Mein persönliches Marburgmärchen: DAS ZIPFELMÜTZENPARLAMENT

Es war einmal vor langer Zeit

, als die gute, alte Lahn noch in lustigen Windungen fließen durfte, über die Flusssteine sprang und gurgelnde Wirbel mit Schaumkrönchen machte. Niemand kam auf die Idee, ihren Lauf zu ändern, der Mensch lebte im Einklang mit der Natur und fügte sich hinein. Brave Leute lebten an ihren begrünten Ufern und in dem etwas verschlafenen Städtchen, das sich mit seinen schief gebauten Häusern an den Berg schmiegte. Gekrönt wurde es von einem mächtigen Schloss, welches jedem, der es aus eigener Kraft erreichen wollte, etliche Schweißperlen auf die Stirne zwang. Eigentlich hätten die sonst so braven Menschen nach dem Erklimmen zum Ablass gehen müssen, denn, so manch lästerlicher Fluch entfloh den schwer atmenden Mündern. Nun, die Bezahlbeichte war aber abgeschafft, seit ein Herr Luther über den Unsinn selbiger heftig gewettert hatte. Er hat aber auch über andere Dinge geschimpft und sie verändert, aber, das ist eine andere Geschichte und, Gott sei es gedankt, kein Märchen. So hofften die Menschen, denen ein Fluch entwich, dass der liebe Gott (er war ja schon etwas älter) nicht mehr alles so gut hören könne und verlegten sich darauf, mit zusammengebissenen Zähnen ganz leise zu fluchen. Die nicht ganz so braven, welche Tagediebe, Wegelagerer, Rußbrenner und Pechsieder geschimpft wurden, versteckten sich in den umliegenden, dunklen Wäldern. Wenn der Büttel ihrer habhaft würde, hätten sie wahrlich nichts mehr zu lachen gehabt, denn das Verlies im Hexenturm war nicht gerade ein gemütliches Stübchen.
Tage, Monate und Jahreszeiten wechselten sich ab, Kinder wurden geboren, die Alten starben, und manchmal auch die Jungen, was dann etwas Aufregung in das sonst so bescheidene und überschaubare Leben der Marburger Bürger brachte. Aber nicht nur die Webersleute, die Bäcker, Schlachter, Gerber, Schmiede und Müller hatte ihr Auskommen. Es gab auch noch die anderen, die feinere Gesellschaft, mit den weißen, zarten Fingern und stolzen Anzügen. Oft ein keckes Hütchen auf dem erhobenem Haupte, spazierten sie, wenn sie ihr Tagwerk vollbracht hatten, durch die engen Gassen der oberen Stadt und scheuten sich nicht, mit den schönen Dienstmädchen zu scherzen, auf die sie sonst, am hellem Tage, mit Hochmut herabsahen. Wenn diese Herren Studiosusse, was nicht selten vorkam, zu wenig studiert und zu viel gefeiert hatten, mussten sie immer einmal wieder in die Stube, die dem Verlies im Hexenturm recht ähnelte, aber nicht ganz so ungemütlich war. Erwähnte ich schon, wer in Marburg regierte, oder, vielleicht sollte ich besser sagen, wer versuchte, zu regieren? Das war nämlich nicht, wie sonst in früheren Zeiten, ein König, der das Sagen hatte, nein, das war etwas schwieriger. Das Volk hatte, weil der letzte König so ein grausamer Herrscher gewesen ist, gemurrt und wollte, nachdem er aus Versehen die steile Schloßtreppe hinuntergeschubst worden war und nicht wieder aufstehen konnte (denn er war mausetod, sicher haben sie es schon erraten) keinen mehr trauen. Es gab, zum Glück (wenn ich das einmal so sagen darf) keinen Thronfolger, und so beschlossen die braven Leute, die Macht aufzuteilen und keinen mehr alleine regieren zu lassen. Aber weil zu viele Menschen sich nicht einig werden können, hatte sich das Volk etwas ganz Schlaues ausgedacht: Jeder brave Bürger, der meinte, etwas kluges zu wissen, konnte seinen Namen aufschreiben lassen, und dann wurde gewählt, ja so heißt das. Wählen ist, wenn jeder seine Stimme an einem Anderen geben darf, den er gerne als König (obwohl er keiner war) haben würde. Nicht wenige jedoch stimmten aus Eitelkeit und Hochmut für sich selbst, was aber nicht auffiel, denn die Wahl war ja geheim. Die dreißig Menschen, die die meisten Stimmen hatten, durften ab nun über die Geschicke des