"Nein, ich will mich nicht setzen!"

Es war wie bei den Kreuzberger Nächten, ganz langsam fing es an. Das erste Mal hatte ich schnell wieder vergessen, vielleicht verdrängt. Aber dann geschah es immer häufiger, zwei-, dreimal im Monat, und jetzt – kaum ein Tag vergeht, ohne dass es nicht passiert.

Marburgs Straßen sind oft – vorsichtig ausgedrückt – nicht von der besten Qualität. Das selbe gilt auch für Marburgs Busfahrer. Da gibt es die, die ihr Leben lang LKW gefahren haben - unzerbrechliche Ware wie Beton oder Steine auf der Ladefläche. Eine Laune der Arbeitsagentur hat sie auf den Sitz ganz vorne im Bus verschlagen. Und dann noch die Kategorie Testfahrer – entweder kommen sie direkt von Ferrari oder sie waren in einem früheren Leben Stuntman im Autocrashbereich. Hat man das Glück, sitzenderweise von einem dieser Spezies befördert zu werden, sind sämtliche Bandscheiben zwischen Steißbein und Halswirbel gefordert. Eine halbstündige Fahrt verringert die Körpergröße um gefühlte zehn Zentimeter. Deswegen meine Vorliebe für Busreisen im Stehen, leicht gefedert in den Kniegelenken und locker in den Halteschlaufen hängend.

Irgendetwas muss passiert sein. Aber was? Ein halbes Jahrhundert bin ich in Ruhe und Frieden Bus gefahren, höchstens gestört von einem Kontrolleur. Und jetzt kommt so ein pubertierender pickelgesichtiger Jüngling daher, strahlt mich freundlich an und fragt, ob ich nicht sitzen wolle. Gar nicht reagieren geht nicht, dann wird die Frage mit erhöhter Lautstärke und unterstellter Schwerhörigkeit wiederholt. Meine Standardantwort lautet: „Nein danke, ich habe Beine bis auf die Erde“, womit sich die meisten zufrieden geben. Vor ein paar Tagen aber diese Reaktion: Der Jüngling mustert mich von oben bis unten und fragt dann nach: „Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht setzen wollen?“ Ich schaue ihn an, die Augenbrauen leicht gekräuselt, und entgegne langsam und mit der Betonung auf jedem Wort: „Ja, ich bin sicher!“

Mein Gott, 62 Jahre sind doch kein Alter! PC-Arbeit in allen Varianten, Eipott for ass, Facebook, Twitter, Google plus, WKW, SMS und MMS, nichts ist mir fremd. Mein Haar ist voll (die kleine Tonsur sieht man ja nicht), ich kann ohne Stock oder Hund geradeaus gehen, die Kleidung stammt von HM oder C&A (sieht man auch nicht sofort), die jüngste Tochter ist mal eben 21, und dann kommt so ein pickelgesichtiger Jüngling...

Oder denkt er vielleicht anders herum: Der Alte soll mal gefälligst seinen Stehplatz für einen Jungen räumen, schließlich gehört uns die Zukunft, und bei seinen ohnehin ramponierten Knochen kann er sich ruhig setzen!

Aber das Leben hat auch schöne Seiten. Gestern, auf Höhe Physicum, höre ich hinter mir: Hallo, junger Mann! Ich drehe mich um, ein sehr spätes Mädchen, etwa 70 plus, schaut mich an. Ja, sie meint tatsächlich mich! Den Weg zu Ernstings beschreibe ich ihr gerne und mit ausgesuchter Freundlichkeit. Womit Einstein bestätigt wäre: Alles im Leben ist relativ!

Bürgerreporter:in:

Lothar Hofmann aus Marburg

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