in Folge dieses traumatischen Ereignisses in Endlosschleife über die Mattscheiben flimmerte und dem Leser reißerisch von Seite 1 entgegensprang, war nicht das Ergebnis journalistischer Sternstunden. Darunter stelle ich mir etwas anderes vor. Es war der traurige Höhepunkt vom Niedergang journalistischer Kultur.
„Witwenschütteln“ für die Auflage
Wie meist, oder oft in solchen Fällen, war es der Schmuddel-Boulevard, der voranschritt und die anderen vor sich her trieb bzw. hinter sich herzog. Ist erst mal ein Damm gebrochen, steigt die Flut der Geschmacklosigkeit unaufhaltsam – bis zum Erbrechen, Oberkannte Unterlippe. Und, natürlich, die Jungs aus dem Axel-Springer-Haus als Enthüllungs-Speerspitze an vorderster Front. Seit den Tagen, als Günter W. als Hans Esser dort wallraffte, scheint sich nix geändert zu haben – zum Besseren jedenfalls nicht. Chefredakteure kamen und gingen, aber der Schmutz, in dem knöcheltief zu waten der Meute augenscheinlich ein so diebisches Vergnügen bereitet, ist geblieben. Allenfalls ist die Konsistenz des Drecks eine andere. Möglicherweise ist es nicht einmal der eigene Antrieb, der diese Schreibtischtäter im Outdooreinsatz motiviert, sondern der immense Druck – der von innen und außen. Wer in solchen publizistischen Untiefen wie jenen, in denen das intellektuelle Four-Letter-Word-Blatt Schlagseite zeigt, bestehen will, für den sind Gewissenbisse oder Bedenken karriere-tödlich. Aber das ist bei der Konkurrenz ja genauso. Im Big-Business der Headlines ist kein Platz für zartbesaitete oder am Ende noch vergeistigte Edelfedern. Was alleine zählt sind Auflage und Quote. Und die könnten, hat man sich ausgerechnet, proportional steigen, je reißerischer und makabrer die verbreiteten Inhalte sind.
Als Anfängerübung gilt das sogenannte „Witwenschütteln“. Den Hinterbliebenen eines auf welch tragische Weise auch immer vom Diesseits ins Jenseits gewechselten Ex-Erdenbürgers gilt es möglichst zu einem (frühen) Zeitpunkt auf die Pelle zu rücken, während der erste Schock noch nicht abgeklungen ist. Dann ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass die paralysierten Trauernden die Mitgefühl heuchelnden Schnüffler mit unbedachten Äußerungen beglücken, intime Details verraten oder das private Fotoalbum öffnen. Entsprechende Taktiken und Strategien lernen die schreibenden Beutegreifer bereits in Woche 1 des ersten Lehrjahres.
Wir sind, was für lesen(wollen)!
Es kann, überspitzt formuliert, für die Bewertung und Erhellung eines Vorgangs aber wohl kaum von Belang sein, ob die Sandkasten-Gespielin eines Hauptbeteiligten Jahre später als Vor-Konfirmandin mal ein Verhältnis mit ihrem unter Neurodermitis leidenden, sprachgestörten Albino-Goldhamster großväterlicherseits hatte. Aber genau das sind die Bonbons, die aus dem Papier zu wickeln sich einige sensationsgeile Trüffelschweine dieser Zunft aufgerufen fühlen – weil Leser/Zuschauer diese Zahnfäule verursachenden Leckerlies so gerne lutschen. Es muss ja einen Markt für derartige, Brechreiz auslösende Kost geben, und es gibt ihn auch. Das wiederum wirft ein bezeichnendes Bild auf den Zustand unserer Gesellschaft in Gänze.
Muss das wirklich alles jemand wissen? Ob der Protagonist vor 25 Jahren im Kindergarten einer Erzieherin mal in die Handtasche gepinkelt oder die Luft aus dem Fahrradreifen seines Nachbarn gelassen hat? Nein! Andererseits darf man natürlich Fragen stellen, beispielsweise die, warum der Pilot nicht schon längst aus dem Verkehr gezogen worden war, wo seinem Arbeitgeber dessen psychische Erkrankung doch seit langem bekannt gewesen ist Aber das ist eine ganz andere Baustelle.
