Ein Dorf muss sterben, weil es zu viel Kohle hat: Einige harren noch aus, doch die Monsterbagger sind schon in Sichtweite
Eigentlich müssten, vom Winde verweht und der Atmosphäre wegen, jetzt ein paar vereinzelte Gestrüpp-Ballen und verdorrte Krüppelkiefern durch die menschenleeren Straßen fegen, so wie sich das für eine Geisterstadt im Wilden Westen, die etwas auf sich hält, gehört. Immerath hält aber nix mehr auf sich – und wird auch nicht mehr lange halten. Es liegt zwar auch im Westen, aber sooo wild ist der nun auch wieder nicht. Oder vielleicht doch? Aber Geisterstadt, das kommt schon hin. Gut, sagen wir Geisterdorf… Aber ein von allen guten Geistern und fast allen Einwohnern verlassenes.
Die Tage des Kaffs – unter einer pulsierenden Metropole stellt man sich etwas anderes vor - sind gezählt. Bald kommt Bodo mit dem Bagger und macht alles platt. 1970 zählte der inzwischen trostlose Flecken 1537 Seelen. Heuer sind es noch nicht mal mehr ein Dutzend. Und sie, die letzten Aufrechten, sitzen längst auf gepackten Koffern. Sie haben den Kampf gegen den unersättlichen Moloch Garzweiler II verloren, sind Heimatlose auf Abruf. Und entsprechend nicht gut auf RWE Power zu sprechen. Auf Touristen, die kommen, dieses einzigartige Ambiente zu bestaunen, aber auch nicht. Von Plünderern, die sich hier zunehmend breit machen, ganz zu schweigen.
Das lichtscheue, auf Beute spekulierende Gesindel lässt sich auch von den Gardinen, die noch (oder schon wieder) dekorativ hinter den Fenstern der leer stehenden Wohnhäuser hängen, nicht täuschen. Auch die großen Transparente „Hier leben noch Menschen“ zeitigen kaum die erhoffte Wirkung. Deshalb patrouilliert inzwischen auch ein privater Wachdienst. Tagsüber zumindest. Nachts, wenn alle Katzen grau sind, ist es hier noch unheimlicher. Um nicht zu sagen gruselig. Aus einer Handvoll, weit auseinander liegender Häuser dringt noch etwas Licht. Die Stromversorgung funktioniert also noch. Ansonsten ist es zappenduster. Und da wird jedes Geräusch zur Bedrohung.
Zu viel Kohle – das brach dem Dorf das Genick
Den Bewohnern des 120 Kilometer nordwestlich von Köln gelegenen Immerath ist zum Verhängnis geworden, wovon wir alle, wenn auch in einem anderen Kontext, träumen: Sie haben zu viel Kohle, Braunkohle. Die freilich findet sich ein paar Meter unterhalb der Grasnarbe unter einer Löss-Schicht und gehört ihnen nicht. Weckte beim Energiemulti RWE aber Begehrlichkeiten. Es sind immense Vorkommen, die sich auf ein 48 Quadratkilometer großes Areal verteilen. Dieses lukrative, milliardenschwere Geschäft wollte sich der Konzern nicht entgehen lassen, und er fand in der damaligen SPD-Landesregierung unter Bruder Johannes willige Unterstützer.
Am 31. März 1995 wurde der Handel geschlossen und das Aus für fast zwei Dutzend umliegende Dörfer sowie die sie umgebende Landschaft besiegelt. Die Sozis kostete das bei den wenigen Wochen darauf stattfindenden Landtagswahlen erst mal die Mehrheit. Aber auch alle nachfolgenden Regierungen, egal in welcher Konstellation, standen zu dieser Vereinbarung. Der Deal ist bis heute höchst umstritten. Nicht nur bei den Betroffenen. Sondern auch bei Natur- und Landschaftsschützern. Braunkohle ist der dreckigste fossile Rohstoff. Und wie war das gleich noch mit der so vehement proagierten Energiewende im Land des Deutschen Michels?
