Schwarzfahren abgeschafft!

Nulltarif im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), das klingt wie ein Märchen aus Tausendundeinernacht. Dass diese Forderung in den Kommunalwahlprogrammen der LINKEN in der Stadt Marburg und im Landkreis Marburg-Biedenkopf kein schöner Wunschtraum bleiben muss, zeigt das Beispiel der Stadt Hasselt in Belgien. Hier ein Bericht von May Naomi Blank über eine konkrete Utopie mitten in Europa:

Noch vor 15 Jahren nutzte kaum ein Bewohner der belgischen Stadt Hasselt den öffentlichen Nahverkehr. Dann hatte der sozialistische Bürgermeister die Idee vom kostenlosen Bus und damit bahnbrechenden Erfolg.

Mit dem Auto zur Arbeit fahren, das war für Lea Snajder in den 90er Jahren eine Selbstverständlichkeit. Doch dann stieg der Benzinpreis – aber ihr Gehalt blieb dasselbe. Um Geld zu sparen, schaffte sie das Auto ab und radelte zur Arbeit. Ebenso frustrierend, denn in nur zwei Jahren wurden ihr sieben Fahrräder gestohlen. Auf die Idee, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, kam sie trotzdem nicht. Warum auch? In ihrer Heimat Hasselt, der Hauptstadt der Provinz Belgisch-Limburg, gab es Mitte der 90er nur zwei Buslinien. Die Busse kamen fast nie, und wenn, dann meistens zu spät. »Fahrende Aquarien« nannten die Hasselter die stets leeren Fahrzeuge scherzhaft.

Zuständig für die »fahrenden Aquarien« war zu dieser Zeit Daniel Lambrechts, der für die Stadt in der Abteilung Verkehr arbeitete. Nicht einmal er nutzte die Busse, sondern kam mit dem Auto zur Arbeit, wie fast alle Bewohner von Hasselt. Kein Wunder also, dass die Stadt mit den Bussen 91 Prozent Verlust machte. Der fünftgrößte Wirtschaftsstandort Belgiens war landesweit bekannt für seine Staus, die hohe Luftverschmutzung und die meisten Verkehrsunfälle der Region.

Attraktion für Touristen

Ganz anders heute: Jeder Verkehrswissenschaftler kennt die belgische 70000-Einwohner-Stadt. Touristen kommen nach Hasselt, um Busse zu fotografieren. Der Grund: Der gesamte öffentliche Nahverkehr ist kostenlos. Die einst überzeugte Autofahrerin Lea Snajder wird am Bahnhof von Hasselt oft von Touristen angesprochen und gefragt: »Wie kommt es, dass Hasselt so ein außergewöhnliches Verkehrskonzept hat?« Lea Snajder erzählt ihnen dann von der Bürgermeisterwahl des Jahres 1995.

Damals hatte sich der Restaurantbesitzer Steve Stevaert zur Wahl als Bürgermeister gestellt – aus Ärger über die Verkehrssituation in seiner Stadt. Er kandidierte für die Sozialistische Partei Flanderns, machte das marode Nahverkehrssystem zum Thema, und das mit Erfolg: Er wurde der erste sozialistische Bürgermeister, den es je in Hasselt gab. Knapp eine Woche im Amt, besuchte Stevaert den für den öffentlichen Nahverkehr zuständigen Beamten Daniel Lambrechts. Lösungen sollten her, und gemeinsam mit den Einwohnern der Stadt entwickelten sie ein neues Nahverkehrskonzept.

Die Devise des Bürgermeisters damals lautete: »Wir brauchen keine neuen Straßen, wir brauchen neue Denkwege.« Er stoppte den Ausbau eines weiteren gigantischen Straßenrings um die Altstadt, investierte das Geld in neue Busse und Haltestellen. Als das Projekt 1997 anlief, waren alle furchtbar aufgeregt. Im 30-Minuten-Takt rief der Bürgermeister bei seinem Verkehrsbeamten Daniel Lambrechts an, löcherte ihn mit derselben Frage: »Wie viele Fahrgäste sind es?« Aber Daniel Lambrechts konnte ihm noch keine Auskunft geben. Erst ein paar Tage später war klar: Anstatt 1000 Fahrgäste pro Tag waren plötzlich 7000 mit dem Bus gefahren. Aus dem Krankenhaus erreichte die Meldung den Bürgermeister, dass die Patienten deutlich mehr Besuch bekommen hätten. Grund dafür war die neue Krankenhaus-Buslinie.

Ein Nahverkehr, der Nähe schafft

Aus den zwei Buslinien von damals sind mittlerweile elf geworden. Alle fünf Minuten hält ein Bus an den Haltestellen, und der verstopfte Stadtring wurde zum »Grünen Boulevard«. Es gibt im Stadtzentrum keinen Stau mehr. Auch die Luftverschmutzung sank deutlich. Bäume wurden gepflanzt und Fahrradwege gebaut. Mit der Infrastruktur veränderte sich auch das Leben der Menschen. Lea Snajder spürt das am eigenen Leib. Erst kürzlich begann sie mit einer anderen Frau an der Bushaltestelle zu plaudern. Dann stellte sich zur Überraschung der beiden heraus, dass sie auf dem Weg zur selben Wohnungsbesichtigung waren. Eine Woche später trafen sie sich, um zusammen einen Kaffee trinken zu gehen. »So etwas passiert mir jetzt dauernd«, erzählt Lea, »früher sind ja alle mit dem Auto gefahren, jetzt trifft man sich im Bus.« Alte Menschen nutzen den Bus oft nur für eine Haltestelle. Das erleichtert es ihnen, einkaufen zu gehen. Die Linien fahren gezielt soziale Brennpunkte an und bringen die Leute von dort aus in die Innenstadt. Die Busse bringen die Menschen einander näher.

»Natürlich kostet das was«, sagt Daniel Lambrechts, »aber Menschen haben ein Recht auf Mobilität, abseits von den Regeln des Marktes.« Der öffentliche Nahverkehr wird in der Buchführung der Stadt nicht als Investition registriert, sondern fällt unter die Rubrik »Grundausgaben«. Die Stadt bezahlt jede Fahrkarte, die unter normalen Umständen an den Fahrgast ausgegeben würde. Rund 600000 Euro gibt die Stadt jährlich für das Busnetz aus. Das sind ungefähr zwei Prozent der Steuergelder, die der Stadt zur Verfügung stehen. Anders gerechnet: Ungefähr 23 Euro pro Familie pro Jahr. Im Vergleich zu den anderen Ausgaben ist das nicht besonders viel. Der Zuschuss zum örtlichen Kulturzentrum ist zweieinhalbmal so groß. Darüber hinaus musste die Stadt das Bussystem auch mitfinanzieren, als noch niemand die Busse genutzt hat.

Daniel Lambrechts fährt heute mit dem Fahrrad zur Arbeit. Pro Kilometer bezahlt ihm sein Arbeitgeber 25 Cent, auch das ist Teil des Politprojekts.

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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