Sahra Wagenknecht: "Europa wird sozial sein, oder es wird nicht sein"
Rede von Sahra Wagenknecht in der Debatte des Bundestages am 27.04.2017 über die Regierungserklärung zum Brexit
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, ich stimme Ihrer eingangs geäußerten Kritik an den aktuellen Entwicklungen in der Türkei natürlich zu. Aber ich muss schon sagen, dass ich mir gewünscht hätte, dass Sie sich nur einmal dazu durchringen würden, klar und deutlich hier vor diesem Bundestag zu sagen: Ich verurteile die aktuelle Verhaftungswelle in der Türkei, und ich fordere Erdogan auf, den Tausenden unschuldig im Gefängnis Sitzenden endlich die Freiheit zurückzugeben. – Das wäre angemessen gewesen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)
Das hätten wir gerne von Ihnen so gehört.
Für die Linke kann ich jedenfalls ganz klar sagen: Wir fordern die Freilassung der Tausenden politischen Gefangenen, und wir halten es für absolut untragbar, dass ungeachtet der Wandlung der Türkei in eine islamistische Diktatur die EU-Beitrittsgespräche immer noch fortgeführt werden und Erdogan weiter mit deutschen Waffen und Panzern hochgerüstet wird. Das ist Politik ohne Anstand und Moral, und eine solche Politik lehnen wir ab.
(Beifall bei der LINKEN)
In Bezug auf Ihre EU-Politik finden wir die Gleichgültigkeit schon bemerkenswert, mit der die Bundesregierung daran mitwirkt, das Erbe der großen Gründerväter Europas zu verspielen. Ein Ereignis nach dem nächsten widerlegt Ihre Politik, jedes könnte ein Weckruf sein; aber Sie machen ungerührt weiter, als ginge es um Nebensächlichkeiten. Aber die Zukunft Europas ist keine Nebensache, und die großartige Idee eines in seiner Vielfalt und Unterschiedlichkeit geeinten Europas, in dem nach Jahrhunderten der Zwietracht und blutiger Kriege Völkerhass und Nationalismus nie wieder eine Chance bekommen, war und ist aktuell,
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sagen Sie das mal Ihrem französischen Spitzenkandidaten Mélenchon!)
und wir alle sollten uns ihr verpflichtet fühlen,
(Beifall bei der LINKEN)
allerdings nicht mit hohlen Bekenntnissen, sondern mit einer realen Politik, die den europäischen Zusammenhalt stärkt, statt ihn immer weiter zu untergraben.
Schauen Sie sich die Ereignisse des zurückliegenden Jahres an. Im Juni stimmte die Bevölkerung Großbritanniens für den Austritt aus der EU. Statt nur einen Moment darüber nachzudenken, warum die EU so unpopulär geworden ist, dass derartige Entscheidungen möglich werden, feiern Sie auch heute wieder die EU als einzigartige Erfolgsgeschichte. Da hat man wirklich manchmal das Gefühl, man ist im falschen Film.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Dann gehen Sie halt in den richtigen!)
Europa droht der Verfall. In den meisten Ländern ist die Arbeitslosigkeit höher und die Wachstumsraten sind niedriger als vor der Einführung des Binnenmarktes, die Mittelschicht hat akute Abstiegsängste, die Armut wächst, und Sie reden von einer Erfolgsgeschichte. Trotz Brexit-Unsicherheit hat sich die britische Wirtschaft im letzten Halbjahr sogar noch besser entwickelt als der Durchschnitt der Euro-Zone, aber das gibt Ihnen offenbar noch nicht einmal zu denken.
In vielen Ländern ist die nationalistische Rechte auf dem Vormarsch. Bei den Wahlen in den Niederlanden erzielte Geert Wilders eines seiner besten Ergebnisse. Die Sozialdemokratie wurde mit weniger als 6 Prozent in die politische Bedeutungslosigkeit geschickt. Am letzten Wochenende erreichte der Front National in Frankreich das beste Ergebnis seiner Geschichte. 45 Prozent der Arbeiter haben Le Pen gewählt, die französische Sozialdemokratie wurde pulverisiert, und auch die Konservativen haben es nicht einmal in die Stichwahl geschafft.
