Interview mit Bürgermeister Tobias Kunz
Nordendorf – ein Dorf stand unter Wasser

Mit einer selbstgebauten Barriere aus Sandsäcken, Teichfolie und Pflastersteinpaletten versuchten die freiwilligen Helfer und die Rettungskräfte Nordendorf vor der Überflutung zu bewahren.  | Foto: Bürgermeister Tobias Kunz
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  • Mit einer selbstgebauten Barriere aus Sandsäcken, Teichfolie und Pflastersteinpaletten versuchten die freiwilligen Helfer und die Rettungskräfte Nordendorf vor der Überflutung zu bewahren.
  • Foto: Bürgermeister Tobias Kunz
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Nordendorf ist eine der am schlimmsten von dem Hochwasser betroffenen Gemeinden in Bayern. Wir sprachen mit Bürgermeister Tobias Kunz über die Geschehnisse, wie es dazu kommen konnte und was nun passieren muss.

myheimat:Sehr geehrter Herr Bürgermeister Tobias Kunz, wie ist aktuell zwei Wochen nach dem Beginn des Hochwassers, die Lage in Nordendorf?
Bürgermeister Tobias Kunz: Vom Hochwasser ist – bis auf ein paar nasse Wiesen und die liegengebliebenen Sandsäcke – gar nicht mehr viel zu sehen. So tragisch alles war, war es zum Glück kein schlammiges Wasser, dass zu uns ins Dorf geflossen ist. Man erkennt noch die Stellen, an denen Heizöl ausgelaufen ist und an den Gesichtern vieler Einsatzkräfte und Mitarbeiter sieht man nach wie vor die Erschöpfung.

myheimat:In welchen Bereichen wird die Beseitigung der Hochwasserschäden noch länger andauern? So soll seit kurzem die Kanalisation wieder einsatzbereit sein. Ist die Verwaltung schon wieder in den gewohnten Räumlichkeiten? Konnten Sie bereits wieder in das Rathaus in Nordendorf zurückkehren? Wie sieht es mit der Schule aus?
Bürgermeister Kunz: Ja, die Kanalisation funktioniert wieder, aber auch noch nicht so wie sie soll. Unser Vakuumnetz hat scheinbar immer noch Leckagen, die erst gefunden werden müssen. So laufen aktuell unsere Pumpen auf Vollgas, um den Unterdruck zu erzeugen und das Abwasser aus den Haushalten zu saugen. Das Verwaltungsgebäude ist wieder voll einsatzbereit. Es war durch Internet- und Stromausfall völlig lahmgelegt und musste provisorisch nach Ellgau umziehen. Es musste schließlich eine Europawahl organisiert werden. Der Schulkeller ist leider ein großer Schadensfall und wird in den nächsten Monaten saniert werden müssen. Böden, Türen, Trockenbauwände … alles muss raus.

myheimat:Konnten mittlerweile alle Einwohner in ihre Häuser zurück oder sind einige davon nicht mehr bewohnbar?
Bürgermeister Kunz: Die Einwohner konnten bereits am Mittwoch nach dem Hochwasser wieder zurück. Leider hat es ein paar Häuser besonders schlimm erwischt, sodass sie aktuell nicht bewohnbar sind.

myheimat: Gibt es eine erste Einschätzung zur Höhe der entstandenen Schäden?
Bürgermeister Kunz: Nein, über private Schäden haben wir keine Informationen. Die Schäden der Gemeinde müssen wir erst zusammentragen.

myheimat:Noch einmal zurück zum Anfang. Ab wann wussten Sie auf Nordendorf kommt etwas zu?
Bürgermeister Kunz: Am Morgen des 31. Mai haben wir zunächst eine Hochwasserwarnung von Stufe 3 bis 4 bekommen, die sich am Abend zu Stufe 4 konkretisierte. Da liefen unsere Vorbereitungen unseres Notfallplans schon. Am Morgen des 1. Juni haben wir erfahren, dass es ein größeres Hochwasser wird und am Nachmittag mussten wir von einem Extrem-Hochwasser (HQ-extrem) oder höher ausgehen.