Städtchens befinden, wobei die ersten beiden ein bisschen mehr zu melden hatten als der Rest. Oberschultheiß und Schultheiß durften sie sich fortan nennen und schlugen mit dem Hämmerchen auf den Tisch, wenn es bei den Sitzungen wieder einmal zu laut zuging. Es wurde oft gehämmert, was den Schmied freute, denn er musste schon drei Hämmerchen nachliefern und hatte (denn es war ein kluger Schmied) nun immer eines auf Reserve. Ein lustiges Trüppchen war es dennoch, mit recht unterschiedlichen Menschen, die ebensolche Meinungen hatten und des Debattierens und Disputierens nicht müde wurden. Um nicht jedes Mal erklären zu müssen, warum wer (so grundlegend halt) welcher Meinung war, haben sich die Regierer auf Erkennungszeichen geeinigt, nämlich, schöne, wollene Zipfelmützen (die Wollweber hatten nun auch ein Zubrot). Es gab schwarze, grüne, rote, alle mit graden, aufrechten Zipfeln, und rote, bei denen das Zipfelchen ein wenig nach links zeigte. Sie trafen sich oft, bis der Nachtwächter zur Mitternacht rief, weil sich die Bezipfelmützten Menschen kein Ende finden konnten, vor allem dann, wenn keiner dem anderen ein Schrittchen entgegenkam. Besonders haarschierig ging es zu, hatte man sich vorgenommen, eine Sache am besagten Tage zu bescheiden. Mitunter wurden auch bitterböse Sachen zu einander und übereinander gesagt, und über dieses Gezänk vergasen sie oft die Zeit, rissen sich gegenseitig die Mützen vom Kopf oder warfen sie in die Nacht hinaus. Aber, irgendwann, manchmal gingen allerdings Jahre in Land, fand sich eine Lösung. Und das wäre wahrscheinlich auch so geblieben, wenn nicht eines Tages (und jetzt fängt die Geschichte erst richtig an) wenn eines Tages nicht Hänsel und Gretel am Hexenturm angeklopft hätten.
Aber, der Reihe nach will ich berichten: Die beiden Kinder hatten einen langen Weg hinter sich, waren über die Hundsburg im tiefsten Burgwald zur Stirnhelle gegangen, weiter über den Weissen Stein hinunter in das Tal und an der Lahn entlang bis nach Marburg hinein. Alsdann erklommen sie den Schloßberg, was ihre Schuhe restlos ruinierte. Sagte ich schon, dass sie anklopften? Die Hexe riss die Türe auf und war sehr böse: „Na, das fängt ja prima an! Anklopfen statt Lebkuchen klauen, was fällt euch denn ein? Alles hier durcheinander bringen, und jetzt ist mein Kind wieder wach, dankschön auch! Aber egal, kommt rein. Hänsel braucht sich auch nicht zu fürchten, ich bin Veganerin, Kinder fressen iss nich.“ Die Kinder verschwiegen geschickt, dass die Burgwaldhexe, die auf der Hundsburg residierte, ihnen das schon zugeraunt hatte und zudem eindringlich vom Verzehr der veganen Lebkuchen am Hexenhaus gewarnt hatte. Die wären todbringender als der Hasenstall, in dem Hänsel normalerweise hockte, sähen aus wie Braunkohle und hätten den Geschmack von gewürzter Rauhfasertapete (die gab es zu dieser Zeit zwar noch nicht, aber die Burgwaldhexe war, wie alle Hexen, sehr modern, denn sie konnte in die Zukunft sehen und hatte auch ansonsten so manchen guten Tipp parat). Auch, dass die Schloßberghexe dringend Hilfe brauchte, wusste sie zu berichten. Und wenn die Hänsel – und Greteleltern solche Assis wären (auch die gab es damals noch nicht, aber ihr wisst schon….) und die Kinder mitten im Burgwald aussetzten, könnten sie sich ja als Au - pair versuchen, statt wieder zu den bösen Alten zurückzugehen. Der Schlossberghexe war der Mann abhanden gekommen, oder besser gesagt, sie brauchte keinen Mann für das Leben mit einem Kind (es war damals so bei den Hexen, ich erwähnte ja die moderne Note der Damen, wie es heutzutage bei vielen Frauen ist). Indes, der Schlossberghexe blieb zu wenig Zeit für das Kind, seit sie in der Zipfelmützenliga einen wichtigen Posten innehatte (sie trug übrigens ein rotes Zipfelmützchen mit gerader Spitze). Ah, da gingen aber unseren Kindern die Ohren auf!
