ALG II - Regelsatz bleibt in schlechter Verfassung
Pressemitteilung
21.02.2011
ALG II - Regelsatz bleibt in schlechter Verfassung
Zum Ergebnis der Hartz-IV-Verhandlungen erklärt der niedersächsische Bundestagsabgeordnete Sven-Christian Kindler (Bündnis 90/Die Grünen):
"Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat mit einer kategorischen Blockadehaltung einen verfassungskonformen Regelsatz verweigert. Union und FDP sind zu keiner Zeit ernsthaft bereit gewesen, über eine verfassungsfestere Berechnungsgrundlage zu sprechen. Bündnis 90/ Die Grünen können es nicht verantworten, einem verfassungswidrigen Regelsatz zuzustimmen. Wir sind daher gestern Abend aus den Verhandlungen ausgestiegen.
Union und FDP haben einen Regelsatz vorgelegt, aus dem sie Menschen in verdeckter Armut nicht heraus gerechnet haben. Damit flossen diese in die Berechnung ein, obwohl sie weniger als das menschenwürdige Existenzminimum zum Leben haben. Zudem wurde das Statistikmodell willkürlich um Leistungen gemindert.
Auch beim Mindestlohn hat sich Schwarz-Gelb aus ideologischen Gründen geweigert, eine vernünftige Regelung zu finden. Angeblich erhalten demnächst 1,2 Millionen Menschen einen Mindestlohn - doch das ist eine Täuschung. Tatsächlich steht es in den Sternen, ob die Menschen in der Weiterbildung und im Wach- und Schließgewerbe jemals einen Mindestlohn erhalten und wirklich mehr Geld in der Tasche haben werden. Einer solchen Regelung konnten wir nicht zustimmen.
Dennoch haben wir in den langen Verhandlungen bis zum gestrigen Abend wichtige Änderungen erreicht: Wir haben das handwerklich schlechte Gesetz von Schwarz-Gelb gestoppt und überbordende Bürokratie verhindert. Das Bildungs- und Teilhabepaket wird von den Kommunen organisiert und nicht von den Jobcentern, wie sich dies die Arbeitsministerin vorstellte. Es ist unser Verdienst, dass die Leistungen des Paketes nun auch Kindern in Familien mit geringen Einkommen zu Gute kommen, das stärkt ihre gesellschaftliche Teilhabe.
Es ist richtig, dem Bund die Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu übertragen. Aber wir lassen dies nicht gegen höhere Regelsätze und einen Mindestlohn ausspielen. Grüne Politik ist für beides: für mehr Bildungsangebote für Kinder aus armen Familien sowie für Verbesserungen für die Hartz-IV-Empfänger und für Menschen mit Armutslöhnen. Und wir stehen gleichzeitig für eine finanzielle Entlastung der Kommunen."
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DIE HARTZ-IV-VERHANDLUNGEN
Das Ergebnis beim Regelsatz und
unsere verfassungsrechtlichen Bedenken
Das Ergebnis
In den abschließenden Verhandlungen in der Nacht vom 20. auf den 21.02. hat sich
die Koalition mit der SPD auf folgenden Kompromiss verständigt: Der Regelsatz steigt
– wie im Entwurf der Regierung vorgesehen – um fünf Euro auf 364 Euro (rückwirkend
zum 01.01.2011) und am 01.01.2012 um weitere drei Euro auf dann 367 Euro. Hinzu
kommt die zum 01.01.2012 ohnehin anstehende Anpassung des Regelsatzes um die
Lohn- und Preisentwicklung. Wir Grüne bleiben aber dabei: Wir halten die Berechnung
der Regelsätze in der Summe für nicht verfassungskonform.
Unsere verfassungsrechtlichen Bedenken
Wir Grüne haben im Rahmen der Verhandlungen mehrere Aspekte bei der Berechnungsgrundlage
des Regelsatzes aufgegriffen, die wir in der Summe für verfassungsrechtlich
problematisch halten:
· Die Absenkung der Referenzgruppe von den untersten 20% der Haushalte auf
die untersten 15% der Haushalte
· Die fehlende Herausrechnung der Aufstocker aus der Referenzgruppe
· Die fehlende Herausrechnung der „verdeckt Armen“ aus der Referenzgruppe
· Die Streichung einzelner Verbrauchspositionen (z.B. Alkohol, Tabak, Schnittblumen,
Reinigung) und die damit verminderte Möglichkeit eines „internen Ausgleichs“
(= Mehrausgaben in einem Bereich können durch Minderausgaben in
einem anderen Bereich ausgeglichen werden)
Berlin, 22. Februar 2011
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}
Fritz Kuhn
Mitglied des Deutschen Bundestages
Stellvertretender Fraktionsvorsitzender
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erstens: Die Absenkung der Referenzgruppe von bislang den untersten 20% der
Haushalte auf die untersten 15% der Haushalte sehen wir kritisch. Die Regierung hat
hier die Referenzgruppe zunächst einmal arm gerechnet. Wir halten diese Absenkung
auch deshalb für bedenklich, weil sie dazu führen kann, dass entgegen der Forderung
des Bundesverfassungsgerichts die Auswertungen nicht mehr auf statistisch verlässliche
Daten gestützt werden und die Referenzgruppe nicht mehr zuverlässig über der
Sozialhilfeschwelle angesiedelt ist. Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu aus:
„[D]ie Wahl des untersten Quintils [= unterste 20%] beruhte auf der sachgerechten Erwägung,
die Referenzgruppe der Bezieher von geringen Einkommen möglichst breit zu
fassen, um statistisch zuverlässige Daten zu verwenden […]. Der Gesetzgeber konnte
[…] davon ausgehen, dass die Verbrauchsausgaben dieses untersten Quintils eine
geeignete Datengrundlage liefern“ (Randnummer 168).