In Folge des German Wing-Crashs fielen Heuschreckenschwärme von „Reportern“ in die früheren Lebensbereiche des Todes-Copiloten ein, um möglichst allen Mitmenschen, die jemals auch nur Blickkontakt mit ihm gehabt hatten, meist völlig unerhebliche Aussagen zu entlocken. Zu diesem Zeitpunkt hatte man es längst aufgegeben, nach Relevanz zu filtern. Der verzapfte Unsinn konnte gar nicht groß genug sein, um es nicht doch (oder gerade deshalb) in die Sendung oder ins Blatt zu schaffen. Und es schlug die große Stunde der Fachleute und Experten. Jeder, der schon mal in zwei Kilometern Entfernung mit dem Mountainbike an einem verlassenen Provinz-Segelflugplatz vorbeigeradelt war, galt plötzlich als Luftfahrt-Koryphäe und konnte seine Sicht der Dinge telegen darlegen. Manche dieser Szenekenner wurden auch förmlich von Studio zu Studio weiter gereicht.
Wie man Opferschutz und Pietät buchstabiert
Wenn Berichterstatter Mitschülern der bei Seynes-les-Alpes pulverisierten Halterner Gymnasiasten und ihrer beiden Lehrerinnen Geld dafür bieten (dürfen), möglichst effektvoll, also unter Absonderung vieler Tränen, fassungslos in die Kameras zu heulen, kann irgendetwas etwas nicht stimmen. Die Bewohner der am nördlichen Rand des Ruhrgebiets gelegenen Kleinstadt können ein (Klage-)Lied darüber singen, was es in finaler Konsequenz bedeutet, von Jetzt auf Gleich in den Fokus eines international aufgestellten Medial-Rudels gezerrt zu werden. Transparente und Plakate, auf denen die Bürger darum baten, sie doch bitteschön in Ruhe trauern zu lassen, sollten von der Journaille, die noch nicht einmal weiß, wie man Pietät buchstabiert, eigentlich als Stopp-Signal und rote Linie wahrgenommen werden: Bis hier und nicht weiter! Ich glaube aber kaum, dass sich die Belagerer davon sonderlich haben beeindrucken lassen. Opferschutz? Nie gehört! Geist und Buchstaben des bereits 1973 vom Deutschen Presserat formulierten Ehrenkodex‘ waren und sind da sch… egal. Und der Presserat selbst ist ja eher ein zahnloser (Papier-)Tiger.
Aber selbst so vermeintlich seriöse „Fernseh-Institutionen“ wie Spiegel-TV sind in Haltern mit ihrem Filmkameras von Haustür zu Haustür gezogen, um Hinterbliebene zu interviewen und in ihrem Schmerz zu zeigen. Als sich ein Schüler ob dieser Praktik beschwerte und dies öffentlich machte, drohte die Redaktion ihm mit juristischen Schritten, wie er das Treiben der TV-Teams letztendlich doch nicht gerichtsfest belegen könne. So weit sind wir inzwischen.
Stinkender Sumpf als Jungbrunnen für Voyeure
Und nochmal: Es ist und war nicht nur die BILD-Zeitung, die in diesem stinkenden Sumpf mal wieder ihre wahre Fratze gezeigt hat. Auch wenn es ihr diesmal ja nicht geglückt ist, zuerst mit dem/den Toten zu sprechen. Dafür hat sie aber, wohl noch vor der zuständigen Staatsanwaltschaft, gemeinsam mit Kollegen des französischen Magazin „Paris Match“ die verwackelte Handy-Videoaufnahme eines Passagiers oder einer Flugbegleiterin sichten können, die angeblich die letzten Sekunden vor dem Aufprall des German-Wing-Airbus‘ aus Kabinen-Perspektive zeigt. Whoww!! Da werden die Voyeure ganz aus dem Häuschen geraten.