Dann könne sie ja, wenn sie doch Mitbestimmerin sei, den Vorschlag einer schönen Seilbahn machen, mit Gondeln aus Weide, Baldachinen aus feinstem Linnen gegen Sonne und Regen sowie gemütlichen, von den Wollwebern bezogene Kissen darin, denn der Weg hier hoch zum Schloss sei auch für Kinder sehr mühsam. Und wenn sie jetzt immer öfter den Berg erklimmen sollten, mit dem Hexenkind auf dem Rücken (weil es nicht gewillt war, selbst zu laufen), da ginge ihnen beim daran denken schon die Puste aus. Die Hexe ihrerseits wurde so böse, dass ihr Gesicht die Farbe reifer Pflaumen annahm und ihren Ohren grüner Dampf entwich. „Nicht auch noch in meiner mager bemessenen Freizeit, Schluss damit! Ich bin keine eierlegende Wollmilchsau!“, fauchte sie die erschrockenen Kinder an. Aber, die konnten ja nicht wissen, dass sie sich wegen der Gondelbahn schon lange stritten, die Bezipfelmützten. So beschlossen Hänsel und Gretel, vorerst brav das Hexenkind zu hüten und sich der "Operation Seilbahn" in aller Stille anzunehmen.
Wann immer es ihre Zeit erlaubte, tüftelten sie aus, wie und wo denn diese Gondelbahn am besten den Berg hinauf fahren könnte. Am schönsten fanden sie die Idee, wenn sie von der Talstation aufs Schloss als auch zum Spiegelslustturm fahren würde. Sogar zur Frage des Antriebes hatten die Kinder schon eine Idee: Die Wassermühle in Marburgs Mitte sollte den Antrieb geben, denn die Lahn floss eh und das gute, alte Mühlrad drehte sich seit Jahrzehnten. Einen ganzen Packen Zeichnungen hatten sie schon beieinander. Die zeigten sie dem Müller, der seinerseits schon die Heller und Batzen in seiner Geldkatze klimpern hörte, hätte er doch, so er den Antrieb stellte, Anspruch auf eine Teil der Einnahmen. Der Müller versprach den Kindern, bei einem ihm gut bekannten Freund (der gerne und viel Gold für sinnvolle Sachen aus seinem Schatz ins Volk steckte) um Finanzierung anzufragen. Selbiger war Feuer und Flamme und schenkte den Rotzipfelmützen kurzerhand 4000 Golddukaten mit der Bitte, eine Seilbahn nach den Plänen der Kinder zu errichten.
Von all dem wusste die Schloßberghexe nichts, als sie sich am Abend auf den Weg zu ihrer Sitzung machte. Die fand auch nicht im Schloss statt, sondern in der oberen Stadt in einem steinernen Haus, das sich Rathaus nannte. Heimlich ging der Witz herum, dass man immer nur raten konnte wie eine Debatte ausging, daher der Name des Hauses.