myheimat:Welche Maßnahmen wurden als erstes getroffen?
Bürgermeister Kunz: Als erstes mussten wir die Bevölkerung warnen und haben die Sandsack-Logistik auf den Weg gebracht. Innerhalb kürzester Zeit haben wir alle Betroffenen erreicht, hunderte freiwillige Helfer gehabt und konnten innerhalb von 24 Stunden rund 40.000 Sandsäcke vor Ort füllen und weitere 20.000 gelieferte Sandsäcke verbauen. Mithilfe einer Barriere aus Teichfolie und Pflastersteinpaletten haben wir versucht den südlichen Teil des Dorfes abzudichten. Wichtig war, die Bevölkerung immer auf dem aktuellen Stand der Lage zu halten.

myheimat:Dann kam die Meldung, dass der Damm an der Schmutter zu brechen drohte. Wie haben Sie darauf reagiert?
Bürgermeister Kunz: Es ist kein Deich gebrochen, wir konnten in Blankenburg wie Nordendorf den bestehenden Deich erfolgreich verteidigen. Lediglich unsere eigene, selbstgebaute Barriere aus Teichfolie und Pflastersteinpaletten gab dem immensen Wasserdruck nach. So konnte das Wasser über die landwirtschaftlichen Flächen – gebremst von unserer Barriere – ins Dorf fließen.

myheimat:Wie liefen die Evakuierungen ab?
Bürgermeister Kunz: Die Information, dass große Teile des Dorfes auf Anordnung des Innenministeriums evakuiert werden, erhielten wir vom Landratsamt am Samstagabend. Die Polizei rückte mit geschätzt 60 Personen bei mir im Büro an und plante vor meinen Augen die Evakuierung. Das war alles andere als lustig. Die Bürgerinnen und Bürger waren – soweit ich das mitbekommen habe – weitestgehend kooperativ.

myheimat: Die Entscheidung zur Evakuierung wurde als im Landratsamt getroffen und danach dauerte es noch zwölf Stunden bis das Wasser im Ort ankam. Hätten Sie vor Ort anders entschieden?
Bürgermeister Kunz: Die Entscheidung war richtig. Es herrschte in großen Teilen der Gemeinde Lebensgefahr. Nachdem diese Entscheidung nicht bei mir lag, musste ich mir die Frage, ob ich auch so entschieden hätte, nicht stellen.

myheimat:Auch nachdem andernorts die Pegelstände sanken, stand Nordendorf noch tagelang unter Wasser. Wie ging es nach den Evakuierungen weiter?
Bürgermeister Kunz: Nach der Evakuierung dauerte es ja noch fast zwölf Stunden bis das Wasser in den Ort geflossen ist. In dieser Zeit haben Einsatzkräfte weiter den Deich mit Sandsäcken verstärkt. Zum Glück, denn wäre der Deich entlang der Schmutter gebrochen oder überspült worden, wäre noch weit mehr passiert.

myheimat:Während auf der einen Seite die Einsatzkräfte und Freiwilligen Helfer gegen die Flut kämpften, kamen auf der anderen Seite zahlreiche Hochwasser-Touristen, um sich das „Spektakel“ anzusehen. Wie sehr ärgert Sie das Verhalten der „Gaffer“?
Bürgermeister Kunz: Die Gaffer bringen ja durch ihr fahrlässiges Verhalten nicht nur sich selbst in Gefahr. Sie riskieren auch, dass Einsatzkräfte sie retten müssen – und sich dabei selbst in Gefahr bringen. Ich halte das für sehr unverantwortlich. Das hat unser Einsatzkräfte behindert und in Gefahr gebracht. Dafür habe ich kein Verständnis.