Aber es ist nun mal die BILD, die exemplarisch für all die krassen Auswüchse in der Berichterstattung steht und verantwortlich gemacht wird. Mitunter zu Recht. Der Bild-Blog des bekannten Medien-Journalisten Stefan Niggemeier dokumentiert seit 2004 anschaulich, warum das so ist. Er und seine Kollegen recherchieren akribisch Fragwürdiges, Sinnentstellendes und Irreführendes, das den Lesern dieser Lokus-Zeitung und anderer vergleichbarer Organe täglich vorgesetzt wird: http://www.bildblog.de
BILD-Boykott: Immer mehr machen mit
In Folge der grenzwertigen Berichterstattung in und auf dieser pseudo-nachrichtlichen Müllhalde wird die Zahl derer, die sich nicht nur öffentlich davon distanzieren, sondern das dahinter steckende und stehende Geschäftsmodell nicht auch noch länger fördern wollen, größer. Immer mehr, Kioske, Supermärkte, Tankstellen und andere Geschäfte weigern sich, die BILD-Zeitung zu verkaufen. Ein Mut machendes Signal. Da ist beispielsweise eine kleine Postagentur im Württembergischen Rutesheim, deren Betreiberin der Kragen nun endgültig geplatzt ist und die das Springerkampfblatt komplett aus ihrem Sortiment entfernte. Die Notiz wurde allein bei Facebook binnen weniger Stunden 300.000 mal aufgerufen, 50.000 User hoben den virtuellen Daumen. Siehe:
http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.boyko...
Das Beispiel fand und findet Nachahmer, viele Nachahmer. So wie im knapp 50 Kilometer südwestlich von Haltern entfernten Wittener Orsteil Bommern. Dort sind unter dem Motto „Bommern ohne BILD“ gleich vier Einzelhändler der festen Überzeugung, dass sie und ihre Kunden künftig auf die die vier großen weißen Buchstaben auf roten Grund verzichten können: ein Supermarkt, zwei Kioske und eine Bäckerei. Und wo ein solches Embargo aus vertraglichen Gründen vielleicht nicht möglich ist, greift passiver Widerstand. Ein Nahkauf-Betreiber in Lübz (Mecklenburg-Vorpommern) überklebte kurzerhand den Zeitschriftenständer mit Titel und Slogan (Bild Dir unsere Meinung) und drehte die Zeitungsexemplare aufs Gesicht, so dass sie hier im öffentlichen Raum nicht mehr wahrnehmbar waren.
Das Geschäft mit den Exklusiv-Fotos
Aber da sind auf der anderen Seite des Tisches noch Stellen, die sich, so lange das Eisen heiß ist, ein Stück vom Kuchen abschneiden wollen. Die entsprechende Anfrage einer Presseagentur erreichte unlängst das von Luftsport-Enthusiasten betriebene Portal biplanes.de. Letzteres hatte vor zwei Jahren auf dem Heimatflugplatz des Todes-Piloten in Montabaur ein Oldtimer-Fly-Inn organisiert, an dem Andreas L. auch (als Besucher und/oder Helfer) teilgenommen haben soll. Besagte Agentur dürstete es in diesem Zusammenhang brennend nach privaten Fotos, die den inzwischen als psychisch gestörten „Massenmörder“ abgestempelten jungen, in unmittelbarer Nachbarschaft des Flugfeldes wohnenden Mann möglichst in entspannter Umgebung zeigen sollten. Solche Fotos wären/sind in diesen Tagen bares Geld wert, viel Geld. Alex und Jens Klank, die Betreiber des Portals, konnten bzw. wollten der höflichen Bitte zu ihrem größten Bedauern aber nicht entsprechen. Ihre Absage und die Begründung dafür http://www.biplanes.de/presseanfrage.php
nötigt mir Respekt ab! Respekt, den ich für weite Teile des medialen Tollhauses längst nicht mehr empfinde. Ich schäme mich fremd für all jene „Kollegen“, die ihre journalistischen Ideale nebst Rechtschaffenheit und Anstand verraten haben.
Bürgerreporter:in:Jürgen Heimann aus Eschenburg |
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