Hänsel und Gretel hatten das das Hexenkind reichlich müde gemacht und zu Bett gebracht. Vorsichtshalber gaben sie ihm, damit es in ihrer (für heute Abend geplanten) Abwesenheit nicht erwachte, noch fünf Tropfen Sleepwell (was auch immer das hieß, es stand auf der Flasche und die Kinder hatten herausgefunden, es waren Schlaftropfen) in den Tee. Dann machten sich die Beiden auf, das Verlies unter dem Hexenturm und die angrenzenden, weitverzweigten Kasematten zu erforschen. Die schmale, steile Treppe führte hinab in den Gang, von wo aus man zum Schloss und seinen Gewerberäumen gelangte, vorbei an der steilen Biertreppe, mit gerümpfter Nase durch das Schlachthaus, bei den Bäckern eng gedrückt an Wand entlang. Die schnarchten nämlich vor dem warmen Backofen und schätzten keine nächtlichen Besucher, die sie um ihren wohlverdienten Schlaf brachten. Am Schlossbrunnen sahen Hänsel und Gretel hinein in die Finsternis, wussten sie doch, dass das Wasser da unten so tief stand wie die Talsohle der Lahn. Als sie einen Stein hineinwarfen, konnten sie sieben zählen, ehe sie ein leises Platschen vernahmen. Doch, was war das? Ein flackerndes, grünes Licht leuchtete vom Grunde des Brunnens zu ihnen empor. Es flackerte wie ein gefangenes Irrlicht, und die Kinder meinten, eine leise Stimme zu hören, die um Erlösung flehte. Was sollten Hänsel und Gretel tun, hatten sie doch nichts zum Angeln dabei und konnten ohne Sicherung nicht hinabsteigen in den dunklen Schacht. Sie besprachen sich und flüsterten in den Brunnen, morgen wiederzukommen mit Seil und Käscher. Daraufhin leuchtete das Licht einmal sehr hell auf und erlosch. Der Rathausgockel krähte zwölf Mal, der Nachtwächter rief zur Mitternacht und die Kinder eilten durch die dunklen Gänge schnell zurück in den Hexenturm. Aufgeregt und ein bisschen ängstlich kuschelten sie sich auf die Ofenbank. Kurze Zeit später sahen sie ein wackelndes Laternenlicht auf dem Weg zum Hexenturm. Hänsel legte noch einmal Holz nach, als die Schlossberghexe in die Stube trat und lospolterte: „ Na supi, das kann ich leiden, Kindermädchen, die sich die Nacht um die Ohren schlagen, wenn ich nicht daheim bin! Aber auch egal, jetzt, wo ihr noch wach seid, könntet ihr mir doch euer Ohr leihen, denn ich muss den ganzen Scheiß von heute Abend echt mal los werden. Ich bin so was von abgegessen, ist das ok?“ Die Kinder nickten stumm, waren sie doch gespannt, ob sich seilbahntechnisch etwas getan hatte und außerdem hörten sie der Hexe gerne zu, weil sie so anders sprach, fremdländisch , irgendwie.