Zudem hatte das Verfassungsgericht die 20 %-Quote der Referenzgruppe ausdrücklich
gebilligt: „Die Auswahl der Referenzgruppe, nach deren Ausgaben der Eckregelsatz
bemessen wird, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zugrunde zu legen sind
[…]die Verbrauchsausgaben der unteren 20 % der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten
Haushalte“ (RN 168).
Wie die drei anderen Aspekte, so haben wir auch diesen in die Beratungen eingebracht,
ohne dass dies die Auffassung der Regierung, sie habe verfassungskonforme
Berechnungen vorgelegt, verändert hätte.
Unser zweites Argument in diesem Kontext bezieht sich auf die so genannten Aufstocker.
An dieser Stelle hat die Regierung nicht Sorge dafür getragen, Zirkelschlüsse zu
vermeiden. Bei Aufstockern handelt es sich um Menschen, die erwerbstätig und
gleichwohl auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind. Das heißt, diese Personen
stocken ihr (zu geringes) Erwerbseinkommen mit zusätzlichen Hartz-IV-Leistungen auf.
Die Gruppe ist in den vergangenen Jahren erheblich angewachsen und umfasst mittlerweile
mehr als 1,3 Mio. Menschen (2009), davon rund 400.000 Vollzeit-
Erwerbstätige.
Rund 210.000 Aufstocker haben Erwerbseinkommen von bis zu 100 Euro. Viele dieser
Menschen haben kaum oder nur geringfügig mehr Einkommen zur Verfügung als diejenigen,
die ausschließlich von Hartz IV leben. Rechnet man nicht wenigstens diese
Aufstocker aus der verkleinerten Bezugsgruppe heraus, so kann es zu Zirkelschlüssen
kommen: Das Existenzminimum wird auf Basis der Ausgaben von Haushalten ermittelt,
die selbst nur das Existenzminimum haben. Dazu heißt es deutlich im Urteil des Bundesverfassungsberichts
vom 09. Februar 2010: Es würde zu unzulässigen Zirkelschlüssen
führen „wenn man das Verbrauchsverhalten von Hilfeempfängern selbst zur
Grundlage der Bedarfsermittlung machen würde“ (RN 168).
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}
Fritz Kuhn
Mitglied des Deutschen Bundestages
Stellvertretender Fraktionsvorsitzender
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aufgrund dieser verfassungsrechtlichen Vorgabe haben wir in allen Verhandlungsrunden
mit Nachdruck darauf gedrungen, wenigstens die Aufstocker mit einem Erwerbseinkommen
von bis zu 100 Euro aus der Referenzgruppe herauszurechnen. Der Regelsatz
wäre dadurch um sechs Euro gestiegen. Schwarz-Gelb hat in den Gesprächen
an dieser Stelle gemauert und jede Änderung kategorisch ausgeschlossen.
Der dritte wichtige Punkt sind die so genannten „verdeckt/versteckt Armen“. Auch
hier hat es die Regierung nicht vermieden, dass Zirkelschlüsse entstehen können. Als
verdeckt Arme werden Menschen bezeichnet, die Anspruch auf Unterstützung hätten,
diesen aber nicht geltend machen. Die Gründe hierfür können u.a. Scham oder Unkenntnis
sein, aber auch, dass ihnen der bürokratische Aufwand zu groß ist. Auch im
Falle der verdeckt Armen kommt es zu den o.g. Zirkelschlüssen. Und auch in diesem
Falle ist das Urteil des Verfassungsgerichts deutlich: „Die Einbeziehung […] von Personen,
die ihre Ausgaben nicht nur aus eigenem Einkommen, sondern auch durch Auflösung
von Vermögen und Zuwendungen Dritter tätigen („versteckte Armut“) in das
unterste Quintil würde in der Tat die Datenbasis verfälschen“. Und weiter heißt es: „Der
Gesetzgeber bleibt freilich entsprechend seiner Pflicht zur Fortentwicklung seines Bedarfsermittlungssystems
verpflichtet, bei der Auswertung künftiger Einkommens- und
Verbrauchsstichproben darauf zu achten, dass Haushalte, deren Nettoeinkommen unter
dem Niveau der Leistungen [… von Hartz IV …] liegt, aus der Referenzgruppe ausgeschieden
werden“ (RN 169).
