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Kuscheln im Geäst: Kein Zimmer (mehr) frei! Das Millionenheer der Bergfinken wartet auf den Heimflug

  • Ausgebucht! Im Hotel „Zum Bergfink“ ist kein Platz mehr frei. Man sieht vor lauter Vögeln den Baum nicht.
  • Foto: Siegbert Werner
  • hochgeladen von Jürgen Heimann

Wie lange sie uns noch beglücken, kann niemand sagen. Aber auch Bergfinken sind gegen Heimweh nicht immun. Derzeit logiert ein Millionenheer von ihnen noch im Wald bei Haiger-Steinbach im mittelhessischen Lahn-Dill-Kreis. Aber sobald es Witterung und Nahrungsangebot in ihren angestammten Brutgebieten in Nordskandinavien und Russland zulassen, lösen die quirligen Piepmätze das Rückflugticket. Und sie sind schlau genug, dafür einen strammen Südwind bzw. gen Norden führende Luftströmungen abzupassen. Davon getragen und beflügelt, ist die lange Heimreise für sie weniger anstrengend und kräftezehrend.
Energie brauchen die Vögel beim bevorstehenden Brutgeschäft nämlich noch genug. Da heißt es, mit den eigenen Ressourcen hauszuhalten. Aber sie haben sich in unseren Wäldern ja genügend Reserven angefressen. Angesichts des enormen Angebots an Bucheckern mögen sich die Fiederlinge da wie im Schlaraffenland gefühlt haben. Von Haiger aus unternehmen sie der Futtersuche dienende „Beutezüge“ bis weit in den Taunus hinein und darüber hinaus, um Abends, man kann die Uhr danach stellen, bei Einbruch der Dämmerung wieder zu ihrem auserwählten Schlafplatz am Sportlatz des Haigerer Stadtteils zurück zu kehren.

Großer Bahnhof für die Heimkehrer

Hier bereiten den Vögeln täglich hunderte von Schaulustigen und Naturfreunden einen großen Bahnhof. Besucher aus allen Teilen des Bundesgebietes kommen, um dieses Spektakel zu verfolgen. Wenn nach und nach vier Millionen Finken in riesigen, den Himmel verdunkelnden Schwärmen heranfliegen, ist dies ein Schauspiel, das sich vielleicht nur einmal im Leben bietet. Glücklich gelandet, biegen sich die Äste der Bäume unter dem Gewicht dieser Masse.
Noch eindrucksvoller und erhebender als die Ankunft der gefiederten Gäste ist deren Start am nächsten Morgen. Erfolgt der Feierabendverkehr in einzelnen, sich über einen Zeitraum von knapp einer Stunde erstreckenden Wellen, geht das Abfliegen im Morgengrauen nahezu explosionsartig vonstatten. Die Finken-Millionen erheben sich fast gleichzeitig, um sodann in alle Himmelsrichtungen davon zu stoben. Anfangs bilden sie dabei ein Netz am Himmel, das überhaupt nicht zu überblicken ist und nicht zu enden scheint.

Glühwein, Kuchen, Halteverbot

In den vergangenen Wochen hat sich hier ein richtiger Vogeltourismus entwickelt, sodass sich das Haigerer Ordnungsamt sogar zu verkehrslenkenden Maßnahmen gezwungen sah. Zur Genugtuung der Anwohner, deren Zufahrten oft genug durch Besucherfahrzeuge blockiert waren, erließ die Stadt entlang der Zufahrtsstraße u.a. ein einseitiges Halteverbot. Mitunter ähnelt der Andrang hier dem bei einem Volksfest, Würstchen-Verkaufsstände und solche mit Glühwein und Kuchen eingeschlossen. Für das Fernsehen ist das natürlich auch ein gefundenes Fressen. Von SAT 1 über RTL, die Hessenschau und den WDR waren schon alle TV-Anstalten mit Kamerateams vor Ort. Am Mittwoch dieser Woche sendete das ZDF in seiner „Drehscheibe“ einen Lagebericht: http://youtu.be/p7OcSkGD6Hc
Für Fotografen bieten sich hier mehr als genug Motive. Selbst mit einfachstem, bescheidenem Equipment gelingen eindrucksvolle Schnappschüsse. Aber nicht selten sind die Pixelkünstler ausgerüstet, als wollten sie in den Krieg ziehen, mit Objektiven, die unter die Waffenscheinpflicht fallen könnten. Motto: Nicht kleckern, klotzen! Jetzt gilt’s. Weniger etwas für’s Auge, denn für’s Ohr hält das Innere des Waldes bereit, in das sich die Vögel verziehen, um auf den Ästen der Bäume Schlafposition zu beziehen. Doch vor dem Heiamachen wird erst noch ausgiebig geschwatzt. Die Geräuschkulisse ist umwerfend und erinnert an einen starken Monsunregen oder eine Meeresbrandung bei Windstärke 8. Allerdings: Ohne Kopfbedeckung und ohne Schutzkleidung sollte man sich nicht zu weit in den Forst vorwagen – wegen der heftigen Niederschläge. Die kleinen Kerlchen hoch oben auf den Bäumen kacken wie die Weltmeister…

