Warum hast du deinen Lehrmeister nicht begrüßt!

Man könnte ihn noch als Kriegskind bezeichnen, geboren wurde Heinz (Name geändert) im Kriegsjahr 1943. Er ist in eine große Familie aus Oberschlesien hineingeboren und war bereits im Alter von 3 Jahren auf der Flucht. Viel erlebtes ist in den letzten Jahren schon ein wenig verschwommen. In seinen Gedanken sind aber die Knabenjahre, heute würde man Pubertätsjahre sagen, fest eingebrannt. Die letzten Schuljahre ist Heinz in eine kleine Dorfschule gegangen. Dort mussten er und auch alle Schüler im Dorf, jeden Tag die Schulgebäude innerhalb des Ortes tauschen. Erst als 1955 die neue Schule eingeweiht wurde, war die Wanderschaft innerhalb der Schulen vorbei. Nach 8 Jahren Volksschule mit Abschluss, begann Heinz eine Schlosserlehre in einer Fabrik, er wollte was Handwerkliches machen, das mochte er schon immer.

Am 1. April 1957 begann Heinz als gerade 14 jähriger Knirps eine Ausbildung in der Fabrik. Günter ein Klassenkamerad und ebenfalls aus demselben Ort, lernte auch dort. So waren beide nicht so allein in der fremden Berufswelt. Es war nicht leicht damals. Jeden Tag achteinhalb Stunden arbeiten und Samstag noch sechs Stunden die Werkstatt putzen. Wer jetzt mitgerechnet hat weiß, dass es damals eine achtundvierzig Stundenwoche gab. Urlaub gab es auch, ganze 12 Tage im Jahr, Samstag wurde eingerechnet. Beide hatten sich mittlerweise an den Alltag im Betrieb gewöhnt und machten das Beste daraus. Für jeden Gesellen da zu sein, seine Anweisungen befolgen und nur Drecksarbeiten zu machen, störte beide nicht mehr. Das jeden Tag einer der beiden Knirpse einkaufen musste, war schon Routine geworden. Worüber Heinz heute immer noch nicht lachen kann, ist folgendes: In einer Ecke der großen Werkstatt befand sich ein Schweißerraum. Dieser war wegen verblitzen der Augen, mit einer lichtundurchlässigen Plane verhangen. Dieser Raum war das Heiligtum von - nennen wir ihn mal - Heinrich. Heinrich war ein damals etwa 55jähriger Mann und etwas untersetzt, sein Bierbauch war unverkennbar. Hatte Heinrich mal Langeweile, weil sein Material auskühlen musste, oder weil die Lehrlinge gerade sein Heiligtum putzen mussten, oder - oder - oder. Dann nahm Heinrich sein Blasrohr und traf Zielgenau auf irgendeine nackte Stelle am Körper seiner Opfer, das meistens die Lehrlinge waren. Es hat lange gedauert bis Heinz und Günter ausfindig gemacht hatten, woher die Attacken kamen. Waren es nur Kittkugeln, gab es nur einen roten Fleck. Hatte Heinrich aber eine Kugel aus einem Kugellager im „Rohr“, schmerzte es fürchterlich. Wie oft ist Heinz wohl an dem Vorhang vorbei gerannt um nicht getroffen zu werden.

An einem Tag im Spätsommer 1957 passierte folgendes. In der Mittagspause machten sich die beiden Lehrlinge auf den Weg zum Klo. Dieses Klo war ein flaches Steingebäude etwa 50 Meter neben der Werkstatt. Betrat man diesen Ort, war zur Linken eine Steinrinne als Pissoirs, rechts waren zwei Reihen mit 5 offenen Kabinen. Diese waren etwa 1,5 Meter hoch und von unten etwa einen halben Meter offen. Diskretion gab es damals noch nicht auf solchen Örtlichkeiten. Ein Blick unterhalb der Kabinen verriet ob jemand auf der Holzluke saß, man hätte ja sonst die Beine sehen können. Weil beide allein in dieser Plumpsklohütte waren, rauchte Günter eine Zigarette. Es war eine Ernte23. Heinz hat es nie vergessen. Als die halbe Zigarette aufgeraucht war, kam plötzlich der alte Vorarbeiter mit seiner Nickelbrille um die Ecke. Vor Schreck warf Günter seine Kippe in ein Loch dieses Plumpsklos und verschwand durch das hintere Fenster, um wieder an seinen Arbeitsplatz zu kommen. Heinz schritt durch die Tür dem Vorarbeiter entgegen. Dieser machte noch eine blöde Bemerkung und verschwand in einer der Reihen. Nach wenigen Minuten kam der Vorarbeiter mit noch offener Hose aus dem Gebäude und rief: Feuer - Feuer - Feuer. Alle die schon in der Werkstatt waren liefen nach draußen, um zu sehen was los war. Qualm quoll aus der Latrine. Plötzlich hatten einige Eimer mit Wasser in der Hand und versuchten durch die offenen Sitzdeckel, das sich ausbreitende Feuer zu löschen. Einige Eimer Wasser verfehlten das glimmende Zeitungspapier nicht, die offenen Fenster sorgen schnell wieder für klare Sicht.

Der Vorarbeiter sah Heinz vorwurfsvoll an und verschwand in der Meisterbude. Es dauerte nicht lange und der schlanke großgewachsene Meister stand vor Heinz. Pilo, hatten die Lehrjungs den Meister immer heimlich genannt. Komm mit, sage er zu ihm und beide gingen in das Lager, sie waren allein. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten sagte Pilo zu Heinz. Du verschwindest nach Hause für immer, oder! Noch bevor Heinz seine Unschuld beteuern konnte, holte Pilo mit seinem rechten Arm aus und gab Heinz eine Ohrfeige auf seine linke Wange, dass er sich fast dabei drehte und taumelte. „Ich habe das Klo nicht angezündet“ sagte Heinz, bevor er hinfiel. Pilo lachte nur und ging, er sprach nie wieder darüber. Auch eine Entschuldigung, als er die Wahrheit erfuhr, gab es nicht.

Seid dieser Zeit kann Heinz diesen Vorfall nicht vergessen. Jeden Tag, jede Minute wird Heinz an diese Tat erinnert. Jeden Tag seines Lebens hört er es, es rauscht - es pfeift - es schrillt. Jahre später haben Ärzte diagnostiziert, es ist ein Tinnitus, ausgelöst durch diesen Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht, vor 52 Jahren.

Viele Jahre später, mittlerweile schon selbst Familienvater, ist Heinz in Begleitung seines Vaters, diesem Mann auf einem Dorffest begegnet. Heinz sein alter Vater hat sich angeregt mit Pilo unterhalten, Heinz beachtete ihn nicht. Später frug der Vater seinen Sohn, warum hast du deinen Lehrmeister nicht begrüßt?

Erst dort hat Heinz seinem Vater erzählt was passiert war.

Bürgerreporter:in:

Helmut Metzner aus Neustadt am Rübenberge

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