Gretel holte der Hexe ein Fläschchen Elisabethbräu aus dem Keller, die kuschelte sich zu den Kindern und begann zu berichten:
„Wieder keine Lösung mit der Teilung meiner Zipfelmütze! Solche VOLLPFOSTEN!! Es scheitert schlicht und ergreifend daran, wie sie geteilt werden soll. Einmal mittendurch, hängt jedem ne halbe Mütze blöd am Kopf. Schneidet man den Zipfel ab, hat eine ein Stirnband ohne Zipfel und die andere einen Zipfel, der nicht hält. Ribbelt man die Mütze auf und macht zwei neue draus, reicht die Wolle bei beiden zu keinem Zipfel mehr, und was ist denn eine Zipfelmütze ohne Zipfel? Strickt man aber zwei Zipfel aus der Wolle, wie sollen die denn dann halten auf dem Kopf, ohne Mütze darunter. Stinksauer war ich, habe festtackern gerufen und beinahe meine zukunftsweisenden Hellsehereien verraten, denn Tacker wird es erst im frühen 20sten Jahrhundert geben, und bis dahin werden noch viele Sommer und Winter vergehen. Dann machten Geschrei und Gezeter der grünen und schwarzen Zipfelmützen den Seilbahnplan und seine Finanzierung zunichte. Es musste doch wieder ein Hämmerchen dran glauben! Gemeinschaftlich solle entschieden werden! Einfach alles mit dem größten Schultheiß auszumachen ginge gar nicht! Böse Worte wie Kungelei, Hinterhältigkeit, Intrige, Gleisnerei und sogar Verschlagenheit waren zu hören. Das ging soweit, dass einige forderten, die Dukaten zurückzugeben. Stellt euch das mal vor, so ein Irrsinn!
Gretel holte noch ein Elisabethbräu und gab einige Tröpfchen hinein, glaubte sie doch zu wissen, dass die aufgebrachte Hexe sonst keine Ruhe finden würde in der Nacht. „Und last not least (Hänsel und Gretel verstanden nur Bahnhof, wollten aber den Redeschwall nicht unterbrechen) fingen doch die grünen Zipfelmützen wieder mit den Stellplätzen für die Pferde und Karren in der Stadt an. Es solle nur noch welche für Bewohner und Marktleute geben, denn, wenn es nur wenige Stellplätze geben würde, würde auch niemand einen suchen. Hallo!? Hat einer schon mal so was Bescheuertes gehört, weltfremd (die Hexe gähnte) und keine gescheite Alternative (Alterwas?) und…, ich leg mich hin. Nacht Kinners, lasst mich morgen ausratzen, ok!?“ Mit diesen Worten verschwand die Hexe und legte sich in voller Montur auf ihre Schlafstatt. Hänsel und Gretel indes wussten, dass sie noch viel zu lernen mussten in ihrem Leben. Gretel hatte mitgeschrieben: Tacker, Vollpfosten, HALLO, lastnoddleest, Alternatiefe, aussratzen. Morgen wollte sie sich um Aufklärung bemühen. Hänsel schnarchte schon neben ihr, er war halt auch nur ein Mann, wenn auch ein junger.
Der nächste Tag fing früh an, weil das Hexenkind schon um 5.30Uhr meinte, ausgeschlafen zu haben. Die Hexe indes schlief den Schlaf der Gerechten bis weit in den Tag hinein. Gretel ging mit dem munteren Kerlchen und dem Zettel in der Schürzentasche zum Krämersladen am Steinweg, denn die Alte dort war einen weise Frau. Leider konnte sie mit den Begrifflichkeiten auch nur wenig anfangen, wusste nur, dass Hallo auch manchmal gerufen wird, wenn man jemanden sucht und den Namen nicht kennt. So zog Gretel unverrichteter Dinge von dannen, aber den Käscher und das lange Seil hatte sie in ihrem Beutel. Sie sehnte den Abend herbei! Nach einer gefühlten Ewigkeit sank die Sonne blutrot hinter den Dammelsberg. Die Hexe war sehr kampfeslustig aufgelegt (noch dazu gut ausgeschlafen, dank Au - pair!) ging es heute Abend doch ans Eingemachte, wie sie sagte. Endlich war es soweit. Das Kind schlief, die Hexe hatte sich auf unbestimmte Zeit verabschiedet und war die Schlosstreppe hinabgestiegen ins Haus der Räte. Hänsel und Gretel machten sich, geraume Zeit später, auf den Weg zum Brunnen. Der Stein platschte, wie am Vorabend, nach sieben Zahlen unten auf. Das grüne Licht fing an zu glimmen. „Wieso schwierig, wenn es vielleicht einfach geht?