Die Geschichte des Ortes endet nach 873 Jahren
Man schätzt, dass auf dem Gelände von Garzweiler II annähernd 1,3 Milliarden Tonnen Braunkohle zu holen sind, die ab 2017 sukzessive abgebaut bzw. abgebaggert werden sollen. Das ist die Deadline für die noch ausharrenden, an ihrer Scholle hängenden Vertriebenen in spe. Bis zuletzt haben einige von ihnen gegen die drohende Vertreibung gekämpft. Vergebens. So wie Stefan Pütz. Für ihn verstößt die Umsiedlung gegen das Grundrecht auf Heimat. Für das Bundesverfassungsgericht nicht. Per Urteil vom Dezember 2013 haben die Karlsruher Robenträger entschieden, dass Enteignungen zur Gewinnung von Braunkohle rechtens seien, eben weil diese wichtig für das Gemeinwohl wäre. Aus der Traum. Damit endet für das kleine, 1144 als Emundrode erstmals urkundlich erwähnte Dorf eine lange Geschichte unwiderruflich. Zurück wird nichts bleiben.
Wenn die Kohlevorkommen irgendwann erschöpft sind, heißt es „Wasser marsch“. Das Gebiet wird geflutet. Ab 2045 sollen dann 40 Jahre lang jährlich 60 Millionen Kubikmeter Wasser aus dem Rhein in das verbliebene Restloch geleitet werden. Der See wird 185 Meter tief sein, eine Fläche von 23 Quadratkilometern bedecken und mit seinen 2 Milliarden Kubikmetern Wasser fast so groß wie das Steinhuder Meer sein. Da könnte Kevin Costner dann ein Remake von „Waterworld“ drehen. Aber er wird das nicht mehr erleben. Wir auch nicht.
„Sozialverträgliche Umsiedlung“
Vierzehn umliegende Ortschaften wurden in den vergangenen Jahren bereits geräumt und zum Teil eingeebnet Bei dreien, Immerath inklusive, ist der Kehraus in vollem Gange. Vier weiteren Dörfern steht das noch bevor. Die Bewohner bzw. Eigentümer werden von RWE natürlich entschädigt und, wie es so schön heißt, „sozialverträglich umgesiedelt“. Acht Kilometer von Alt-Immenrath entfernt entstand in den letzten Jahren Neu-Immerath, mit modernen, hellen Wohnhäusern, Plätzen und Parks. Die Bürger konnten bei der Gestaltung mitreden. Viele von ihnen sahen aber keinen Sinn mehr darin, in der Gegend wohnen zu bleiben. Sie sind in die umliegenden Städte gezogen – oder gleich weiter weg und ins Ausland. Die alte Dorfgemeinschaft Immerath gibt es so nicht mehr. Sie ist tot.
Die Toten umgebettet, die Lebenden geflüchtet
Am neuen Standort ist vieles (noch) provisorisch – und, ja, irgendwie auch steril. Hier atmet nichts, zumindest keine Geschichte. Der Charme des alten Immerath mit seinen charakteristischen Backsteinhäusern, der inzwischen entwidmeten Pfarrkirche St. Lambertus (ob ihrer Größe auch „Dom“ genannt), der kleinen Textilfabrik in Sichtweite oder dem beschaulichen, 1902 eröffneten kleinen Krankenhaus, auf das alle immer so stolz waren, ist nicht mit umgezogen, konnte nicht ins neue Zeltalter herübergerettet werden. Ganz im Gegensatz zu den Toten auf dem katholischen Friedhof. Sie wurden umgebettet und fanden auf dem neuen Gottesacker eine neue Bleibe – hoffentlich auf Dauer.
