Der Marburger Tiergarten, Teil V / Impressionen
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Immer habe ich die Brotreste am Tag in den Tiergarten gebracht. Aber einmal hatte ich das verbummelt, wollte aber vermeiden, das die Brotreste verschimmeln oder sonst wie verderben würden. So habe ich mich dazu durch gerungen, relativ spät noch aufzubrechen. Auf dem Weg zum Tiergarten musste ich immer über die Holzbrücke an der Weide, die von den Marburgern wegen der dunklen Holzbalken „Schwarze Brücke“ genannt wird. Hier gab es für mich ein beliebtes Spiel, eine optische Täuschung zu bewirken, in dem ich mich über den Geländerbalken beugte und über die Kante der Fußbodenbretter ganz starr auf einen bestimmten Punkt im fließenden Wasser starrte. Wenn ich das lange genug und ohne Bewegung der Augen getan hatte, fing die Brücke auf einmal an, optisch zu „fahren“ und man hatte den sicheren Eindruck von einem fahrenden Schiff in`s Wasser unter sich zu schauen. - So verbummelte ich weitere Zeit und als ich am Tiergarten ankam, herrschte unter dem bewölkten Winterhimmel zwar noch keine totale Finsternis, aber die Dämmerung war im Übergang zur Dunkelheit. – Weit und breit war kein menschliches Wesen zu sehen. - Die Bewohner der alten Jugendherberge waren im Haus auch die Hobbygärtner links und rechts des Tiergartens, die im Sommer dort sehen konnte, waren nicht mehr da und die in dieser Zeit wenigen Besucher waren längst nach Hause gegangen. Verkehrsgeräusche vom Krummbogen (soweit es die damals überhaupt gab) waren nicht zu hören. - Da hörte man in dieser an sich schon unheimlichen Stille das Heulen der drei Wölfe und man wurde an die Tundren Sibiriens erinnert. Dort rufen die Wölfe in der freien Natur durch ihr Heulen die Rudelgenossen zur gemeinsamen Jagd herbei (am liebsten bei Vollmond). Hier taten das die Wölfe instinktiv, obwohl das im Käfig völlig sinnlos war. – Aber die Menschen pflegen ja auch alte Traditionen, obwohl die manchmal ihren ursprünglichen Sinn längst verloren haben. Warum sollte man von den Wölfen mehr Verstand erwarten. – Ein paar Schritte weiter hörte ich in der Stille das gespenstige Lachen der Hyänen, die keckerten, als hätten sie sich Witze erzählt. Zu dieser Zeit war die Meinung weit verbreitet, dass sich Hyänen ausschließlich von Aas ernähren würden. Deshalb glaubte ich, dass von ihnen keine Gefahr ausging. Erst später erfuhr ich, dass das so nicht ganz stimmt und sie gelegentlich in Rudeln in den Savannen Afrikas auf Jagd gehen und dann sogar größere Tiere reißen. – Der unheimliche Schrei des U-hus passte in dieses Stimmungsbild.
Aber es gab ja noch andere und größere Raubtiere, die theoretisch ausgebrochen sein konnten, wenn Schorsch, der Tierpfleger, die Käfige nicht richtig verschlossen hatte. So ließ die Fantasie gewisse Ängste aufsteigen. Jedoch habe ich mich damit beruhigt, dass Schorsch ein zuverlässiger Mensch war und ihm so etwas nicht passieren würde. Aber ich konnte mir einbilden, mutig gewesen zu sein, obwohl es eine wirklich reale Gefahr nur theoretisch gab.
Aber real oder nicht real; die meisten Menschen scheuen sich, in der Dunkelheit über den Friedhof zu gehen, obwohl man noch mehr Fantasie benötigt, um zu befürchten, dass einem die Toten dort etwas antun könnten.
So war ich dann auch froh, als ich den Tiergarten nach Ablieferung der Brotrest im Sturmschritt wieder verlassen konnte und nahm mir vor, meine Aufgabe künftig rechtzeitig bei Tageslicht zu erledigen. -
V/2 -
Es gab aber auch schönere Erinnerungen. Im Laufe meiner jugendlichen Entwicklung hatte ich als Schuljunge eine Phase, in der ich glaubte, ein guter Maler werden zu können. Am liebsten zeichnete ich mit der Feder in Tusche (es gab ja noch keine Kugelschreiber). So bin ich mit Klappstühlchen und Mal-utensilien in den Tiergarten gegangen und habe Tiere gemalt. Solange diese normal auf vier Beinen standen oder liefen, war das nicht so schwer, wenn man keine künstlerischen Qualitäten erwartete. – Manchmal haben mir Besucher über die Schulter geschaut und ich kam mir schon vor, wie ein richtiger Maler. Vielleicht war ihr “bewunderndes“ Lächeln mehr ein mitleidiges Lächeln. - Ich hatte aber große Schwierigkeiten z. B. eine liegende Ziege mit erhobenem Kopf zu malen. Da hätte man schon dreidimensional zeichnen müssen. Ich habe dann gemerkt, dass Zeichnen nach der Natur schon einige Fähigkeiten erfordert, die mir fehlten. Das Zeichnen habe ich dann auch bald wieder aufgegeben und bestenfalls nach einer bildlichen Vorlage gezeichnet. Heute bin ich froh, dass ich das nicht ernsthaft als Beruf angestrebt habe. Ich wäre bestenfalls ein brotloser Künstler geworden.
Auf der Terrasse der Sommergaststätte im Tiergarten war sonntags am meisten los. Da saßen die Väter und ruhten sich - bei einem Glas Bier oder Wein, genüsslich eine Zigarre rauchend - vom Besuch des Tiergartens aus. Die Kinder bekamen ein Glas „Quatsch“. Das war Obstsaft und Wasser. Es gab in dieser Zeit keine Getränkeindustrie im heutigen Sinne und Cocacola war ein völlig unbekanntes Wort. Die Besucher betrachteten die Tiere in den Käfigen, blieben hier und da stehen und unterhielten sich. Und wenn das Wetter mitspielte, war das ein erholsamer Nachmittag für die ganze Familie.
Es ist bedauerlich, dass es den Tiergarten nicht mehr gibt; gerade deshalb sollte man die Erinnerung daran aufrechterhalten.
Bürgerreporter:in:Walter Wormsbächer aus Marburg |
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