Scheharazades erste Nacht
Ein großes Herz

- "...und denke zurück erhabener Sultan , als Du in jungen Jahren noch selbst durch die schier endlosen Weiten der Wüste gezogen bist. Lebendig und zeitlich so nah sind dann plötzlich die Bilder, die Dir in Deiner Vorstellung entstehen so wie eine Fata Morgana. Auf diesem kleinen Stückchen Gestein aus Deinen Wunderkammern haben sich die großen Zusammenhänge fast in gleicher Form abgebildet. Dem Kleinen entspricht das Große und die Zeit hat mitten im Lauf angehalten". Schmuckausstellung Haus der Kulturen Diedorf
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Das pochende Herz
„ Zeit ist etwas Relatives, großer Sultan, wie Du ja ganz sicher weißt“, sprach Scheherazade. „Für mich, welcher Du , erhabener Herrscher, bestimmt hast, noch am nächsten Morgen zu sterben, wenn ich Dir die Nacht verkürzt habe, ist sie etwas sehr Kostbares, und jede Stunde, Minute, ja jede Sekunde zählt und belohnt mich und , wie ich hoffe, auch Dich durch jeden einzelnen Moment, jeden doch so kurzen glücklichen Wimpernschlag. Zeit vergeht manchmal viel zu schnell, manchmal aber dehnen sich die Stunden der schlaflosen Nächte und man kann genervt kaum erwarten, bis der Morgen graut.
In deiner großmütigen Güte hast Du in all den vielen Nächten vielen Deiner Sklavinnen die Möglichkeit gegeben, eben jene Zeit Deiner Schlaflosigkeit mit Süße und Freude zu erfüllen oder Dich auf jede andere Art kurzweilig zu unterhalten. Wie mir scheint, bist Du davon unbeeindruckt allmächtiger Herr, verzeiht mir , der Dir so Unwürdigen, aber dennoch nicht von der zähflüssigen Langeweile befreit und von Deiner Lethargie geheilt worden. Lass nun aber auch mich sehen, wie ich mit meinen Gedanken Dir vielleicht doch den notwendigen Tropfen an heilender Substanz , so als wär´s gerade auch nur ein Stäubchen vom Stein der Weisen, in meinen Geschichten präsentieren darf. Lass´ mich Allah danken und auch Dir, Allmächtiger, dass Du mir in dieser einen Nacht, Deine Zeit und Gunst schenken willst.
Wie Du weißt, komme ich aus dem fernen Osten, viel weiter noch als das farbenfrohe India, von dem Eure Händler duftende Gewürze und wertvolle Edelsteine mitbringen. Ich komme aus einem Land weit über das Meer und noch weiter über unwegsam hohe Berge. Dort liegt das Land Shangrila und obwohl sich dort niemand mit all dem herrlichen Reichtum und den glänzenden Kostbarkeiten in Deinem Lande messen könnte und auch all die unter Deiner Großmut so reich gewordenen Wesire und Amtsträger hier doch die allerglücklichsten Menschen sein müssten – verzeih mir, oh´ Erhabener,- rühmt man die Menschen dort in all ihrer Armut doch noch weit glücklicher als alle anderen auf dem ganzen bekannten Erdkreis.
Denn dort wird, so sagt man, aus jedem einzelnen Moment heraus die Zeit neu geboren. Freilich verschwindet dort vom frühesten Morgen bis zum Einbruch der Dunkelheit viel Zeit mit der vielfältigen schweren Arbeit, die die Menschen verrichten müssen, um ihr ärmliches Leben zu führen. Doch ohne Murren, ja sogar glücklich legen sie sich auch mit schmerzenden Knochen danach einfach auf den harten Boden. Müde und erschöpft schlafen sie sofort mit einem geradezu erfüllten Lächeln auf dem Gesicht ein, um den neuen Tag und seine Pflichten dann am Morgen freudig zu begrüßen. Denn dieser Morgen schenkt Ihnen ja wieder das Glück neugeborener Zeit.
