Freie Aussichten auf Marburg von einst sind heute zugewachsen
„Früher war alles besser!“ – Nicht für alles trifft dieser Spruch zu. Aber er ist bezeichnend für die früher beliebten Aussichtspunkte bei Wanderungen rund um Marburg mit Blick auf die Stadt und das Lahntal. Denn viele Aussichtspunkte sind heute ohne Aussicht – alles zugewachsen. Und wenn sich die ersten grünen Blätter entwickeln, hat nur noch der Satz Bestand: „Wie Sie sehen, sehen Sie nichts!“
Eines der vielen Beispiele ist der frühere Postkartenblick vom Wanderweg Elisabethkirche zur Augustenruhe. Nahe beim Verbindungshaus der Hessen-Preußen gab es eine steile Wiese zum Nordviertel hin. Von oben blickte der Wanderer in die Bahnhofstraße hinein bis zum Ortenberg. Heute ist hier alles zugewachsen, wenn die Sträucher grün werden, geht gar nichts mehr. Die Aussicht auf den Norden von Marburg ist verschwunden.
Aber nicht nur hier siegte der „Hang zur Verwilderung“. Bis nach dem 2. Weltkrieg konnte man von der Bismarck-Promenade schöne Ausblicke auf die gesamte Stadt genießen. Schon vor 1900 fanden Ansichtskarten mit der Panorama-Sicht vom „Kappler Berg“ auf Schloss und Altstadt reißenden Absatz. Heute hat der Fotograf keine Chancen mehr, diesen Teil der Stadt von dem einst sehr beliebten Rundweg um Marburg abzulichten.
Auch an vielen anderen früher beliebten Aussichtpunkten auf Stadt und Lahntal mit Elisabethkirche ist die Sicht zumindest stark eingeschränkt. Die freie Sicht von früher gibt es nicht mehr: auf Augustenruhe, auf der Kirchspitze, am Ortenberg, vom Grassenberg und anderen Stellen. Noch vor 1900 hatten sich eifrige und heimatbewusste Marburger Bürger, oft zusammen geschlossen in Vereinen, für die Anlage und Betreuung von Wanderwegen und Aussichtspunkten eingesetzt und tatkräftig selbst mitgestaltet. An beliebten Stellen wurden sogar Unterstände zum Schutz gegen schlechte Witterung errichtet. Sie wurden „Tempel“ genannt.
An Vereinen gab es u. a. den rührigen „Bund Heimatschutz“ (mit dem Vorsitzenden Professor Bock) oder den „Verein für Naturdenkmalschutz“ (mit dem Vorsitzenden Professor Kayser) und bereits seit 1868 den „Marburger Verschönerungsverein“.
Die Wanderwege wurden frei gehalten, umgestürzte Bäume umgehend beseitigt. Bis nach dem 2. Weltkrieg wurde von dem ärmeren Teil der Bevölkerung (und das waren mehr als die Hälfte der Einwohner) noch jedes frei umher liegende Stück Holz im Wald aufgesammelt. Die Holzreste wurden gebraucht. Damit wurden in der Wohnung die Heizung oder die Kochstelle in Gang gebracht. Heute ist mit dem erreichten und nun vorhandenen Reichtum, die komfortable Heizung als Beispiel, dieser Zwang längst Vergangenheit.
Die Wälder liegen heutzutage voller Holzreste. Niemand bückt sich mehr nach Anmachholz. Alles bleibt liegen bis zur Verrottung. Umgefallene und entwurzelte Bäume bleiben an Ort und Stelle, auch wenn sie auf Wanderwegen landen und manchmal unüberwindbare Hindernisse darstellen.
Wer noch einmal sehen will, wie es bei uns in den Wäldern vor vielen Jahrzehnten noch aussah, der kann sich beispielsweise bei einer Fahrt durch die weitläufigen Wälder in Polen anschauen, wie frei die Bäume dort stehen. Wie geputzt sieht dort noch der Wald aus. So wie es bei uns früher war, als die Mehrzahl der Marburger Bürger noch arm war.
Es wäre in Marburg ausreichend, wenn an den früher beliebten Aussichtspunkten die Sicht durch Freischnitt wieder hergestellt würde. Und dies nicht nur einmal, sondern jedes Jahr aufs Neue – „nachhaltig“ sozusagen.
Bürgerreporter:in:Karl-Heinz Gimbel aus Marburg |
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