Hermann, der einsame Röhrenfernseher
Auf dem Weg nach Hause begegnete mir heute im Zug ein verlassener Röhrenfernseher. Da ich mir gerne Geschichten ausdenke, mit denen ich irgendwann später meine Nichte (vier Jahre alt) erheitern, beschäftigen und zum Nachdenken bringen will, kommen da selbst bei einem Röhrenfernseher die seltsamsten Ideen zusammen ;-) Ein richtiges Müllmärchen.
Es war einmal ein alter Röhrenfernseher namens Hermann.
Hermann war sich bewusst, dass er längst aus der Mode gekommen war. Ein bisschen zu groß, ein bisschen zu trist war er. Auch über das Bild hatten die Leute, die sich vor ihm niederließen, oft gezetert. Zu Beginn war das nicht schlimm – er dachte, das wäre nur eine Laune seiner Menschen. Aber dann kam es immer häufiger und irgendwann hörte er die Zweibeiner auf der anderen Seite nur noch genervt stöhnen, wenn sie nach der klobigen Fernbedienung griffen, um Hermann Leben einzuhauchen. Hermann wusste, dass er als Röhrenfernseher keine Gefühle besitzen konnte – und doch fühlte er sich schuldig und sehr traurig. Im Gegensatz zu seinem Besitzer waren die Erinnerung an die Vergangenheit noch sehr bunt in Hermanns Speicher verankert. Kristallklar sogar! Er erinnerte sich gern an die Zeiten, als er jedem, der ihn eingeschaltet hatte, eine Freude bereiten konnte. Eine Weile hatten sich die Hausbewohner sogar um ihn gestritten. Jeder wollte ein Stückchen von Hermann abbekommen! Hermann fühlte sich geschmeichelt. Er liebte es, zu sehen, wie sich jeder bemühte, um am Abend ein bisschen Zeit mit ihm verbringen zu können. Ein, zwei Jahre hatte er sogar im Kinderzimmer gelebt – die leuchtenden Augen des kleinen Mädchens, als sie ihn erblickt hatte, würde er nie wieder vergessen, dessen war sich Hermann sicher.
Aber dann verstrichen die Monate und die Jahreszeiten vor dem Fenster veränderten sich. Eine nach der anderen. Hermann wusste nicht, was das „da draußen“ war; das Fenster war für ihn selbst wie ein Fernseher, mit einem deutlich besseren Bild – und einem schöneren Programm. Wenn er tagsüber alleine war, konnte er sich oft stundenlang damit beschäftigen, den Vögeln auf den Ästen zuzugucken. Alles war gut und Hermann war glücklich. Bis die leuchtenden und fröhlichen Gesichter älter wurden, griesgrämiger, regelrecht ausgetauscht. Bis Hermann nur noch Kritik hörte, man alles an ihm plötzlich nicht mehr mochte. Er wäre zu dick, hieß es. Zu schwer, um ihn mal kurz in ein anderes Zimmer zu tragen oder zu bewegen. Was Hermann vor allem traurig machte: Keiner mochte mehr die Bilder, die er zeigte. Zu „unscharf“ und zu „farblos“, kam aus den murmelnden Mündern. Er blickte zum Fenster, sah "da draußen" und wusste: Sie sprachen die Wahrheit.
Und dann kam "Tag X"
Doch Hermanns Besitzer sprachen nicht von den Bildern „da draußen“, sondern von Modellen, von denen der alte Röhrenfernseher noch nie etwas gehört hatte. Hin und wieder ließ ein Familienmitglied einen Katalog auf dem Boden liegen. Wenn sie schließlich begannen, den Schrank unter Hermanns Füßen zu vermessen, konnte er die Zeit nutzen und einen Blick auf die neuen Fernseher werfen. Erschreckend dünn wirkten sie, fast schon krank! Ob die wirklich so viel besser waren, fragte sich Hermann skeptisch. Eine Skepsis, die seine Besitzer nicht teilen konnten. Mit betrübter Stimmung beobachtete er, wie die Kinder der Familie klatschend und jubelnd durch das Wohnzimmer sprangen, als bekannt gegeben wurde, dass ein Flatscreen einziehen würde. Hermann fragte sich derweil nur eines: Und wohin komme ich?
