Der arme Anton muss sterben

Spätherbst

Als Kind trat ich zu einer Gruppe Erwachsener, die sich vor unserem Haus aufgeregt unterhielt. Ich wagte das, weil auch mein Großvater dabei stand.
Sie redeten aufgewühlt über einen Nachbarn, einen Russen, der nach dem Krieg eine Deutsche geheiratet hatte, und hier geblieben war. Ich wußte, wer er war, denn er hatte nie richtig deutsch gelernt, und wir Kinder liebten seine kuriose Ausdrucksweise.
Nun hatte ein Arzt bei ihm eine schlimme Krankheit festgestellt, die ausführlich besprochen wurde. Eine Nachbarin, die von allen Lieschen genannt wurde, sagte unter allgemeinem Kopfnicken:
"Der arme Anton muss sterben"
Ich war sehr beeindruckt von dieser Aussage.
Ein paar Wochen später starb ein Nachbar, der in dieser Runde gestanden hatte, den ich aber nicht so gut kannte, weil er ein paar Straßen weiter wohnte.
Später starb Lieschen.
Dann starb mein Großvater. Wie wohl für alle Enkel war das ein großer Schock für mich.

Irgendwann starb dann tatsächlich auch Anton.

Wenn immer ich jetzt höre, wie Menschen in leicht herablassendem Ton über einen Kranken reden, denke ich:
"Ja, ja - der arme Anton muß sterben"

Bürgerreporter:in:

Rose Nabinger aus Marburg

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