Der Augenachat: vom Stein der Weisen und der einseitigen Dummheit alter Männer

Kathmandu 2014, Der Autor unter weisen Männern
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Ich hatte mir auf unserer Reise in Nepal mehr nolens als volens überwältigt vom Redefluss eines geschäftstüchtigen Chinesen eine graugebänderte Kugel gekauft, von unglaublichem Wert, wie der Händler versicherte, der die Augen öffnen sollte, für die Ursprünge und Hintergründe des Seins, nach längerem Feilschen für schlaffe 2 Dollar und noch den Leder-riemen zum Tragen gratis dazu. Welche Selbstbestätigung!!

Als ich ihn nach Sinn und Zweck des Gekauften fragen wollte, war die Gesprächsbereitschaft des erfolgreichen Dealers erschöpft und richtete sich mit umfassender Geste mehr auf die anderen um ihn verstreuten Besitztümer

„ Väter der Weisheit“ richtete ich auf den stufenförmig angeordneten Tempelchen des zentralen Komplexes bei den Verbrennungsplätzen meine Frage an die dort auf Geschenke und Geldgaben wartenden Gurus und Kiffbrüder. Mit freundlicher Geste luden sie mich ein, neben ihnen auf den Stufen Platz zu nehmen, gewahr der gezückten Fotoapparate aller anderen Touristen.
Mit erprobter Geste tippten sie mit eingefärbtem Zeigefinger zielsicher mitten auf die Stelle zwischen meinen Augen, um mir das dritte Auge, das Shiva-eye, als Zeichen meiner erfolgreich bestandenen Lehre quasi schon im Vorweg zu zu erkennen. Nach einem Gespräch suchend, umschloss eine Hand den just gekauften Stein an meinem Hals prüfend ans Licht gehalten.

Jetzt war es an mir, mich dieser Gesten auch würdig zu erweisen:
„ Fathers of wishdom, diesen Stein habe ich unten am Markt von den chinesischen Händlern gekauft, einen Augenachat. Was könnt Ihr mir dazu sagen?“

„Nun sieh, ich habe Dir das Shiva-auge auf die Stirne gemalt, das Auge Shivas, , der damit auch das Verborgene sieht, der die Welt aus sich heraus, aus seinem Lingam, in einzelnen Schalen entstehen ließ, die Innerste Schale für die Götter, dann die Hilfsgeister, die Brahmanen, die Herrscher und Krieger und dann die Schalen der Handwerker und Beamten, die Schale der Bauern außen und ganz weit vom Zentrum entfernt die Schale der Unberührbaren und Sklaven“. In entgegen entgegengesetzter Richtung wird Shiva die Welt am Ende der Tage auch wieder auflösen. Das ist die Bedeutung dieses Augenachats mit seinen konzentrischen Ringen, mein zahlender Freund!“

„ Unsere Wissenschaftler sehen es ein wenig anders, aber grundsätzlich und inhaltlich doch ganz ähnlich mit der Entstehung der Welt.“, versuchte ich mit zu reden: „ Da soll es einen großen Urknall gegeben haben, und aus einer enormen Verdichtung der Teile am Anfang expandierte das Universum fast schon orgiastisch sich immer weiter auseinander und immer weiter auflösend in die unheimlichen Weiten des Alls. …und am Ende konzentriert und kompensiert sich alles dann wieder rückläufig bis zu einem unheimlich verdichteten Punkt. Ob sich das, wie beim Herauspumpen des Bluts beim eigenen Herzschlag in kaum einer Sekunde im All dann nach Milliarden von Jahren Pulsfrequenz wiederholt, weiß nun leider keiner“.