“, meinte Gretel und band den Käscher am Seil fest. Unten ließ sie ihn schwingen, und, tatsächlich verfing sich das grüne Licht, flackerte sehr heftig und wurde vorsichtig emporgezogen. Was erblickten die Kinder? Einen leibhaftigen Flaschengeist. Aber, der Korken saß bombenfest (wie die Pfunde auf der Hüfte von Frauen jenseits der 50, also, eigentlich, hoffnungslos). Traurig schaute der Geist nach draußen, hob flehend die Hände, setzte sich entmutigt auf den Boden. Gretel nahm die Flasche an sich, denn sie hatte schon Hühner geschlachtet und kannte sich mit störrischen Hälsen etwas aus. Sie hieb den Flaschenhals gegen den Brunnenrand und stellte die Flasche ab. „Manchmal muss man bisschen brutal sein!“, flüsterte sie Hänsel zu, dessen Gesichtsfarbe auf schneeweiß gewechselt hatte. Der Flaschengeist streckte sich, guckte oben aus der Öffnung heraus, und ehe sich Gretel versah, hatte er sie zu Boden geknutscht. Erst ein Tritt vom Hänsel, der sich wieder berappelt hatte, lies ihn innehalten in seinem Tun. „Man ej, bin ich froh! Mir tun alle Gräten weh. Wenn ich den erwisch, der mich eingesperrt hat, der kann sich warm anziehen! Aber egal, das steht auf nem anderen Blatt. Hier bin ich, und meine Befreierin hat drei Wünsche frei, allerdings müssen die vor Mitternacht gesprochen und erfüllt werden, sonst verfallen sie, also PRONTO! Gretl wurde blass, es war 5 vor 12. Schnell besprach sie sich mit Hänsel und dann war klar: „Ich wünsche mir, dass die Hexe ihre Zipfelmütze teilen kann, dann eine wunderschöne Gondelbahn von der Lahnmühle zum Schloss sowie zum Spiegelslustturm und dann möchte ich so gerne (die Uhr schlug zwölf) DIE MÄNNER VERSTEHEN!“ schrie Gretel, ungeachtet der späten Stunde. Der grüne Geist nahm sie in seine geschmeidigen Arme: „ Liebste Gretel, der dritte Wunsch kam leider zu spät! Aber tröste dich, der hätte meine Kräfte sowieso überfordert, auch ein Geist hat seine Grenzen!“ Derart getröstet verabschiedeten sie sich von einender, und der Geist versprach, ab und an vorbeizuschauen. Hänsel und Gretel schlichen zurück zum Hexenturm.
Die Hexe kam erst gegen Morgen mit der Gondelbahn, vom feiern leicht angeschickert, den Berg hochgeschauckelt. Die halbierte Zipfelmütze musste zum abwischen der reichlichen Freudentränen herhalten. Hänsel und Gretel geleiteten sie zum Turm, um alsdann, wie der Blitz und eine geölte Nudel, zur Godelbahn zurück zu sausen. Nein, sie hatten nicht geträumt! Fröhlich schaukelten die Gondeln der aufgehenden Sonne. Die Kinder stiegen ein und waren sehr glücklich, hatten sie doch innerhalb von fünf Minuten mehr Politik gemacht als das Zipfelmützenparlament all die Jahre zuvor. Der grüne Geist kam angeflogen und nahm auf Gretels Schoß Platz. Sie hatte nichts dagegen. „Sou, das wars dann, nu iss Schluß mit Wunscnkonzert. Das Zipfelmützenparlament muss ab heute wieder sehen, wie es alleine zurechtkommt!“ Der Flaschengeist wusste gar nicht, wie recht er behalten sollte.
Denn wenn sie nicht gestorben sind, disputiert das Zipfelmützenparlament von Marburg auch heute noch bis weit nach Mitternacht.

Anmerkung der Autorin:
Die künstlerische Ausgestaltung der Schloßberghexe hat garundsowiesonienichts mit Frau Weinbachs Person zu tun!

Bürgerreporter:in:

Ulla Wraneschitz aus Marburg

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