Auch diesen Punkt haben wir wiederholt in den Verhandlungen vorgetragen. Die Regierung
konnte sich jedoch nur zu einem bescheidenen Zugeständnis durchringen: In
den nächsten Jahren sollen Berechnungsverfahren entwickelt werden, damit bei der
Auswertung der nächsten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe im Jahre 2013 die
verdeckt Armen herausgerechnet werden können. Wir wollten, dass der Deutsche
Bundestag als Gesetzgeber an der Entwicklung dieser Verfahren beteiligt wird. Aber
auch hier gab es keinerlei Entgegenkommen.
Viertens: Auch die Streichung einzelner Verbrauchspositionen ist problematisch.
Union und FDP sind von der von ihnen gewählten Berechnungsmethode – der so genannten
Statistik-Methode – abgewichen und zur früher verwendeten so genannten
Warenkorb-Methode zurückgekehrt. Mittels dieser Warenkorb-Methode hat die Regierung
dann einzelne Verbrauchsposten aus den durch die Statistik-Methode ermittelten
Ausgaben einfach wieder herausgestrichen (z.B. Alkohol, Tabak, Schnittblumen, Reinigung).
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Fritz Kuhn
Mitglied des Deutschen Bundestages
Stellvertretender Fraktionsvorsitzender
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Es ist zwar richtig, dass das Verfassungsgericht den politisch Verantwortlichen Gestaltungsspielraum
bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des
Existenzminimums zugebilligt hat. Allerdings führt das höchste deutsche Gericht in seinem
Urteil aus: „Der Gesetzgeber muss […] die regelleistungsrelevanten Ausgabepositionen
und -beträge so bestimmen, dass ein interner Ausgleich möglich bleibt“ (RN
172). Da die Regierung aber eine Vielzahl von Positionen gestrichen hat, ist dieser interne
Ausgleich nicht mehr im erforderlichen Umfang möglich. Allein die Streichungen
von Alkohol und Tabak machen fast 20 Euro monatlich aus. Dabei ist folgender Hinweis
wichtig: Rund 70% aller Hartz-IV-Beziehenden rauchen nicht, sie konnten das
Geld dieser Verbrauchsposition bislang für den „internen Ausgleich“, also für höhere
Ausgaben in anderen Bereichen verwenden. Und werden nun kollektiv bestraft, weil
die Regierung der Auffassung ist, dass arme Menschen nicht rauchen sollen.
Zudem ist die Streichung von Positionen an nicht wenigen Stellen willkürlich und nicht
sachgerecht begründet. Auch dies verstößt gegen das Urteil, in dem es heißt: „Abweichungen
von der gewählten [Berechnungs-]Methode bedürfen allerdings der sachlichen
Rechtfertigung“ (RN 139).
Diese Argumente haben wir in den Verhandlungen ebenfalls immer wieder vorgebracht,
ohne damit bei der Regierung auf irgendeine Resonanz zu stoßen.
Ein letzter Punkt: Das Vorgehen der Bundesregierung bei der Regelsatzberechnung
wird von vielen Sachverständigen vor allem in seiner Kombination der unterschiedlichen
Elemente als sehr kritisch eingestuft. Die Basis der Berechnung ist systematisch
und in mehreren Stufen herunter gerechnet worden: Erst durch die Verkleinerung der
Referenzgruppe von 20% auf 15%, dann durch die fehlende Herausnahme von Aufstockern
und verdeckt Armen sowie zuletzt durch die z. T. willkürliche Streichung einzelner
Ausgabeposten. Die damit einhergehende Verkleinerung des Budgets schränkt die
Möglichkeiten zum internen Ausgleich erheblich ein und stellt die Sicherung des Existenzminimums
in Frage.
Fazit: Union und FPD haben eine Regelsatzberechnung vorgelegt, die im Hinblick auf
die Anforderungen des Verfassungsgerichtsurteils vom Februar 2010 bedenklich ist.
Und sie sind in den Vermittlungsverhandlungen zu keiner Zeit ernsthaft bereit gewesen,
über eine verfassungsfestere Berechnungsgrundlage zu sprechen. Damit blieb
uns Grünen keine andere Möglichkeit als dem Kompromiss zwischen Koalition und
SPD nicht zuzustimmen.
Bürgerreporter:in:Horst Kröger aus Walsrode |
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