„ Die meisten von Euch Touristen häufen Erfolg und Besitz um sich herum an, bauen eine Schale nach der anderen herum auf , wie dieser Augenachat. Mit der Ausbreitung Eures Wohlstands und damit Eurem scheinbaren Einfluss auf den Ablauf der Dinge, wollt Ihr Euch nicht nur mit dem Verständnis Eurer eigenen Kultur und der Macht über sie zufrieden geben, nein durch das scheinbare Verstehen anderer Kulturen und dem Prestige des Reisens, verschafft Ihr Euch eine wertvolle Außenschale wie dieser Schmuckstein. Durch das scheinbare Verstehen meint ihr über den Kulturen zu stehen und glaubt damit Eure Macht auch auf alles Fremde ausüben zu können. Tatsächlich müsst ihr Reichen doch irgendwann einmal einsehen: Nur im Verzicht nähert man sich den Anfängen, dem Zentrum des Seins wieder, das man mit all den Formen der Ablenkung doch nur aus den Augen verliert. Dringt man nicht nur so durch alle Schalen, die den Blick versperren, hindurch zum Kern des Seins, Schalen wie bei dieser Steinkugel? Ist das nicht auch bei Euch die letzte Erkenntnis in der Philosophie? Ist das nicht der Stein der Weisen?“ gab einer zu bedenken, der sich im Kreis der Gurus bisher noch zurück gehalten hatte.

„Der Stein der Weisen aus der jüdisch-christlichen Mystik und Alchemie des Mittelalters mit seiner aus aufeinander aufbauenden konzentrischen Verstandessphären gebildetem analog gedachten Materialität, das wäre sicher als Denkmodell zum konzentrischen Aufbau des Augenachats zu sehen , aber was bringt solch verschlüsselte und vieldeutige Esoterik heute?“ war mein eigener Einwand.

„ Auch der Islam hat natürlich im Mittelalter als Behüter von Christentum und Judentum und für die Entwicklung des neuzeitlichen Denkens mit seinen Wissenschaften wie Al-chemie, Al-gebra, Astronomie, Medizin eine ganz wichtige Rolle gespielt. Für Gedankengänge, bei denen wissenschaftlich beweisbare Grundlagen und Detailinformationen fehlten, wurden Parallelen aus chemischen Reaktionen, aus bekannten Naturvorgängen und aus dem Erlebensbereich der damaligen Menschen gesucht. Geschichten und Parabeln sollten Wissen und auch vernünftige naturangepasste Moral vermitteln. Seht doch nur die wundersamen Geschichten von Sinbad dem Seefahrer oder aus Tausendundeiner Nacht, bei der Scheherazade eine Geschichte aus der anderen entwickelt oder umgekehrt in eine Geschichte immer wieder neue integriert. Ist das nicht ebenso wie die konzentrische Form der Achatperle?“ gab ein belesener Konvertit zu bedenken.

„All unsere Wissenschaft am Ende des Mittelalters mag im Miteinander der drei großen Religionen gereift sein, geht dieses Wissen aber nicht zurück auf die Überlegungen der griechischen Philosophen, auf den Disput von Plato und Aristoteles zum Beispiel, auf die Analogien, auf die Entsprechungen von Mikrokosmos und Makrokosmos: So wie hier im Achat konzentrische Schalen unterschiedlicher Gesteinszusammensetzung und Farbe ineinander stecken, müsse man die Kugel der Erde ebenso schalenförmig aus eben größeren Gesteinsschichten sehen. Dies, so meinten doch diese Denker, müsse so sein, weil jeder kleinen Ordnung gleiche Grundprinzipien zu Grunde liegen wie auch den großen und gewaltigen Dingen“ gab ein weiterer seine Gedanken kund.

„ Papperlapapp“ meldete sich ein etwas dicklicher und anscheinend eher an weltlichen Genüssen orientierter Meditationsjünger: „ Ist dies nicht nur ein Stein, auf den man besser nicht beißt, will man nicht gerade seine wichtigsten Organe schon frühzeitig verlieren? Mir ist das Ei lieber als diese runde ungenießbare Perle und was nützt mir zu wissen, ob dieses eine wohlschmeckende Etwas noch vor dem Huhn war, das es gelegt hat. Sicher ist das Huhn wichtig, welches auch noch andere Eier legt, und legt es keine Eier mehr, so soll man es schlachten und eine köstliche Suppe daraus bereiten. Sein letztes Ei aber hüte man gut, um daraus wieder ein Huhn zu züchten. Das ist das Gesetz des Lebens, einmal so und ein andermal andersherum.“

Während wir so auf den Stufen einer der vielen Pagoden und Heiligtümer saßen und palaverten, kam eine junge Mutter den steilen Weg herauf gestiegen, Ihr Kind in Wickeltuch und Sari fest an den Körper gebunden. Das Gesicht war gerötet vor Jugend, Gesundheit und Anstrengung. Trotzdem sprach sie in beruhigend singendem Tonfall beim Hochsteigen mit der Kleinen, die wohl gerade aus dem Schlaf erwacht war und zu weinen angefangen hatte. Das Kind beruhigte sich schnell und schien auf die angenehmen Worte der Mutter mit seinem Plappern zu reagieren.