myheimat:Wie konnte es dazu kommen, dass Nordendorf von der Flut so schwer getroffen wurde, während viele andere Gemeinden in der Nachbarschaft vergleichsweise glimpflich davonkamen?
Bürgermeister Kunz: Es kamen ja mehrere Faktoren zusammen. Der tagelange Starkregen, der Deichbruch in Burgwalden und das übergelaufene Regenrückhaltebecken in Langenneufnach haben die Schmutter zu einem reißenden Fluss gemacht. So erreichte uns ein Hochwasser, das über den Prognosen eines HQ-extrem lag. Das war ein Szenario, das keiner für möglich gehalten hatte. Sie sprechen aber hier bestimmt den noch fehlenden, baulichen Hochwasserschutz des Wasserwirtschaftsamts an. Ja, ein Deich hätte wahrscheinlich Schlimmeres verhindert. Aber auch der geplante Deich, der nur auf ein sog. Hundertjähriges Hochwasser (HQ100) ausgelegt ist, hätte aktiv verteidigt werden müssen. Das hat man in Westendorf und in Blankenburg gesehen – die Deiche allein waren für dieses Szenario nicht ausreichend. Die Verteidigung mit Deich wäre aber ohne Frage einfacher und effektiver gewesen.

myheimat:Wer trägt dafür die Verantwortung?
Bürgermeister Kunz: Das Problem sehe ich in den ewig langen Verfahren, die wir uns als Gesellschaft selbst aufgebürdet haben. Nur zwei Beispiele: Für das Planfeststellungsverfahren, also im Wesentlichen die Auslegung und Öffentlichkeitsbeteiligung werden zwei Jahre Zeit angesetzt. Jeder will mitreden und auf für ihn Wichtiges hinweisen. Das kostet wertvolle Zeit! Oder: Die Artenschutzgutachter brauchen allein fast 1,5 Jahre nur zur artenschutzrechtlichen Kartierung, um dem Umweltschutz gerecht zu werden. Wir müssen das alles viel pragmatischer angehen, sonst verzögert sich das ins Unermessliche.

myheimat:Damit nach 2005 und 2024 Nordendorf nicht erneut überschwemmt wird, muss jetzt Folgendes geschehen …
Bürgermeister Kunz: Ich sage ganz offen, dass wir im Wasserwirtschaftsamt gute Projektleiter und Planer für unser Projekt haben, mit denen wir gut zusammenarbeiten. Insgesamt muss man an vielen Stellschrauben ansetzen: Das Verfahren muss sich beschleunigen – das haben wir jedoch nicht in der Hand. Wir müssen schauen, welche Möglichkeiten am schnellsten umsetzbar sind und diese Möglichkeiten ergreifen. Zudem müssen wir als Gemeinde unseren Notfallplan nachbessern, das Katastrophenschutzlager wieder füllen und immer auf alles gut vorbereitet sein. Wir waren nie besser vorbereitet und noch nie so weit in der Planung des baulichen Hochwasserschutzes.

myheimat:Wenn Sie sagen die Deiche und Anlagen waren gar nicht für ein HQ extrem ausgelegt. Müssen die Hochwasserschutzpläne und die Anlagen dann nachjustiert werden und kann das die Planungen für den Bau weiter verzögern?
Bürgermeister Kunz: Wir sind bereits in der engen Abstimmung mit dem Wasserwirtschaftsamt hierzu. Je größer und stabiler der bauliche Hochwasserschutz wird, desto besser. Wir sind aktuell in einer Planungsphase, in der noch Anpassungen ohne Zeitverlust möglich wären.

myheimat:Eine letzte Frage. Auch wenn sicherlich die Menschen aktuell andere Prioritäten hatten, stand am 9. Juni die Europa-Wahl an. Konnte diese reibungslos durchgeführt werden und wie hoch war die Wahlbeteiligung?
Bürgermeister Kunz: Wir konnten in Abstimmung mit der Kreiswahlleitung die Zahl der Wahllokale ausnahmsweise von drei auf ein Wahllokal reduzieren. So war es einfacher, den Wahldienst zu organisieren. Die Wahlbeteiligung lag bei 63,3%, was unter anderen Umständen keine gute Wahlbeteiligung gewesen wäre.

Das Interview führte Florian Handl

Bürgerreporter:in:

Florian Handl aus Augsburg

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