Aber es ist nicht dasselbe. Für die Angehörigen und Lebenden sowieso nicht. Für die Verstorbenen vermutlich auch nicht. Die Immerather haben ihre Lieben in der Erde des alten Dorfs begraben und dort um sie getrauert. Sie sind hier in den Kindergarten oder zur Schule gegangen, haben in der Kirche ihre Kommunion empfangen und Teils im Ort ihr ganzes Leben verbracht. Einige von ihnen haben in der Fabrik ein Auskommen gefunden und ihren Lebensunterhalt verdient, sich in der Karnevalsgesellschaft Seckschürger engagiert, in der St. Sebastianus-Schützenbruderschaft über Kimme und Korn gepeilt oder im Sportverein das Runde gedroschen. Das kann man nicht abwerfen und zurücklassen, ohne dass es schmerzt. Und es tut verdammt weh. Nicht allen, aber vielen. Und das mit dem Verpflanzen alter Bäume ist sowieso so eine Sache.
Zurück blieben meist nur die Alten
Fairerweise muss man sagen, dass der Niedergang des Ortes schon viel früher begonnen hatte. Die Braunkohle mag ihn nur noch beflügelt haben. Gerade junge Menschen sahen schon viel früher im Dorf keine Zukunftsperspektive mehr für sich. Das ist nicht nur in der Erkelenzer Börde so, sondern ein deutschlandweites, ja fast schon globales Phänomen. Die Jugend zieht es in die urbanen Zentren. Zurück bleiben die Alten. Aber in Immerath noch nicht einmal die. 1980 wurde die 1873 eröffnete Bahnstrecke stillgelegt, der Bahnhof war überflüssig geworden. Zu diesem Zeitpunkt hatte der bevölkerungspolitische Niedergang längst an Fahrt gewonnen. Zwischen 1970 und 2008 büßte das Dorf die Hälfte seiner Einwohner ein. Deren Zahl sank in diesem Zeitraum von 1537 auf 712. 2009 waren es noch 557, vier Jahre später 40.
Längst ausgebimmelt hat es sich inzwischen auch in der Kirche mit ihrer neuromantischen Basilika und dem Doppelturm. Am 13. Oktober fand hier, 123 Jahre nach der Einweihung, der letzte Gottesdienst statt. Am Umsiedlungsort wird es keinen Neubau in dieser Größe geben. Da muss es eine kleine Kapelle tun. Gezählt sind wohl auch die Tage der historische Turmwindmühle mit Haube und Flügelwerk. Sie wurde in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erbaut, war noch bis 1930 in Betrieb und wurde Mitte der 50-er Jahre restauriert. Es ist zwar die einzige erhaltene historische Windmühle im Erkelenzer Land, aber in Neu-Immerath wird man sich wohl mit einem Nachbau begnügen müssen.
Spaziergang in die Vergangenheit
Hin und wieder fährt ein Auto durch die leeren Straßen des Dorfs. Es sind meistens Touristen oder Fotografen, die noch schnell einen Blick auf den sterbenden Ort werfen wollen, bevor es ihn nicht mehr gibt. Die Landstraße hinter der Autobahnausfahrt Jackerath ist schon nach wenigen Metern zu Ende und offiziell als Sackgasse ausgeschildert. Ab einem bestimmten Punkt ist sie sowieso gar nicht mehr vorhanden. Diejenigen, die es bis nach Immerath schaffen, werden von den wenigen noch verbliebenden Einheimischen misstrauisch beäugt. Viele steigen aus, um sich umzusehen. Es wird ein Spaziergang in die Vergangenheit, in eine Welt, die längst mit sich abgeschlossen hat. Der Ort hat zwar immer noch Charme und Ausstrahlung, aber die Mondlandschaft ringsum ist postapokalyptisch. Da, jenseits der Dornenkuppel, würde sich auch Mad Max wohl fühlen. Sieht aus wie ein riesiger Schießstand derer von Andromeda nach einem finalen Atomkrieg. Die Rieseninsekten gleichen Schaufelradbagger sind schon ziemlich nah, in Sichtweite. Nicht mehr lange, und sie sind da und fressen sich ins Erdreich.