„Du denkst nur an s Essen, lieber runder Freund“, meinte einer der bisher still geblieben jungen Bettelpriester aus dem Hintergrund heraus:“ Ihr wisst ich bin immer noch am Zögern, ob Euer Weg der Meditation, des Nachdenkens, aber auch des steten Mußegangs ohne richtig zu arbeiten, für mich denn überhaupt der Richtige ist. Hat diese Frau hier, euer dauerndes Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem richtigen Weg, nicht längst schon ohne viele Worte richtig beantwortet? Ich will Euch sagen, dass dieser dumme leblose Augenstein mir höchstens in den Gedanken gerade noch als Sinnbild für das reifende, sich ausbreitende Leben gut zu sein scheint. Doch schon dieses Sinnen scheint mir tatsächlich an den wirklich relevanten Dingen des Lebens vorbei zu huschen. Wir leben, um zu sein. Der Weg ist das Ziel. Diese Mutter und ihr Kind bewegen sich, Ihr aber palavert und wiederholt Euch nur selber“.

Die Sonne hatte mich geblendet aber auch wohlig und Ruhe schenkend erwärmt. Ich hatte die Augen geschlossen und war wohl unter diesen Bettelgurus ein wenig ins Träumen geraten, als ich für bare Münze unter diesen honorigen Herren und farbenfrohen Bildmotiven für ein Foto still gesessen hatte. Der 100-Rupienschein wechselte den Besitzer und bald war der imposante Platz in der Mitte der etwas langsamen und selbstzufriedenen Brüder mit dem zugekifften Blick wieder vom nächsten Touristen für das Andenkenfoto belegt.

„ Life is like a beanstock“ meinten die Prokul Harum im Gettoblaster einer anderen Touristengruppe, die den Tempelberg hinunterstieg. Alles anders.

Zum Augenachat
„ Tibetanischem Brauchtum und Glaube nach verheißen in der Natur gefundene seltsam erscheinende Mineralien und Fossilien Glück, was ja ganz banal allein schon aus dem seltenen Finderglück im Fund von außergewöhnlichen Objekten zu erklären ist. Augensteine mit in der Rundung angeschnittenen ringförmig helleren oder dunkleren Schichten sind bei gerundeten Flusskieseln nicht wirklich selten, mit gleich zwei starrenden runden Augen nebeneinander allerdings doch mehr und sollen in vielen Kulturkreisen auch in unserem heimischen Volksglauben gegen den „ bösen neiderfüllten Blick“ helfen, im „Drohstarren“ den unheimlichen Gegner bannen und sollen deshalb unheilabwehrende und heilsame Wirkung besitzen.
In Tibet werden solche mit Augen und seltsamen Zeichen versehene Steinamulette Dzi-perlen genannt. Echte rein naturgeformte Stücke vor allem aus Achat sind wertvoll und werden über Generationen weitergegeben und hoch geschätzt. Auch in gezielte Augenform geschliffener Naturachat ist natürlich echter Stein und wird auch in Augenachat-Perlenketten verarbeitet. Fälschungen aus China aber sind geätzt, graviert oder mit Laser ein gebrannt zu Hauf auf den Märkten dort zu finden.
Wir bieten neben anderen ungewöhnlichen Schmuckstücken und schönen Geschichten auch einige  dieser Augenachate in unserem Museumsshop im Haus der Kulturen in Diedorf  zum Kauf an.

Kathmandu 2014, Der Autor unter weisen Männern
Augenachat, Dzi-bead vom Norden Tibets.
Bürgerreporter:in:

Haus der Kulturen michael stöhr aus Diedorf

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