Stirbt dann ein lieber Verwandter, so raubt Ihnen nicht die Trauer und der Schmerz über den Verlust alle Freude, die Zeit des Tages und den Schlaf der Nacht, nicht zerreißt hoffnungsloser Schmerz Ihr Herz, sondern freudig erzählen sie sich bei der Arbeit all die Geschichten, die sie mit dem Verstorbenen erlebt haben. Das gelingt Ihnen mit so viel Geschick und lebendigem Geplapper, dass die geliebte Person gleich wie an Ihrer Seite mit zu arbeiten und mit zu plaudern scheint. Allah ist groß, erhabener Fürst, und mir kleinem Wurm steht es nicht zu, mit meinem Los und der religiösen Wahrheit im wunderbarsten aller Länder hier unter der Aura Eures Wohlwollens zu hadern, nach dem Tode für immer und ewig in noch reichere Gefilde ab zu reisen. Ist jemands Zeit auf Erden dann aber nach Allahs Willen unwiederbringlich beendet, sehe ich aber hier nur lautes Klagen, schmerzvolle Tränen und unsägliche Angst und Verzweiflung, ob denn der Verstorbene vielleicht doch nicht vor Allahs Richtschwert bestehen könnte.
Dort aber in Shangrilah bei den Deiner und Allahs Güte Unwürdigen dagegen ist der Tod ein lebendig frohes Treiben, denn geht der eine für eine Weile mal weg um seinen müden Knochen ein wenig Ruhe zu gönnen, so liegt gleich darauf schon eine der Frauen im Wochenbett und schenkt der Gemeinschaft einen ganz und gar wieder hergestellten quicklebendigen Säugling, der sich an den munteren Erzählungen mit viel lustig lautem Geschrei beteiligen möchte. So ist dort nur Freude und kein Grund zur Trauer, denn alles ist im Rhythmus von Kommen und Gehen und die Zeit wächst mit jedem Tag immer wieder nach. Und das ist das Glück dieser Menschen. Denn dort ist die Zeit nicht auf ein Lebensmaß beschränkt, sondern erneuert sich in Zyklen wie alle Stunden des wärmenden Sonnentages und der Wandel des Mondes, und der Kreislauf des Wassers und eben auch der Fruchtbarkeit der Frauen…und das, Großmächtiger, ist das Wunder des Glücks dieser einfachen Leute .
Allahs Weisheit ist freilich grenzenlos und keiner kennt den Tag, an dem ihm vom Allwissenden der Tod zugelost wird. Aber so lebt hier jeder in Hetze, in diesem seinem einzigen Leben, das Bestmögliche heraus zu holen, um Allah zu gefallen. Reichtum durch Handel und Fleiß anzuhäufen, Einfluss und Macht zu erringen. Was kann Allah denn sonst mehr von der menschlichen Wichtigkeit und Besonderheit überzeugen? Wer viel besitzt, kann sich die teure und aufwändige Reise nach Mekka leisten, kann mehr als jeder Andere an Zuwendungen für die Armen aufbringen und den 5 Säulen des Islam damit wichtige Erfüllung bieten. Auch die täglichen Gebete und anderen Verpflichtungen kosten Zeit und Geld und das zu verdienen, mindert unsere Zeit um weitere Bereiche.
Zeit ist hier in unserem gottesfürchtigen Leben kostbar, jede Stunde zählt und schon ist unsere Todesstunde in unmittelbarer Nähe. Wie wohl ich weiß, dass auch mir dies Los in wenigen Stunden zufallen wird, hoffe ich doch, dass ich Dir, Großmütiger, mit meinem Geplapper diese wenigen Stunden in viele unterhaltsame Minuten aufdehnen kann, die aber gleichzeitig so spannend und erfüllt sind, dass für Dich die Zeit viel zu schnell zu vergehen scheint, und Du mich vielleicht dann am Leben lässt, um mit mir weitere geschenkte Stunden zu verbringen und weitere Geschichten zu hören. Zeit ist relativ.
Stelle Dir vor, mein Gebieter, Du könntest Dich in der Zeit zurück bewegen. Denke an die Zeit ,als Du selbst noch auf Handelsreisen gingst, als Du um Deinem Vater zu gefallen, im schleifend langsamen Trott der Dromedare die beschwerlich lange Reise durch die weite Wüste bis ins Land der Königin von Saba und darüber hinaus, gewagt hast. Mit ausgetrockneter Kehle und vor Hitze aufgesprungenen Lippen hast Du Dich Stunde um Stunde vorwärts geschleppt und jeder Tag, jede Stunde, ja jede Minute kam Dir wie eine halbe Ewigkeit vor. Wenn Du darüber nachdenkst, wird die Erinnerung daran aber so lebendig, dass selbst die Vielen Jahre , die vergangen sind, nicht zählen und Du das Gefühl hast, dieses Erlebnis sei erst vor wenigen Minuten eingetreten.
So wie bei einer Fata Morgana der der Abstand zum spiegelnden See, der uns Rettung vom Verdursten vortäuscht, ungeachtet unserem Vorwärtsstreben einmal so nah und dann wieder so weit entfernt scheint, Raum- und Zeit also außer Kraft gesetzt scheinen, so nähert sich uns die Vergangenheit gar so lebendig und weicht dann plötzlich wie ein verängstigtes Kind wieder zurück. Reisen in unserer Phantasie sind wahre Zeitreisen in die Vergangenheit.