Beklemmende, trostlose Verlassenheit
Das kleine Hospital im Ort, das einst 110 Betten vorhielt, wirkt, wie auch das benachbarte Kloster „Haus Nazareth“ beklemmend verlassen. Der Putz bröckelt, die Fenster haben schon lange kein Putztuch mehr gesehen. Im Inneren meint der Eindringling noch den Hauch einer routinierten Betriebsamkeit zu spüren. Zu den Stationen“, das Schild im Flur weist irgendwohin. Die Rollos an der Apotheke daneben hat auch schon lange niemand mehr richtig hochgezogen. Und im Schwesternzimmer ist es trostlos und gähnend leer. Die Tee- und Kaffeeküche für das Personal lässt sich allenfalls noch erahnen. Vielen, vielen Patienten haben Ärzte und Pflegepersonal in den rund 110 Jahren, in denen die Lokalklinik in Betrieb war, nicht mehr helfen können. Aber noch viel mehr an Hilfesuchenden haben hier Heilung und Genesung gefunden.
Hier die marode Fassade der Volksbank, dort die Bäckerei, in der schon lange keine knackigen Semmeln mehr aus dem Ofen kommen, oder die zerfallenen Gewächshäuser der Gärtnerei. Auch in der Kleiderfabrik atmet noch jede Ecke Erinnerung und zeugt von einstiger Geschäftigkeit. Man glaubt, das Lachen der Arbeiterinnen und Arbeiter noch zu hören, das Fluchen der Vorgesetzten, das Surren und Rasseln der Nähmaschinen, von denen einige noch vorhanden sind, wenn auch nicht komplett. Die frühere Metzgerei ist nur noch ein Gespenst aus Mörtel und Klinkern. Die meisten Fenster mit Brettern vernagelt. Gärten verwildern. Die Wohnhäuser mit ihren verbarrikadierten Türen und heruntergelassenen Rollläden sind nahezu vollständig ausgeräumt. Nur hier und da scheint ein Möbelstück vergessen worden zu sein. Aber es sind die kleinen, unscheinbaren Dinge und Spuren, die an die einstigen Bewohner erinnern. Eine alte Zeitung vielleicht, eine Kritzelei an der Wand, eine vergilbte Fotografie im zersprungenen Glasrahmen, ein Teppichläufer oder ein rostiger Kochtopf. Es sind temporäre Artefakte, die allesamt den Keim der Vergänglichkeit in sich tragen.
In den Filmarchiven leben die Dörfer weiter
Immerath ist vom Bekanntheitsgrad her nicht das exponierteste Auslaufmodell im Abbaugebiet. Das nur wenige Kilometer nördlich gelegene und inzwischen dem Erdboden gleichgemachte Otzenrath hat dem Kaff dahingehend schon vor Jahren den Rang abgelaufen und wird zumindest in den Filrarchiven überdauern. Jens Schanzes preisgekrönte Dokus „Otzenrather Sprung“ (2001/2002), für den er den Grimme-Preis erhielt, und „Otzenrath 3° kälter“ (2007) haben den Umsiedlungsprozess exemplarisch begleitet. Und der Film „OTZENRATH, Last Day“ von Marzijn Smits gewann 2006 den Zuschauerpreis auf dem Dokumentar- und Kurzfilmfestival im spanischen Bilbao. 1999 veröffentlichte Kurt Lehmkuhl seinen Krimi „Begraben in Garzweiler II“, während Otzenrath 2004 Kulisse für den WDR-Tatort „Schürfwunden“ mit Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär war. 2011 schließlich erschien „Die Grube“ von Ingrid Bachér, die die Umsiedlungsgeschichten von Garzweiler und des nördlich von Immerath gelegenen Borschemich am Beispiel einer fiktiven Familie erzählt.
Und jetzt der Abspann….
Bürgerreporter:in:Jürgen Heimann aus Eschenburg |
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