Fotos und Schriftstücke dokumentieren die Sprengung des Kirchenschiffs von St. Marien im Jahre 1960
Der Fördervereinvon St. Marien und das Stadtarchiv haben in einer Ausstellung Fotos und Schriftstücke zusammengetragen, die die Sprengung des im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigten Kirchenschiffs von St. Marien vor 50 Jahren dokumentieren.
Einige Bilder zeigen den Grad der Zerstörung nach der Bombardierung am 14./15. April 1945. Weitere Bilder machen deutlich, wie es aussah, als auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung vom 4. August 1960 das Kirchenschiff vom 6. bis 9. August 1960 gesprengt worden war. Vier Tage waren notwendig, um die beschädigte Backsteinkathedrale zum Einsturz zu bringen.
Die Leipziger Theologin Prof. Dr. Marie-Louise Henry hatte an den damaligen Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl, geschrieben, um noch in letzter Sekunde die Sprengung zu verhindern: "Herr Ministerpräsident, ich beschwöre Sie, Ihre Hand über diesen Bau zu halten. Ein Volk, das nicht entschlossen ist, mit letzter Kraft sein kulturelles, historisches und geistiges Erbe zu bewahren, ist nicht wert, ein solches zu besitzen."
Die Aussstellung will jedoch nicht nur an die Vergangenheit erinnern, sondern zugleich in die Zukunft schauen, denn die Umrisse des Kirchenschiffs sind bereits durch die Aufmauerung auf den Fundamenten von alter Mauerstärke wieder erkennbar. Der Förderverein will die Eigentümerin der Marienkirche, die Hansestadt Wismar, bei den Sicherungsarbeiten und gegebenenfalls bei einem Wiederaufbau des Kirchenschiffs unterstützen.
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Das zeitgeschichtliche Dokument
Die Ostseezeitung, heute ein Tochterunternehmen der Lübecker Nachrichen, war bis 1989 das Publikationsorgan der SED-Bezirksleitung Rostock. Die Parteizeitung schrieb in Nr. 184 vom 5. 8. 1960:
(Vorspann) Wir berichten von der Stadtverordnetenversammlung
(Hauptzeile) Verantwortungsvoll geprüft und beschlossen
(Unterzeile) Hinweise und Vorschläge der Bevölkerung beachtet - Nach gründlicher Aussprache einstimmiger Beschluß: Hauptschiff der Marienkirche wird beseitigt, Turm bleibt erhalten
Wismar (O-Z). In einer außerordentlichen Sitzung beschäftigten sich gestern abend die Abgeordneten des Stadtparlaments mit der seit Jahren und besonders in der letzten Zeit von der Wismarer Bevölkerung diskutierten Frage über den baulichen Zustand der Marienkirche. Dieses Bauwerk, das am 14. April 1945 durch anglo-amerikanische Flugzeuge (Luftmine) schwer beschädigt wurde, bildet seit Jahren einen großen Gefahrenherd und bedroht das Leben und die Gesundheit vieler in unmittelbarer Nähe wohnenden Bürger.
"Was die Faschisten verbrochen haben, muß die schaffende Bevölkerung unserer Stadt, die in den Jahren nach 1945 Erfolge auf allen Gebieten errungen hat, mit großer Mühe und unter großen Schwierigkeiten in Ordnung bringen", erklärte Oberbürgermeister Fiegert im Namen des Rates der Stadt. Dabei wies er darauf hin, daß alle Kraft für den Wohnungs- und Schulneubau eingesetzt werden muß, um allen Einwohnern moderne Wohnungen zu schaffen. "Die Frage der Bevölkerung, was geschieht mit der Marienkirche?, haben wir sehr ernst genommen. Wir setzten Bauexperten aus Dresden und Rostock ein und ließen den baulichen Zustand exakt untersuchen. Das Ergebnis besagt, daß der weithin sichtbare Turm erhalten bleiben kann, das Hauptschiff dagegen eine große Gefahrenquelle bildet und deshalb beseitigt werden muß", erklärte Genosse Fiegert den Abgeordneten, die in vollem Verantwortungsbewußtsein zu entscheiden hatten.
Abgeordnete der verschiedenen Parteien sagten dazu in der Aussprache ihre Meinung. "Als altem Wismarer fällt es mir nicht leicht, für den Abbruch der Ruine zu stimmen", betonte der Abgeordnete Werner Meinke (LDPD), "aber dennoch bin ich dafür, nachdem das Hauptschiff nach dem technischen Gutachten nicht mehr aufbaufähig ist. Wir sind in erster Linie verpflichtet, die von den Werktätigen erarbeiteten Mittel für den Wohnungsbau auszugeben. Dieser Ansicht ist auch meine Partei."
"Es ist ein schwerer Gedanke, daß dieses einstige Kulturdenkmal aus dem Stadtbild verschwinden muß. Aber ich muß sagen, daß es richtig ist, wenn diese Ruine abgebrochen wird", erklärte Abgeordneter Pankow (NDPD), forderte aber gleichzeitig, den Turm stehen zu lassen und daran später ein dazu passendes Gebäude zu errichten. "Wir müssen die anglo-amerikanischen Kulturschänder noch heute anklagen, weil sie solch herrliches Bauwerk zerstört haben und schon wieder für einen neuen Krieg rüsten. Unsere Pflicht ist es, daß so etwas nicht wieder geschieht", sagte Herr Pankow und erhielt für seine Worte den ungeteilten Beifall des Hauses.
Weitere Abgeordnete der verschiedenen Fraktionen und auch Genosse Dr. Polentz vom Institut für Denkmalpflege in Schwerin sagten ihre Meinung und befürworteten nach gründlicher Erörterung aller Für und Wider den Abbruch des Hauptschiffs der Marienkirche. Außerdem ist im Beschluß enthalten, alle notwendigen Schritte einzuleiten, damit der vor einiger Zeit begonnene Wiederaufbau der ebenfalls im zweiten Weltkrieg zerstörten St.-Georgen-Kirche planmäßig vollzogen werden kann.
Die Ausstellung wirkt sehr informativ und authentisch.