Die Tage verstrichen, Telefonate wurden geführt und ein rotes Kreuz im Kalender markiert. Am Tag X würde etwas Besonderes sein, meinte Hermann zu wissen. Leider war sein Gedächtnis durch die Jahre nicht mehr verlässlich, er hatte längst vergessen, dass die Ankunft eines Neuankömmlings vor der Tür stand. Also begann Hermann sich gemeinsam mit den Menschen in seinem Haus zu freuen. So sehr, dass er sich jeden Abend viel Mühe gab, wenn er ihnen zeigte, was sie sehen wollten. Und das erste Mal seit langer Zeit schimpfte keiner seiner Menschen. Sie schwiegen, den Blick gen Kalender und Tag X schweifend und Hermann freute sich mit ihnen.
Als Tag X schließlich kam, war Hermann gerade mit der Betrachtung von „da draußen“ beschäftigt. Die Wolken tanzten über den Himmel und ein Gewitter schien zu nahen – Hermann wusste das, weil er es jeden Abend in den Nachrichtensendungen hörte und schon oft erlebt hatte, wie die Menschen behutsam mit ihm umgingen, wenn Blitze und Donner vor der Tür standen. Nur an diesem Tag interessierte sich niemand für die dunklen Wolken auf der anderen Seite des Fensters. Hermann wurde aus seinen Gedanken gerissen, als ein Mensch das Wohnzimmer betrat. Mit geröteten Gesicht trampelte der Hausherr herein, offensichtlich aus einem Streit entflohen und warf noch ein „Dann erledige ich es eben selbst!“ Richtung Küche. Ehe Hermann verstand, spürte er, wie das Kabel gezogen und er hochgehoben wurde. Es war lange her, dass man ihn von seinem staubigen Fleck entfernt hatte. Für Hermann fühlte es sich an wie fliegen.
Es gab noch immer "da draußen"
Der Mensch trug Hermann hinaus – Hermann war ganz aufgeregt, noch nie hatte er „da draußen“ live erlebt – doch ehe der Röhrenfernseher sich über die zahlreichen Eindrücke freuen konnte, wurde alles um ihn dunkel. Eine Decke verschluckte ihn. Alles wurde leise. Eine Weile vernahm er nur das Schnaufen und die schweren Schritte seines Menschen, der ihn offensichtlich unter Anstrengung herumtrug. Wohin es wohl geht?, fragte sich Hermann im Stillen. Er wusste nicht, ob er sich freuen oder Angst haben sollte. Letztendlich überwog die Freude vor dem Unbekannten. Schließlich vernahm er andere, fremde Geräusche, die er nicht zuordnen konnte. Ein piepsender Laut ertönte, Stimmengewirr setzte ein. Und schließlich spürte Hermann wieder Boden unter sich – ein erleichterndes Gefühl! Ganz langsam wurde die Decke zurückgezogen und … nein, Hermann glaubte seinem Bildschirm nicht! Er war in einem Zug! Ein paar irritierte Augenpaare streiften ihn, aber niemand sagte etwas. Auch sein Mensch nicht, der mittlerweile begonnen hatte, die Decke zusammenzulegen. Während eine Ansage nach der anderen ertönte und die Menschen nach und nach von ihren Plätzen verschwanden, kam Hermann aus dem Staunen nicht heraus. Er konnte sich gar nicht an all dem sattsehen – an den grellen Mustern der Sessel, den verschiedenen Farben und erst recht nicht an den bewegten Bildern „da draußen“, auf der anderen Seite der Zugfenster. Hermann war so vertieft in diese neue, aufregende Erfahrung, dass er sich plötzlich wieder wie ein junger Fernseher fühlte. Wie ein frischer Farbfernseher, nach denen damals alle so verrückt gewesen waren. Berauscht von der Situation bemerkte Hermann nicht, dass er alleine war. Erst als der Zug erneut hielt und das Wort „Endhaltestelle“ fiel, begriff der Röhrenfernseher, dass man ihn verlassen hatte. Alleingelassen verharrte er auf dem Boden des Zugs. Wissend, dass irgendwo gerade ein anderes, jüngeres Modell seinen entstaubten Platz in einem Haus einnehmen und den Menschen Freude bereiten würde.
Und er?
Hermann hatte noch das „da draußen“. Und das schien ihm verlässlicher als die Zeit und die Menschen. Solange er Wind und Sonne, Bäume und Menschen sehen konnte, gab es keinen Grund auf der Welt, um traurig zu sein.
Bürgerreporter:in:Julia Schmid aus Augsburg |
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