Hätten wir nicht auch die Möglichkeit, uns so auch einfach in die Zukunft zu bewegen? Könnten wir uns wie mit Flügeln über unseren bevorstehenden Tod nicht vielleicht auch in die Zukunft hinein bewegen. Du kannst es auf Deine Weise in deinem Glauben freilich schon, denn Du siehst Dich im Kreise Allahs unter dessen besten Tischgenossen. Kaum aber kommen Dir Zweifel, ob Du auch in Deinen frühen Jahren in Allem unter Allahs Augen bestehen kannst, platzen diese Vorstellungen wie eine Seifenblase und Dein großmütiges Herz wird klamm vor Angst. Denn im Gegensatz zu Deiner kurzen und begrenzten Lebenszeit ist die Zeit nach Allahs Richtspruch unbegrenzt für immer fixiert und lässt keine Zeitreisen mehr zu.
Deine hochgeschätzten Astronomen und Astrologen studieren den Nachthimmel über uns und bewundern Allahs Größe, indem sie jedem einzelnen Stern dort einen Namen geben und Ihr Zusammenwirken beobachten, um Allahs zukünftiges Wirken zu bestimmen. Meine Leute in Shangrilah haben Schamanen, die behaupten, immer wieder solche Zeitreisen in die Zukunft gemacht zu haben. Auch dort gebe es Wissenschaftler, die den Himmel zu verstehen glauben und davon berichten, dass sich alle Sterne in gleichmäßiger Geschwindigkeit von einem Zentrum aus davon bewegen. Aber wohin und warum? Sie gaben Ihnen die Bestätigung: die Zeit ist relativ, wie auch die anderen Dimensionen. Das haben sie nicht verstanden. Denn nur mit dem Herzen sieht man gut.
Höre auch Du, großer Herrscher auf Dein Herz: Es pocht. Es ist ein Rhythmus der Natur, der allen Dingen gemeinsam ist. Der Rhythmus des Sonnentages, der Wandel des Mondes, der Kreislauf des Wassers und der Zyklus der Frauen, vielleicht auch der Zyklus des Lebens. Ein gleicher Rhythmus doch alles scheint nach verschieden schnellen Zeitabläufen zu verlaufen. Aber Zeit ist relativ, lehrt uns unsere Erfahrung. Wenn Dich meine Geschichte erregt, pocht Dein Herz schneller und meines wird beim Aufgang der Morgenröte in Erwartung Deiner Entscheidung, ob ich sterben soll, gar zum Rasen kommen. Lässt Du mich töten, hört es auf zu schlagen oder pocht es vielleicht dann nur so langsam, dass man nur den nächsten Schlag nicht mehr abwarten kann? Ist es auf dem Weg zu den Sternen, um sich dort Allahs Spruch zu unterwerfen?
Findet es Frieden in Shangrilah. Doch nun sieh, edler Herrscher, der Rhythmus aller Dinge ist so unendlich verschieden, wie die Größe von Allahs Güte. Auch der Himmel der auseinander strebenden Sterne hat einen eigenen unendlich langsamen Rhythmus, sagen die Schamanen der Zukunft. Fühlst Du Dein Herz. In Deinen Adern, bewegen sich so kleine Objekte, dass nur ganz wenige Deiner Wissenschaftler sie unter dem vergrößernden Kristall des klaren Edelsteins Beryllium sehen können. Sie bewegen sich von Deinem Herzen weg und kommen erst viel später in Deinen Adern wieder zurück zu Ihrem Ausgangspunkt. Wie wenn das Universum auch nichts anderes wäre, als ein großes unendlich langsam schlagendes Herz, freilich gefügt nach Allahs Willen? Und für die Schamanen der Zukunft bliebe in ihrer begrenzten Vorstellung gar kein Schluss darauf möglich, dass Sie in diesen unvorstellbar langen Zeiträumen, in denen Sie glauben denken zu können, nur einen einzigen halben Pulsschlag untersuchen. So wie die Sterne vom Herzen wegstreben, wird prophezeit, so stürzen sie in wenigen Ewigkeiten auch wieder geballt zurück zum Zentrum. Denn Zeit ist relativ und das Herz des Universums schlägt langsam aber ebenso lebendig wie Deines und meines.
Bürgerreporter:in:Haus der Kulturen michael stöhr aus Diedorf |
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