Videogestützte Volkszählung

Anfangs, kurz vor Weihnachten 2014, war die Zahl der in Steinbach einfallenden Bergfinken auf 800.000 geschätzt worden. Inzwischen sollen es vier Millionen und mehr sein. Für Außenstehende ist es schwer nachvollziehbar, wie diese Zahl zustande kommt. Aber hiesige Ornithologen und Naturbeobachter haben eine Methode entwickelt, die zwar auch nicht hundertprozentig genau ist, schon gar nicht bis zur Stelle hinterm Komma, aber immerhin eine annähernd realistische Berechnung ermöglicht.
So wird der Abflug einer Formation, eines sogenannten „Bandes“, per Video aufgenommen und die Zahl der darauf zu sehenden Vögel anhand eines Standbildes grob ermittelt. Dann visieren die Volkszähler das Schlusslicht des Verbandes an und stoppen die Zeit, die der Vogel braucht, um die Sequenz zu verlassen. Damit haben sie als Berechnungsgrundlage die Zeit sowie die Anzahl der Vögel in dieser Spanne. Jetzt wird die Gesamtzeit der Aufnahme durch die Zeit geteilt, die der gesamte Pulk benötigt, um einmal die Bildfläche zu passieren. Das ergibt einen bzw. den Faktor, mit dem man die ausgezählte Vogelmenge multiplizieren muss. Natürlich gibt es hier Fehlerquellen, die allein schon in der Zählmenge, der Durchflugzeit und der variablen Dichte der Schwärme liegen. Die lassen sich aber zumindest ansatzweise neutralisieren, indem man Mittelwerte ansetzt.
Aber auf einige Hundert oder Tausend Vögel mehr oder weniger kommt es hier überhaupt nicht an. Ihr Gastspiel im Mittelhessischen wird in die lokale Geschichte eingehen. Ob es sich nächstes Jahr in diesem Ausmaße wiederholt? Eher nicht. Die Bergfinken sind ja in erster Linie gekommen, um sich an dem überaus reichlichen Bucheckernangebot gütlich zu tun. Aber eine solche Mast wie 2014/2015 gibt es nur alle fünf bis acht Jahre. Das hat die Natur so eingerichtet und sich natürlich etwas dabei gedacht.

Bucheckernschwemme nur alle fünf bis acht Jahre

Es ist eine Art Überlebensstrategie der Bäume. Würden die Rotbuchen ihre dreikantigen Nüsse in jedem Jahr so reichlich ausstreuen, könnten sich die Nutzer und Liebhaber der Früchte, und dazu zählen sowohl Vögel, als auch Nagetiere und Wildschweine, darauf einstellen und würden sich regelmäßig in entsprechend großer Zahl mit umgebunden Serviette um den gedeckten Tisch versammeln und alles wegputzen. Die Samen hätten keine Chancen, im Waldboden zu keimen. Also nix mit Buchennachwuchs. So aber kommt ein plötzliches Überangebot für die Konsumenten überraschend. Sie schaffen es gar nicht, eine solche Eckernschwemme in Gänze zu vertilgen. Insofern sind die Starchancen für die „Nachkommenschaft“ der Bäume deutlich besser. Und damit nicht alle Samen gleichzeitig auskeimen und sich dadurch gegenseitig Licht und Nährstoffe wegnehmen, verharrt ein Teil der Bucheckern in der "Samenruhe". Sie fangen erst im nächsten oder sogar im übernächsten Frühjahr an zu wachsen. So haben alle jungen Bäumchen gleich gute Überlebensvoraussetzungen. Clever, gell?