Aber all das ist offenbar kein Grund – selbst für die SPD nicht –, an der EU-Erfolgsgeschichte zu zweifeln. Immerhin gibt es den smarten Investmentbanker Emmanuel Macron, dessen stramm neoliberales Sozialabbauprogramm nicht nur die Börsianer feiern, sondern auch eine ganz große Koalition in der deutschen Politik, die von Frau Merkel über Herrn Schulz bis zu Cem Özdemir reicht.
(Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Gott sei Dank ist Mélenchon nicht gewählt worden!)
Selbstverständlich ist Marine Le Pen unwählbar, aber es waren Politiker wie Macron, die Le Pen stark gemacht haben. Darauf hat auch der französische Intellektuelle Didier Eribon hingewiesen. Ich finde, das sollte man bedenken, ehe man Macron als angeblich proeuropäischen Politiker bejubelt.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ihr Kandidat war allenfalls antieuropäisch!)
Ich zumindest würde eine Politik, die belegbar den Nationalismus stärkt, nicht gerade als proeuropäisch bezeichnen.
(Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Na, Mélenchon auch nicht! Wovon reden Sie?)
Zurück zum Brexit: Statt jetzt wenigstens auf beiderseits vorteilhafte Regelungen zu drängen, unterstützen Sie de facto den unverantwortlichen Kurs der EU-Kommission, den Austritt so abschreckend wie möglich zu gestalten. Damit erweisen Sie nicht nur der deutschen Wirtschaft einen Bärendienst, für die Großbritannien immerhin ein wichtiger Markt ist, sondern Sie merken offenbar auch gar nicht, dass sich die EU mit der Strategie, durch möglichst schlechte Austrittskonditionen potenzielle Nachahmer abzuschrecken, selbst ein Armutszeugnis ausstellt; denn wer glaubt, auf Einschüchterung angewiesen zu sein, um den europäischen Zusammenhalt zu sichern, der hat Europa längst aufgegeben.
(Beifall bei der LINKEN)
„Europa wird sozial sein, oder es wird nicht sein.“ Davon war schon der französische Präsident Mitterrand überzeugt. Tatsächlich ruhte die europäische Idee der Nachkriegszeit auf zwei Fundamenten: Demokratie und Sozialstaatlichkeit. Von beiden ist heute nicht mehr viel übrig; denn beides wird durch die aktuellen EU-Verträge nicht gefördert, sondern abgebaut und vielfach unmöglich gemacht. Immerhin wurden die Verträge doch extra so verfasst, dass sie Länder daran hindern, sich gegen Dumpingkonkurrenz – sei es bei den Löhnen, sei es bei den Konzernsteuern – zur Wehr zu setzen.
"Wirtschaftskämpfe unter europäischen Staaten würden der Idee der … Einheit Europas … so vollständig widersprechen, daß nur der Gedanke daran in einem scharfen Gegensatz zu der großen Arbeit stehen würde, die für eine Einigung … geleistet wurde."
Es ist wirklich traurig, in welchem Grade die deutsche Politik diese Einsicht Konrad Adenauers in den Wind geschrieben hat.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Denn seit in unserem Land die Agenda 2010 prekäre, mies bezahlte Jobs zum Boomen gebracht und einen riesigen Niedriglohnsektor geschaffen hat, exportieren wir eben nicht nur gute Autos und Maschinen, sondern Fleisch, Nahrungsmittel und andere arbeitsintensive Produkte, während die Importe wegen fehlender Kaufkraft weit hinter den Exporten zurückgeblieben sind. Im Ergebnis sind die deutschen Überschüsse explodiert und spiegelbildlich dazu natürlich die Defizite und die Arbeitslosigkeit in anderen europäischen Staaten. Das ist genau der unfaire Wirtschaftskampf, vor dem Adenauer so eindringlich gewarnt hat.
(Beifall bei der LINKEN)
Das heißt – ob Sie es verstehen oder nicht –: Was Sie da machen, das ist antieuropäische Politik.
(Beifall bei der LINKEN)
Die ganze Rede hier anschauen:
Bürgerreporter:in:Hajo Zeller aus Marburg |
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