Kaffeeersatz in Notzeiten

Eine Buche trägt übrigens erst mit 30 Jahren solche von einer braunglänzenden Schale umgebenen Früchte. In der der Vergangenheit spielten diese, obwohl leicht giftig, auch in der menschlichen Ernährung eine Rolle. Im 19. Jahrhundert und in der mauen Notzeit nach dem 2. Weltkrieg wurde aus denn Nüssen Öl gepresst, das sowohl beim Kochen, als auch als Lampenöl Verwendung fand. Buchecker, auch „Bucheln“ genannt, dienten zudem, ähnlich wie die Eicheln, auch zur Herstellung von Kaffeeersatz.

Futterbedarf beträgt 44 Tonnen täglich

Um zu ermessen, über welche Mengen an Bucheckern wir im aktuellen Fall tatsächlich reden, eine kleine Rechnung. Ein Bergfink mit einem Durchschnittsgewicht von 25 Gramm benötigt täglich 11 Gramm Futter. Um die Vier-Millionen-Meute von Haiger satt zu bekommen, bedarf es also pro Tag fast unvorstellbare 44 Tonnen an Bucheckern. Und die wollen ja erst mal entdeckt und erbeutet werden. Uff!
Ein ländlicher Durchschnittsort verfügt über etwa 100 ha Buchenwald, der in guten (Mast-)Jahren ein bis zwei Tonnen Ertrag pro Hektar abwirft. Unterstellt, dass davon die Hälfte von der heimische Tierwelt verspeist wird und die andere Hälfte den Gästen vorbehalten ist, würde ein solcher Ort dem Pulk für zweieinhalb Tage Nahrung bieten. Da die Vögel im Umkreis von 30 bis 40 Kilometern auf Futtersuche gehen, sind für sie sicher 100 solcher ergiebigen Quellen, ausgehend von ihrem Quartier bei Steinbach, erreichbar. Das würde ihnen 250 Tage lang reichen. Ihr winterlicher Auslandsaufenthalt dauert aber im Schnitt nur drei Monate, während der sie 3960 Tonnen dieser Buchenfrüchte vertilgen. Gönnen wir es ihnen. Es ist ja genug da.

  • Ausgebucht! Im Hotel „Zum Bergfink“ ist kein Platz mehr frei. Man sieht vor lauter Vögeln den Baum nicht.
  • Foto: Siegbert Werner
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  • Wolkenspiele: Die Invasion der Bergfinken reizt die Fotografen natürlich auch zu künstlerischer Verfremdung.
  • Foto: Siegbert Werner
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  • Wie Motten um das Licht: Spät heimkehrende Vögel umkreisen im dichten Schneetreiben die Flutlichtstrahler am Steinbacher Sportgelände.
  • Foto: Siegbert Werner
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  • Keine Unterwasser-Aufnahme, sondern Flug-Kunst.
  • Foto: Helmut Weller
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  • Je dämmeriger es wird, desto größer werden die Schwärme. Einige der Spätheimkehrer erreichen im letzten Büchsenlicht gerade noch ihren Schlafplatz.
  • Foto: Siegbert Werner
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  • Die dreikantigen Nüsse der Buche sitzen zu zweit in einem außen struppig-rauen, vierlappigen Fruchtbecher und sind von einer braunglänzenden Schale umgeben. Eine Schwemme davon, auch Mast genannt, gibt es nur alle fünf bis acht Jahre.
  • Foto: Tortuosa
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2 Kommentare

Danke für den Beitrag! Erst dachte ich an einen Scherz, aber dann mal kurz nachgeschaut und siehe da:
http://www.hr-online.de/website/rubriken/nachricht...

Gruß, Wilhelm

Deinen Bericht zu diesem faszinierenden Naturschauspiel hast du sehr fesselnd und informativ geschrieben. Ich habe mehrere Male laut gelacht (Touristenströme und heftige Niederschläge). Vielen Dank dafür Jürgen!

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